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Jazzzeitung

2010/05  ::: seite 16

rezensionen

 

Inhalt 2010/05

Inhaltsverzeichnis

STANDARDS

Editorial / break / Nachrichten aus der Jazzszene / kurz, aber wichtig Jazzlexikon: Dick Katz


TITEL - Gegensätze ziehen sich an
Newcomerin Mary Halvorson im Portrait


DOSSIER - Jazzfestivals
Gaume Jazz Festival // Jazzforum Budapest // Jazz-Festival in St. Moritz // Jazzfestival Saalfelden // Jazz Festival Willisau


Berichte

„Trio Elf“ mit neuer CD: „Elfland“ // 34. Leipziger Jazztage // Münchner Konzertreihe AllThatJazz@gasteig // > Vive le Jazz< 2010


Portraits

Aus der Welt des Bojan Z // Dave Brubeck wird 90 // Sängerin Jessica Gall // Yaron Herman // Kristina Kanders // Collectif LeBocal // Trombone Shorty


Jazz heute und Education
Der Jazz-Komponist Simon Scharf // Mediation im Kulturbereich // Dresdens Jazzclub Neue Tonne freut sich auf die Geburtstags-Saison Abgehört: Ein Solo für die Melodica: Larry Goldings: (I‘m Your) Jellyman
Larry Goldings: (I‘m Your) Jellyman

Rezensionen und mehr im Inhaltsverzeichnis

Die CD-Rezensionen

Jermaine Landsberger
Gettin‘ Blazed

Resonance Records 100/Codaex

Endlich. Fast ein Jahr hat es gedauert, bis das amerikanische Westcoast-Label Resonance Records von George Klabin einen Vertrieb für Jermaine Landsbergers „Gettin‘ Blazed“ in Europa gefunden hat. Für den Nürnberger Pianisten und Hammond-B3-Spieler war es 2009 wie ein Lottogewinn, als er von Klabin für eine Aufnahme angefragt, eingeflogen und mit Kerlen wie James Genus (bass), Gary Meek (ts,ss), Harvey Mason (dr) und Andreas Öberg (guitar) aus Schweden ins Studio gesteckt worden ist. Auf drei Nummern des funkelnden Albums ist zudem der große Gitarrist Pat Martino, einer der frühen Idole Landsbergers, mit von der Partie. Bei dessen rasanter boppigen Komposition „Three Base Hit“ bekommen die flinken Finger des aus einer musikalischen Sinti-Familie stammenden Oberpfälzers geradezu Flügel. Seine musikalische Initiation hat Landsberger auf der Gitarre erfahren. Die legendäre Orgel spielt er erst seit etwa neun Jahren, was man bei der Finesse und Spielfreude, mit der er das Instrument in typischer Phrasierung zum Strahlen bringt, kaum glauben mag. In ruhigen Nummern ganz behutsam und einfühlsam, entwickelt Landsberger bei schnellen boppigen Titeln und Latinnummern einen stürmischen Drive, wunderbar eingebettet in den perfekt swingenden Groove von Mason, einem der meist beschäftigten Studio- und Tourschlagzeuger Amerikas, und Genus. Glanzlichter setzt auch Saxo-phonist Meek dem Album auf, das mit Eleganz und faszinierendem Schwung die gängigen Klischees dessen, was wir von der Orgel kennen, hinter sich lässt.
Michael Scheiner

The Jazz Passengers
Reunited

enja/Yellowbird yeb-7714 2

Lang ist’s her, als Roy Nathanson und Curtis Fowlkes mit Marc Ribot bei der Kultband „Lounge Lizards“ spielten und kurz darauf die Band „The Jazz Passengers“ gründeten. Das waren ungewöhnlich gute Zeiten – nun kommen sie endlich wieder! Mit intelligenten, humorvollen Stilbrüchen, ironischen Zitaten und ungewöhnlichen Arrangements abseits aller Mainstream-Jazz-Traditionen: „Reunited“. Nomen est omen nicht nur als Titel einer neuen CD, sondern tatsächlich in der kompletten, ursprünglichen Formation der Jazz Passengers. Musikalisch ist die Band allerdings weder stehen geblieben, noch versucht sie, gewinnbringend olle Kamellen wieder aufzuwärmen. Elvis Costello eröffnet die CD mit dem Song „Wind Walked By“ und die Jazz Passengers begeistern mit den für sie typisch schrägen Sounds. Ob eigene Kompositionen oder der Coversong „Reunited“, ein seinerzeit ernst gemeinter Hit des Soul-Duos Peaches & Herb, die Passengers haben nichts von ihrer Originalität verloren. Eine vergnügliche Interpretation von „Spanish Harlem“ mit der Sängerin Susi Hyldgaard rundet die Reunion schließlich ab. Als kleine Erinnerung an das letzte Jahrhundert gibt es noch zwei Bonustakes live aus Wien 1995 mit der damaligen Bandsängerin Deborah Harry. Trotz aller Komplexität, fantastischen Soli und unkonventioneller Einlagen, ein klein wenig mehr Groove hätte der Aufnahme mit Sicherheit nicht geschadet. Sei’s drum – oft vermisst, aber nie vergessen, kann man sich nun an einem neuen, spannenden Jazz Passengers Album berauschen.
Thomas J. Krebs

Lemke–Nendza–Hillmann
Tria Lingvo

jazzsick records 2010

Drei Sprachen, das hieße auf Esperanto „Tria Lingvo“ – so benannte der Bassist André Nendza seine aktuelle CD bewusst programmatisch. Bei Johannes Lemke, Sax und Klarinette, Christoph Hillmann, Schlagzeug, und André Nendza herrscht offen-hörbar Gleichberechtigung. Ebenso scheinen die Grenzen zwischen europäischer und amerikanischer Sphäre überholt. Das verleiht dem aktuellen Album zusätzliche Relevanz. Hier leben europäische Tugenden, die an klassischer Moderne oder Folklore imaginaire geschult sind. Kein Zufall, dass Henri Texier sehr euphorisch auf die frisch aufgenommene CD reagierte. Andere Stücke wiederum atmen jenen vertrackt-expressiven Groove, mit dem das M-Base-Kollektiv um Steve Coleman den US-Jazz modernisierte. Soviel zu nur einigen von vielen Quellen für dieses Trio. Und die Umsetzung erst! Nendza als einer der virtuosesten Tieftöner im Lande liefert sein unerschütterliches, wie auch federleicht bewegliches Fundament. Mal verschränkt sich das Spiel kontrapunktartig mit der sprühenden melodischen Eleganz von Johannes Lemke, der vor allem hohe Saxophone und Klarinette bläst. Dazu tanzt und pulsiert Christoph Hillmanns Schlagwerk in den erdenklichsten Konstellationen und Strukturen. Aus einer Triobesetzung ohne Harmonieinstrument ergibt sich eine spezifische Luftigkeit. Hier nutzen Lemke, Hillmann und Nendza alle Chancen. Und es geht noch mehr: Posaunist Mark Bassey legt bei einigen Stücken seine lässig bluesgetränkten Linien über das Spiel seines Holzbläser-Partners.
Stefan Pieper

Yaron Herman Trio
Follow the white rabbit

ACT 9499-2

Das renommierte Münchner ACT-Label hat mit Yaron Herman erneut einen vielversprechenden Piano-Newcomer unter die Fittiche genommen. Nachdem sich der 1981 in Tel Aviv geborene Herman aufgrund einer Knieverletzung als jugendliches Basketballtalent zurückziehen musste, beginnt er erst mit 16 Jahren, das Klavierspiel zu erlernen. Unter dem Einfluss von Musikprofessor Opher Brayer, der mit seiner individuellen didaktischen Lernmethode ungewöhnliche Horizonte erschließt, und einem kurzen Intermezzo in Berklee landet Herman schließlich mit 19 Jahren in Paris. Dort lernt er Musiker wie Sylvain Ghio kennen und sichert sich durch sein außergewöhnliches Talent einen festen Platz als Pianist in der Szene. Seine nun auf ACT veröffentlichte CD „Follow the white rabbit“ präsentiert Yaron Hermans aktuelles Trio mit Chris Tordini am Bass und Tommy Crane an den Drums. Nach wie vor mischen sich bei Hermans Musik Pop und Jazzelemente subtil miteinander. Ob Interpretationen von Cobains „Heart Shaped Box“ oder Radioheads „No Surprises“, seine Generation wurde von genau dieser Musik beeinflusst, und sie begegnet dem Hörer daher im Repertoire wie in Eigenkompositionen kontinuierlich wieder. Alles in allem ist sein neues Album das bisher Entspannteste, wenn auch nicht gleich sein Experimentellstes. Aber das muss es auch nicht sein. Hermans Spiel ist mitreißend, jenseits von Genregrenzen oder erlerntem klassischen Jazzhochschulballast. Kurzum: CD in den Player, zurücklehnen und just „Follow The White Rabbit“!
Thomas J. Krebs

Wollny/Kruse/Schaefer
(em) live

ACT 9668

Wenn (em), eines der erfolgreichsten Pianotrios des gegenwärtigen Jazz, ein neues Album vorlegt, fragt man sich zwangsläufig, ob es noch Steigerungen geben kann. Jein, lautet die Antwort beim vierten Album, das beim diesjährigen Jazz Baltica mitgeschnitten wurde. Die Band agiert in gewohnter Klangschärfe, erzeugt hochenergetische Spannungsfelder zwischen Improvisation und Komposition. Bei aller herausragender Technik, unerschöpflicher Kreativität und traumwandlerischer Interaktion, den gleichberechtigt gerierten Ingredienzien dieses Trios, ist jetzt einiges anders. Schlagzeuger Eric Schaefer, der mehr als die Hälfte der meist neuen Stück beisteuert (das energiegeladene „Phlegma Fighter“ und die rockende Hommage „Gorilla Biscuits“ sind noch dabei), betont bewusst den Groove stärker. Sein perkussives, mitunter rockiges Spiel, setzt andere Akzente. Jeder Ton und jede Phrase sitzt, das Zusammenspiel ist disziplinierter, wenn nicht präziser. Der kochende Drive überlässt nichts dem Zufall, so dass sich Pianist Michael Wollny weniger in Abstraktionen ergeht, Bassistin Eva Kruse mehr auf den Punkt zupft. Das neue (em) hat nach eigenem Bekunden die vierte Jahreszeit erreicht und rundet damit seine eigene Geschichte ab. Alles kommt abgeklärter und aufgeräumter daher. Gelitten haben Spontaneität und kollektives Improvisieren, geblieben sind Spielfreude und vitale Kraft.
Reiner Kobe

Enders Room
zen tauri

Material Rec. 032-2/Harmonia Mundi

Neues aus der Hexenküche des Allgäuer Saxophonisten Johannes Enders – da werden die Lauscher ganz groß, und die Neugierde ist kaum zu bändigen. Seit Jahren betreibt der Weilheimer mit seinem Projekt „Enders Room“ eine Art Klanglaboratorium, eine Werkstatt für hypnotische Klänge, skurrile Sounds und eine somnambule Ästhetik. In nächtelangen Sessions werden da elektronische Beats, Tüfteleien und Mikro-Details mit analogen Klängen und Improvisationen zusammengebaut und -geschraubt – bis daraus eine fliegende Untertasse für trunkene Weltraumbummler und Alltagsverächter geworden ist. Auf dem neuesten, dem fünften „Room“-Werk, mischen neben Enders, der sämtliche Programmierungen und zahlreiche Instrumentalstimmen selbst eingespielt hat, der österreichische Gitarrist Wolfgang Muthspiel, der Trompeter Micha Acher vom „Tied & Tickled Trio“, Stefan Schreiber (b-cl) und die Schlagzeuger Billy Hart und John Hollenbeck als Gäste mit. In seiner eigenwilligen Verknüpfung von Minimal-Klängen, an Robert Wyatt erinnernde Gesängen, Science-Fiction-Romantik und Traurigkeit mit oft repetitiven rhythmischen Mustern entfaltet Enders Musik einen Sog, dem man sich nur schwerlich entziehen kann. Damit weist sie weit über die Grenzen des Jazz, wie man ihn normalerweise kennt, hinaus in diverse Richtungen zeitgemäßer Popästhetik und elektronischer Musik.
Michael Scheiner

Paul Zauner’s Blue Brass
Soulful Change

PAO 11140

Wenn soziale Kälte das Leben umgibt, ist „Soulful Change“ willkommen auf der Agenda. Um potenziellen Trübsinn zu vertreiben, lädt Paul Zauner’s Blue Brass zu klassischen Songs dieses Genres auf einer Zeitreise in eigenen Arrangements ein. Zunächst schmeicheln vertraute Melodien wie „I Can’t Stop Loving You” (Curtis Stigers) die Ohren, doch durch Akkordaufweichungen und rhythmische Lockerungen wird ein Plus an Soul hinzugefügt. Weiche Timbres, „In A Sentimental Mood” (Duke Ellington), driften in gesteigerter Emotionalität des Gesangs von Mansur Scott zur Parodie. Durch alle Soul-Register dekliniert er auch „Round Midnight” (Thelonius Monk), sodass dieser Standard im dichten Trio mit Posaunist Paul Zauner und Pianist Donald Smith praktisch neu erfunden wird. Ein strammer Rhythmn & Blues Drive bringt die Fahrt mit kantigen Brass-Kicks weiter zum „Song For Chester” (Peter Massink), doch Wolfgang Derschmidt bremst das Tempo in „Petis Calypso” (Peter Massink) mit einem wunderbar melodischen Bass-Solo. Vor der Endstation ein Abstecher zu „Jeanneret” (Hans Koller), dessen Wucht sich in freien Kollektiv-Exkursionen der Brass-Sektion entspannt. Zurücklehnen kann man sich dann bei atmosphärischen Klavier-Arpeggios, mit denen Donald Smith singend „Everything Must Change” begleitet. Mit diesem fabelhaften Soul-Treibstoff aus Österreich ist der Alltag zu ertragen. Ein Klasse-Album.
Hans-Dieter Grünefeld

Florian Ross
Mechanism

Pirouet 3049

Bislang hat sich Florian Ross im Trio und größeren Formaten hervorgetan, wo er weitgehend sein Handwerk erlernte. Jetzt legt der vielseitige Kölner Pianist nach acht Alben seine erste Solo-Aufnahme vor. Nachdem er 2004 erstmals solo aufgetreten war, fand er Gefallen an dieser völligen Gestaltungsfreiheit. Sein Wunsch wuchs, „solo zu spielen und doch nicht gänzlich allein zu sein“. Mithilfe eines Loop-Geräts, das ihn live komponieren und orchestrieren lässt, tritt er in Dialog mit sich selbst. Mechanisch, um auf den Titel der CD zu kommen, ist die Verbindung Technik und Klavier, doch Ross gestaltet sie seelenvoll. Es entsteht eine faszinierende Klangwelt miteinander verwobener Stimmen. Die 17 Stücke, zur Hälfte freie Improvisationen, versteht Ross „als eine lange Reise ins eigene Innenleben“. Sie verraten ihre Nähe zur klassischen Musik, die der Pianist studierte, sind aber spontane Momentaufnahmen. Mal ist es eine impressionistische Hommage an Vorbild Bill Evans, mal eine Anlehnung an Neue Musik („Györgi“), mal ein Tribut an John Coltrane („Moment’s Notice“), neben „Sometime Ago“ der einzige Standard des Albums. Florian Ross’ Monologe und Dialoge sind voller Poesie und Intimität. Die CD lebt vom Wechselspiel zwischen Solo-Spiel und Doppel-Solo. Es gebiert vielschichtige Klänge, die sich auf mehreren Ebenen verschränken und den Hörer in Atem halten. Ein Solo-Album dieses hochkalibrigen Pianisten war längst fällig.
Reiner Kobe

Anat Fort Trio
And If

ECM 2109

Seit ihrem ECM-Debüt vor drei Jahren hat sich die lange als Geheimtipp gehandelte Anat Fort, die sich auch in New York umtat, einen beachtlichen Namen geschaffen. Auf ihrem zweiten Album, das hierzulande erschienen ist, legt die israelische Pianistin beredt Zeugnis davon ab. Vorbilder wie Bill Evans, Paul Bley und Keith Jarrett haben ihre Spuren in ihrem Spiel hinterlassen. Auch die Zusammenarbeit mit Paul Motian klingt an. Die gleichnamigen Hommagen an den Drummer, die die CD einleiten und beschließen, sind ebenso Variationen von Stücken des Vorgänger-Albums wie „Something about Camels“. Ansonsten kann Anat Fort mit weiteren eigenen Stücken aufwarten. Sie zeichnen sich durch klare Konturen und fließende Eleganz aus, die den singbaren, lyrischen Melodien bekommen. Neben Klassik-Einflüssen sind leichte Folklore oder Gospel-Anklänge zu vernehmen, wie man es von Egberto Gismonti oder Keith Jarrett kennt. Sie sind entwickelt mit viel Gespür für Raum und Klang, womit Forts Klangästhetik beschrieben wäre. Die schlicht wirkenden Kompositionen sind in Wahrheit ganz vertrackt. Forts Zusammenspiel mit dem seit 1991 in New York lebenden Heidelberger Schlagzeuger Roland Schneider und dem New Yorker Bassisten Gary Wang ist unaufgeregt, unspektakulär. Mit homogenem Klangbild ist ein weiters idealtypisches ECM-Album entstanden. Ob man es braucht, mag der Hörer entscheiden.
Reiner Kobe

Anja Ritterbusch Quartett
When Night is almost done

A Jazz/ NRW Records 2010

Anja Ritterbusch ist auf vielen der Songs bewusst in die Tiefe gegangen, hat eigene Emotionen ausgelotet. Für so etwas zieht sie so manch literarische Quelle heran, bedient sich bei Liebesgedichten an Rilke und Antonio Carlos Jobim. Aber sie schreibt auch selbst sehr berührende Songlyrik. Und ihre Stimme erst! Ihr Organ klingt jung, ja jugendlich, legt aber zugleich verblüffende Reife offen und zeigt sich gesangstechnisch über alle selbstgesteckten Anforderungen locker erhaben. Und das will hier viel heißen, denn die Stücke ihres Quartetts winden sich über weitgespannte Melodiebögen oft in epische Dimensionen hinein, überraschen mit unvorhersehbaren Einfällen – und sind harmonisch-melodisch überaus vertrackt! In wilden Intervallsprüngen, manchmal auch übermütigen Scat-Passagen toben sich Ritterbuschs Gesangslinien aus und verneinen auch – vor allem in einer Bill-Evans-Adaption – die große Vocal-Jazz-Geste nicht. Das alles funktioniert so gut, weil sie sich von den ausgefeilten Band-Arrangements ihrer drei Mitstreiter vorantreiben, forttragen lässt. Pianist Eike Wulfmeier ist hier ein ausdrucksstarkes Pendant, derweil Bassist Michael Gudenkauf und Schlagzeuger Timo Warnecke zwischen zupackender Präzision und sanfter Leichtigkeit agieren. Zuweilen wünscht man sich stärkere Ruhepole. Aber es kristallisieren sich auch schnell Highlights heraus: Momente starker Intimität setzt der Opener „Fall“ frei, aber auch das Titelstück, einer Reflexion über die Reise des Unbewussten während der Nacht bis zum Sonnenaufgang.
Stefan Pieper

Steve Lacy
November

Intakt CD 171/2010

Man mag ja Hemmungen vor Solokonzerten haben, vor allem wenn es um Instrumente geht, die üblicherweise nicht Gegenstand von Solopräsentationen sind. Das Sopransaxophon gehört sicherlich zu diesen, wenn da nicht Steve Lacy wäre, der seit über 40 Jahren diese besondere Form der Präsentation seiner Kunst pflegt. Man mag auch Hemmungen haben, sich einer solchen Präsentation per Aufnahme zu widmen, würde wahrscheinlich eine Live-Aufnahme vorziehen.
Aber „November“ ist da etwas ganz anderes: Nicht nur eine Live-Aufnahme von dem Unerhört Festival im November 2003 in Zürich, sondern ein besonderes Dokument, Lacys musikalisches Vermächtnis. Wenige Wochen vorher hatte er erfahren, dass er Krebs hatte und nicht mehr lange leben würde. Acht Monate später starb er. Sein atemlos machendes Soloprogramm widmete er seinem jahrzehntelangen Schaffen, besonderen Ereignissen und der Erinnerung an Freunde, die für sein Leben wichtig waren und schon gestorben waren. „Tinas Tune“ widmete er seiner Kollegin Tina Wrase, die Mitglied seines Septets war und im Jahr 2000 gestorben war. Seine Stimme gegen Ende des Textes sprach schließlich von seinem Tod. Das vorhergehende fast fröhliche Stück „Moms“ hatte er der Mutter seiner Gefährtin Irène Aebi gewidmet. Aber das Konzert war musikalisch eine Dokumentation eines großen Musikers, der den Bogen über die mehr als 40 Jahre seines Schaffens spannte, von ganz aktuellen Titeln zurück in die 50er. Ein Vermächtnis, das endlich zugänglich ist.
Hans-Jürgen von Osterhausen

Tommy Meier Root Down
The Master and the Rain

Intakt Records 2010

Die glühende Energie von Fela Kutis großen Besetzungen lebt weiter. Etwa dank des Schweizers Tommy Meier und seiner fabelhaften Mitstreiter in der Großformation „Root Down“. „The Master and the Rain“ heißt deren zweites Album – zugleich die 181. Veröffentlichung auf dem Zürcher Intakt Label, das in diesem Jahr sein 25-jähriges Bestehen feiert. Die knapp zwei Dutzend Musiker kupfern nicht Afrobeat ab, sondern schicken vielmehr ihre Hörerschaft auf imaginäre Reisen, die nur durch ausgiebiges Selber-Reisen so authentisch wirken können. So konnten einige Bandmitglieder die Aura im sagenumwobenen „Shrine“, Fela Kutis einstigem Club in Lagos, hautnah erleben. Zudem haben sich „Root Down“ bei ausgiebigen Liveauftritten vorm afrikanischen Publikum abgearbeitet. Für das vorliegende Album ist die Tanzmusik Westafrikas aber nur einer von zahlreichen stilistischen Anknüpfungspunkten, die jedoch alle unmittelbar auf den schwarzen Kontinent bezogen sind. Südafrika oder der Maghreb bieten weitere Quellen für atmosphärisch dichte, suitenartig miteinander verwobene Bigband-Arrangements. Das passiert mit so viel Klasse, so viel unverstellter Entdeckerlust, als würde Duke Ellington eine moderne Neuauflage seiner „Far East Suite“ hinlegen! Mit variantenreich überkochender Rhythmik und Irene Schweizers pianistischen Ausbrüchen an der Grenze zur kontrollierten Raserei. Mit Elektronik-Soundscapes, die geradewegs in die tropische Nacht entführen oder dem Wüstenwind Atem verleihen. Und die Posaunen, Klarinetten, Saxophone, Trompeten vereinen mal solistisch, dann wieder im druckvollen Tutti die ganzen Emotionen und Visionen aus einer hierzulande noch weitgehend unbekannten Welt mit sinnlichem Bluesfeeeling.
Stefan Pieper

The late great Phil Seamen
Sharp Wood Productions SWP 037

rec. 1953–72

Der Engländer Phil Seamen (1926–72) war einer der besten europäischen Schlagzeuger (manche sagen sogar, er war der beste). Und er war der erste Europäer, der mit den großen amerikanischen Drummern mithalten konnte. In dem hervorragenden Booklet gibt es dazu einige Aussagen. Louis Bellson:
„… he was a terrific player”/Philly Joe Jones: “...Phil was about the best [in Europe]”/Ginger Baker: “Without Phil Seamen I would have never be the drummer I was.” Sein enormer drive, seine explosive Kraft, der satte sound seiner Becken und Trommeln, seine komplexen Rhythmen, seine ausgeprägte Fähigkeit, zu begleiten wie zu solieren – und das gleichermaßen exzellent in jedem Tempo in Combos wie in Big Bands: all dies kann man in den 18 Aufnahmen der CD studieren und bewundern (dazu kommt noch ein Interview). Und überdies einige bei uns kaum bekannte Bands wie die Jack Purnell Big Band (1954) und Kennt’ Graham’s Afro-Cubists (1953/57), wo er sich früher als wohl alle anderen seiner damaligen europäischen Kollegen an originale afro-kubanische Rhythmen wagt und diesen Test bravourös besteht. Doch sein Interesse ging noch weiter – so spielte er auch bei Joe Harriott, dem Pionier des europäischen Free Jazz (3 Titel von 1960/61). Erinnerungen an einen großen Musiker!
Joe Viera

State of Monc
Phantom Speaker

Challange Records

„Deutschland hat Jazzanova, Frankreich St. Germain und in den Niederlanden haben wir State of Monc”, so lobt das Geert Jan Jacobs Zitat des OOR-Magazins die niederländische Nu-Jazz-Combo „State of Monc“ auf ihren Werbemedien. Die sieben Musiker, bestehend aus Arthur Flink (tp), Hielke Praagman (elec.), Robin Koerts (b), Tuur Moens (dr), Milan Bonger (as), Ben van den Dungen (ts) und Johan Hendrikse (keys), haben sich zum Ziel gesetzt, anspruchsvollen Jazz mit elektronischen Beats zu vereinen und präsentieren ihr neues Album „Phantom Speaker“. Wenn St. Germain House-artigen Nu-Jazz kreierte, der auch einer breiteren Masse angenehm ins Ohr ging, so hat sich „State of Monc“ mit dem Breakbeat für ein düstereres elektronisches Grundgerüst entschieden und zielt auf anspruchsvollere Jazzliebhaber ohne Zukunftsangst. Dem Breakbeat entsprechend besticht das Album durch teils sehr schnelle Tempi in „Boom!“ oder „Mindbeamer“ und sehr tiefen, groovigen Bässen sowie für den Jazz unkonventionelle Rhythmen. Doch das eigentlich Bemerkenswerte an „Phantom Speaker“ ist die gut gelungene Fusion zwischen Mensch und Maschine. So fällt ein fließender Übergang der interessanten Soundshapes der Synthesizer auf der elektronischen Ebene zu der anspruchsvollen und komplexen Melodieführung der Bläser nur positiv auf und begeisterte beim North Sea Jazz Festival oder dem Amsterdam Dance Event. Ungeübten Hörern wird das Album jedoch zu anspruchsvoll sein.
Julius Bosse


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