 |
 |
 |
|
Jazzzeitung
2009/05 ::: seite 17
rezensionen
|
|
 |
 |
 |
 |
 |
|
Electric Heart
Don Ellis – The Man, His Times, His Music
Ein Dokumentarfilm von John Vizzusi
Sleepy Night Records SNRDVD002
(www.sleepynightrecords.com)
Allein durch seine kreativen Umgestaltungen im Big Band Genre sollte
Don Ellis (1934 bis 1978) dauerhaft einen prominenten Platz in der Jazzgeschichte
haben. Er etablierte seit seinem sensationellen Auftritt beim Monterey
Festival (USA) 1966 nicht nur bis dahin ungewöhnliche Taktfrequenzen,
sondern auch einen prinzipiell anderen Besetzungstypus: sein Orchester
hatte drei Bassisten und drei Schlagzeuger sowie einen um Klarinetten
und Flöten erweiterten Saxophonsatz. Don Ellis selbst verwendete
eine nach seinen Ideen gebaute Viertelton-Trompete. Später integrierte
er ein Streichquartett und elektrifizierte als erster (noch vor Miles
Davis!) den Trompetenklang, um nur einige seiner progressiven Experimente
zu nennen.
Doch sein Konzept von Avantgarde wurde schon zu seinen Lebzeiten und
erst recht nach seinem Tod als zu radikal oder zu heterodox verdrängt,
sodass John Vizzusi zehn Jahre recherchieren musste, um den inzwischen
mehrfach prämierten Dokumentarfilm „Electric Heart. Don Ellis“ zu
produzieren. In einer Montage aus Interviews mit Maynard Ferguson und
Gunther Schuller, ehemaligen Bandmitgliedern wie Fred Selden sowie kaum
bekannten Konzertclips und Fotosequenzen ist nun die „multiple
Persönlichkeit“ von Don Ellis – „Er war ein totaler
Musiker“ (Milcho Leviev) – nach 40 Jahren medialer Ignoranz
wieder präsent. Hut ab! und Danke, John Vizzusi, für die Courage
und Ausdauer, mit soviel Respekt und Hingabe an den singulären Genius
Don Ellis zu erinnern.
Hans-Dieter Grünefeld Sonny Rollins in Vienne
Rec. 29.6.2006
Universal Music
Ein Konzert im beeindruckenden „Théâtre Antique“ (einst
ein römisches Freilichttheater) in Vienne, südlich von Lyon,
vor 7000 begeisterten Besuchern – der richtige Ort für den
76-jährigen, um zu zeigen, dass er immer noch voll da ist. Er spielt
weniger Töne als früher, aber ebenso souverän. Er braucht
wie immer Zeit, um seine Ideen, an denen es nie mangelt (eher im Gegenteil)
zu ordnen und seine Begleitgruppe (herausragend Schlagzeuger Victor Lewis)
herauszufordern. Seine Soli könnten noch länger sein, ohne
an Spannung zu verlieren, aber ihm fällt eben irgendwann ein neues
Thema ein, und dann übernimmt dieses die Rolle von Ausgangspunkt
und Ziel zugleich. Manchmal bricht er aus dem harmonischen Gefüge
eines Stückes für kurze Zeit aus, aber nie aus dem metrischen – er
weiß immer genau, wo er ist. In Fahrt gekommen, geht er während
des Spielens auf und ab; er muss sich bewegen, die Spannung zwischen
seinen Rhythmen und dem Beat ist zu groß … Er ist älter
geworden, aber seine Kraft scheint unerschöpflich. Ein Erlebnis.
Joe Viera
Youssou N‘Dour
Rückkehr nach Gorée
Ein Musikdokumentarfilm von Pierre-Yves Borgeaud
Mounamouna 6444410330, ALIVE
Ohne den Sklavenhandel wäre in den USA der dort genuine Jazz nicht
entstanden. Was zynisch wirkt, ist historische Realität. Denn der
Ausgangspunkt für diesen (unbeabsichtigten) Kulturexport war die
Insel Gorée, westlich von Dakar, Hauptstadt des Senegal. Der berühmteste
Griot (Sänger und Musiker) dieser Region, Youssou N‘Dour,
organisierte ein Projekt, wobei zeitgenössische Repräsentanten
des Jazz durch eine „Rückkehr nach Gorée“ sich
in realen Situationen dessen Herkunft bewusst werden sollten.
Auf seiner Reise steckte er das wesentliche geographische Dreieck der
bisherigen Jazzgeschichte ab: von Gorée in die USA, dann nach
Europa und wieder retour. Unterwegs rekrutierte er die Protagonisten
für den hautnahen Film von Pierre-Yves Borgeaud, aus denen er sukzessive
(vom Trio in New Orleans bis zum Oktett in Luxemburg) eine Band formierte: „Ich
möchte, dass Jazzmusiker meine Songs interpretieren“, war
seine Absicht. Youssou N‘Dour hat daraus bewegende Begegnungen
etwa mit dem Poeten Amiri Baraka (LeRoi Jones), dem Schlagzeuger Idris
Muhammed, dem Gorée-Kurator Joseph Ndiaye und anderen Teilnehmern
der Tour vorbereitet. Sein hypnotischer Gesang auf der Basis afrikanischer
Musik bekommt durch sensitive Jazzarrangements und ebenbürtige Solisten
wie Gitarrist Wolfgang Muthspiel, Pianist Moncef Genaud, Bassist James
Cammack universale Dimensionen. So wird Gorée in diesem aufklärenden
und zugleich emotionalen Film zum Symbol transkultureller Kreativität.
Hans-Dieter Grünefeld |