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Jazz als Patriotenmusik? Wohl eher nicht. Doch seit zwei Jahrzehnten wird wieder gesamtdeutsch improvisiert, und zwar nicht nur in Parlamenten und Geldinstituten. Klingende Landschaften blühen da auf, frei von Mauern, Denkschemata und antifantastischem Schutzwall. Die 34. Leipziger Jazztage haben Ende September/ Anfang Oktober bewiesen, wie uferlos sich die Wellen blauer Noten ausbreiten können. Anlässlich zeitgleich zelebrierter Einheitsjahre stand das Festival unter dem Motto „Klangpunkt Deutschland“. Eine solch verbale Zielsuche driftet gern in Beliebigkeit ab, das Mäandern wurde hier aber wohltuend kanalisiert und in hörenswerte Bahnen gelenkt. Allein das Abschlusswochenende bot – nach vorangegangenen Klub- und Kneipenabenden – fernab aller bierseligen Einheitsmärkte mit Ost-West-Begegnungen, Nord-Süd-Gefälligkeiten und einer internationalen Offenheit beglückende Momente zuhauf.
Sogar die immer wieder lauthals geführten Hüben-Drüben-Diskussionen mussten an den Mauern des Leipziger Opernhauses abgeprallt sein. Im vor genau 50 Jahren eröffneten Musentempel ging es zwar auch um innerdeutsche Himmelsrichtungen, die leidige Debatten-Unkultur hatte aber keine Chance. Denn hier ging es ums Können. Zum Auftakt demonstrierte die NDR Bigband, dass Nordlichter sich widerspruchslos
auch einem Chef aus deutschem Süden beugen, um mit ihm perfekt zu
harmonieren. Wenn er denn gut ist. Und Rainer Tempel ist gut, richtig
gut! Obendrein bekennender Schwabe und somit einer jener Leute, die alles
außer hochdeutsch können, aber auf Effizienz setzen. Tempel
vergeudete denn auch nichts von den kostbaren Fertigkeiten seiner Mannen.
Er entlockte ihnen wertvolles Material, fast klassischen Bläsersatz
und geradezu sinfonische Passagen im Orchesterklang. Da die Band ausschließlich
mit erstrangigen Musikern besetzt ist, bekamen Saxophone, Trompete, Posaune
und Klavier die Chance großartiger Soli. Das hat gespritzt und
brillierte geradezu sphärisch patriotisch – und aus der Nord-Süd-Melange
wurde plötzlich ein gesamteuropäisches Projekt, denn Tempel
hat seinem Pianisten Hubert Nuss einen Part gewidmet, der den einst unanfechtbaren
Klavierkünsten von Frankreich und Polen die Ehre erweist. Die Opernhausabende
blieben auch diesmal stets dreigeteilt. Die Binnenrolle kam mit Thomas
Fellow und Stephan Bormann zwei Gitarristen zu, die als Professoren der
Dresdner Musikhochschule und mit ihrem Duo „Hands on Strings“ bereits
viel für den Nachwuchs getan haben. Nicht zuletzt hat sich der Perkussionist
Reentko Dirks auch durch ihre Hilfe zu einem veritablen Gitarrero gemausert.
Der wechselte nun zwischen Drums und zweihälsiger Gitarrenkunst,
um mit seinen fingerfertigen Partnern und dem Berliner Sopransaxophonisten
Volker Schlott vielsaitige Geschichten zu zaubern. In diesem Zusammenspiel
gaben die Musiker eine Weltpremiere, der weitere Auftritte folgen sollten. Quasi als Bindeglied zwischen deutschem Weltbummel und US-Groove gab es die freche Erzählweise von „Three Fall“. Lutz Streun, Tenorsax und Bassklarinette, wirbelte mit Posaunist Tilmann Schneider um Sebastian Winne am Schlagwerk herum, zauberte knappe Melodien, die episch wuchsen und mal purem Klangzauber, mal konkretem Thema gewidmet waren. Ein Mix aus lebenspraller Wildheit und gezähmtem Vortrag – wie ein Transitraum des „Klangpunkt Deutschland“, von dem aus es zu John Medeski, Billy Martin und Chris Wood nach Nordamerika gegangen ist. Auch nur ein Trio, möchte man meinen, doch allein der Bühnenaufbau aus Hammondorgel, Konzertflügel, Wurlitzer, Synthesizer und weiterem Tastengerät sowie Percussion und E-Bass weckte einen Vorgeschmack auf das orchestrale Feuerwerk, das da abgefackelt worden ist. Ohne Punkt und Komma zischten Medeski, Martin & Wood durch die Welt der Stile. Vielfältige Tonspektren als zauberhaftes Kaleidoskop musikalischer Lust. Der dritte Opernabend wirkte mit Thärichens Tentett, Nils Wolgram‘s Nostalgia und Steve Colemans „Five Elements“ (ohne Schlagzeug!) etwas disparat. Drei Ensembles, je für sich genommen absolut fesselnd, boten in der Abfolge eines Abends viel jazzige Kopflast. Was freilich – nach lautstark besungener Einheit – glaubhaft bewies, dass die Lust an leiseren Töne nicht verloren gegangen ist. Nach derart energetischen Abenden hatten es Gruppen wie Kattorna oder „schultzing“ nicht eben leicht, weit nach Mitternacht noch kleinere Klubhäuser zu füllen. Doch mit ihrem eklektizistischen Ost-Jazz gelang auch das spielend. Bemerkenswert auch Veranstaltungen mit Kinderjazz in Oper und Kinderklinik. Einerseits das Panama-Ensemble um Inspektor Maus, andererseits Jorinde Jelen & The Fresh Boys mit einem ulkigen Radioprogramm aus Großmutters Röhrenkiste. Mit solchen Angeboten wird tatsächlich was fürs künftige Publikum getan. Jazzige Trickfilmpoesie improvisierte das Trio L:UV zu Raritäten aus dem DEFA-Archiv. Der Schlussakkord zu den 34. Leipziger Jazztagen erklang a cappella in einer Kirche, um den 70. Geburts- und den 30. Todestag von John Lennon zu würdigen. Michael Ernst |
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