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Viele haben sich in der Zwischenkriegszeit mit Jazz beschäftigt: Maurice Ravel und Igor Strawinsky, Adorno und – natürlich, obwohl das weniger bekannt ist und zwischendurch fast vergessen war – Jean-Paul Sartre, der in diesen Tagen seinen 100. Geburtstag hätte feiern können. Für Ravel und Strawinsky war der Jazz das, was ungarische Tänze und Volkslieder für Brahms oder Bartok waren: Würze, die Präsenz einer archaischen Vitalität in einer von Déadence und Über-Differenziertheit bedrohten Hochkultur, vielleicht auch Distinktionsgewinn oder das, was die Surrealisten „Schock“ nannten. Für Adorno war Jazz einfach Regression des Hörens, Verrat der Kultur an das, was ihr vorausgeht (und vielleicht auch folgt), die kulturindustrielle Zerstörung der Subjektivität. Sartre aber scheint den Jazz in den 30er-Jahren, also lange vor seiner „Avantgardisierung“ durch die Be-Bop-Heroen, geliebt zu haben. In seinem legendären Roman „Der Ekel“ spielt der Jazz eine Schlüsselrolle, er ist gewissermaßen das geheime Leitmotiv im Herzen der zerrissenen Erzählung von der Entfremdung, das sie und das entwurzelte Individuum einigermaßen zusammenhält. Jazz ist für Sartre beides: Erinnerung und Vergessen, eine stetig wiederkehrende Melodie, die für das melancholische Bewusstsein ein Glücksmoment enthält, an dessen Ursprung es sich nicht mehr erinnert. So wie ja auch die Komponisten und Musiker vergessen, verschollen, vielleicht schon nicht mehr am Leben sind, während sich diese zerkratzte Schellack-Platte auf einem Bar-Grammophon holpernd dreht. „Some of these days/You‘ll miss me, honey“, singt die Jazz-Sängerin – und was sich da abspielt, ist überaus paradox. Denn sie prophezeit ja einem Geliebten, der noch da ist, eine schmerzende Zukunft ohne sie, sie beschwört die bösen Folgen des Liebesverrats, der noch in der Zukunft liegt. Roquentin aber, Sartres Protagonist, saugt diese Stimme – die Melodien und Harmonien dieses fernen, fremden Songs – in sich auf, weil sie von seinem eigenen Schicksal zu erzählen scheint: dem Verlust dessen, was einmal war. In der Konfrontation mit diesem Jazz-Schlager und in der Erinnerung an eine verlorene, vertane Liebe, die er evoziert, wird Roquentin am Ende dieses düsteren und bitteren Sartre-Romans, der zum Grund-Text des Existenzialismus avancierte, zum Künstler. Weil er, wie einst Nietzsche überzeugt ist, dass dieses sinnentleerte Dasein sich nur noch ästhetisch rechtfertigen lässt. Während der Exilant Klaus Mann kurze Zeit später, gegen Proust, formuliert: Wer sich erinnert, kann nicht glücklich sein, werden für den Sartreschen Anti-Helden am Ende seiner Höllenfahrt Erinnerung und Existenz eins. Vielleicht verbürgt diese Macht der Erinnerung auch den beispielhaften Erfolg der Soundtracks. An den Filmen Wong Kar-Wais lässt sich exemplarisch zeigen, dass Kino-Bilder umso suggestiver wirken, je mehr sie sich einer entschwundenen Lebensform zuwenden – und dass dabei Songs und Sounds eine entscheidende Rolle spielen. „2046“ ist ein Epos, das seine Süße dem verwirrenden und betörenden Umstand verdankt, dass es in der fernen Zukunft und in der noch ferneren Vergangenheit spielt und aus den brüchigen Bildern einer solchen doppelten Absenz den Rausch einer ekstatischen Gegenwärtigkeit bezieht – ein Film wie ein Sartre‘scher Jazz-Song. 2046 bezeichnet das Jahr, in dem Hongkong endgültig, ohne alle beschränkenden Vorbehalte an die Volksrepublik China fällt. Die Zahl bezeichnet einen Entzug des Glücks, der weit in der Zukunft liegt und den man doch jetzt schon spüren kann. 2046 ist auch die Nummer eines Hotelzimmers, in dem sich die Liebenden weniger treffen als verfehlen, weil ihre Wünsche immer zu früh oder zu spät kommen, „ins Leere hinein“. „2046“ ist aber auch der Versuch, das vertrackte Hongkong der aufgewühlten 60er-Jahre zu beschwören, Wong Kar-Wais Heimat, obwohl der Regisseur zu jung ist, um sie noch selbst erlebt zu haben. Diese fernöstlich-entwurzelte Metropole, dieser „melting plot“ des Glücks und der Verzweiflung vieler Zeiten und Welten wird merkwürdigerweise präsent in den stärksten Melodien und Momenten westlicher Kunst- und Popularmusik, die in diesem tropischen Ambiente schwer und schwülstig wird, erdrückend und erstickend. Aber bekanntlich nimmt die Intensität der Gefühle und ekstatischen Erfahrungen zu, wenn der Sauerstoff knapp wird: Nat King Coles „Christmas Song“, die Hymne der Großeltern, vermischt sich mit der Casta Diva aus Bellinis Norma, also einer artifiziellen Belle Epoque-Wüstheit und der ewigen Wiederkehr des Latin-Sounds von „Perfidia“ – Glück als Verworfenheit und nur so. All that Jazz: Sartres „Ekel“ als Jazz-Roman, Wong Kar-Wais „2046“ als Jazz-Film. Und wie entsteht eine Erzählung, eine Existenz? Indem man sich erinnert – und vergisst. Helmut Hein |
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