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Die Geburtenrate nach Woodstock? Geschenkt! Kaum vorstellbar, dass dieses musikalische Schlammschlachten sonderlich befruchtend gewesen ist. Anders die diversen Erinnerungsalben des legendären Aufeinandertreffens von Musik und Meute. Eine vergleichbare Platte im Jazz dürfte das „Köln Concert“ des
amerikanischen Jazzpianisten Keith Jarrett sein. Dieses musikalisch-inspirative
Feuerwerk hat für Generationen stilbildend gewirkt und beim gemeinsamen
Hören bestimmt nicht nur zum Händchenhalten geführt. Ob
es zum Baby-Boom taugte, ist empirisch nicht erwiesen, aber denkbar.
Herausragende Einzelfälle verdanken sich ganz gewiss der künstlerischen
Patenschaft des Köln-Gastspiels Anfang 1975. Und er hat sich einen Ruf als sensibler Künstler erworben, der auch mal mitten in einer Improvisationslinie abbrechen kann, wenn ihm ein Huster oder Schwätzer in der Versunkenheit stört. Derartiger Eskapismus, der aus allzu begründetem Respekt resultiert, hat sich beim Publikum herumgesprochen. Irre Verhaltensmuster sind die Folge: Man spricht weniger über die Musik – leider! – man wappnet sich. In der ausverkauften Philharmonie sitzen die Getreuen und vergewissern sich dreimal, ob das Mobiltelefon auch wirklich ausgeschaltet und nebst Kamera in den Tiefen der Taschen verborgen ist. Hustenbonbons auf steifen Knien, Papiertaschentücher in schwitzenden Händen, um nur ja keinen Mucks in den unbestechlichen Saal entweichen zu lassen. Ein Viertelstündchen lässt der Meister warten, um die innere Ruhe des Publikums gedeihen zu lassen, dann betritt er den Saal, setzt sich an den Steinway und ertastet erste Melodien, die er ausformt, wieder abbricht, beschreitet, variiert, rhythmisch kontert, moduliert, denen er freien Lauf lässt, als müsste von ihm nur freigelegt werden, was ohnehin vorhanden ist. Dass Keith Jarrett nicht sucht, wenn er improvisiert, ist ihm wiederholt nachgesagt worden – aus der Live-Erfahrung wird dies nachvollziehbar. Zufällige zwanzig Minuten später folgt ein Schlusspunkt, kein Stück dieses Abends wiegt länger, was folgt, sind auch mal Fünfminüter und Fingerstücke zu bekannten Themen. Was ihn geritten hat, die Andacht mit Blues zu verwürzen, wird sein Geheimnis bleiben. Offenbart hat er sich am Mikrofon, nachdem schon die zweite Nummer elektronisch verpiepst wurde. Konzentration, meint Jarrett, sei nicht nur eine nette Sache, sondern vor allem ein Ausdruck von Stressfreiheit. Eine ganz wichtige Voraussetzung für seine Konzerte – wenn das Publikum mitspielt! Es bejubelte ihn, wie nicht anders zu erwarten, auch in Berlins Philharmonie. Das eher stille Solo wird als weitere Rarität irgendwann als CD erscheinen, dann sind die lenzig milden Taster des pianistischen Auf und Ab nebst ihren hier und da in die Melodie getupften Akkorde nachhörbar und ergeben vielleicht trotz Blues und „My Song“ eine Form. Bleibt zu hoffen, dass die hineingefiepte Kurznachricht eines finnischen Telefonherstellers eliminiert werden kann. Keith Jarrett blieb davon unbeeindruckt. Beim Händchenhalten könnte dieser akustische Fremdkörper zum Lustkiller werden. Michael Ernst |
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