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Jazzzeitung

2009/05  ::: seite 23

Festivals 2009

 

Inhalt 2009/05

Inhaltsverzeichnis

STANDARDS

Editorial / break / Nachrichten aus der Jazzszene / kurz, aber wichtig Farewell: Dieter Seelow


TITEL -
Von der Rückkehr des Stils
Wie die Mode in den Jazz ein-, aus- und wieder einzog


DOSSIER
- St. Lucia und Ungarn

Mit der Wende war alles möglich
Jazz in Ungarn – ein besonderes Erlebnis

Schirmherrschaft der Pietons
18. Jazzfestival auf St. Lucia – ein Rückblick

Berichte
Keith Jarrett in der Berliner Philharmonie // 20. Jazzfest München // Jazzorchester Regensburg mit Gaststar Efrat Alony // 33. Leipziger Jazztage // Loft Music und Gasteig GmbH starten neue Jazzreihe // 30. Jazzfestival Saalfelden


Portraits

German Jazz Trophy 2009 für Carla Bley // NU-Jazz-Reihe von ACT // Jamie Cullum // „Magnus Fra Gaarden“ // ETNA // Jazzpianist Martin Sasse // Randi Tytingvåg // Tiny Tribe


Jazz heute und Education
BMW Welt Jazz Award 2010 – ein Interview mit Frank-Peter Arndt // Martin Pfleiderer lehrt in Weimar Geschichte des Jazz und der populären Musik // Abgehört: Cannonball Adderleys Solo über „Straight, No Chaser“

Rezensionen und mehr im Inhaltsverzeichnis

 

Mit der Wende war alles möglich

Jazz in Ungarn – ein besonderes Erlebnis

Immer wieder zieht sich durch die einschlägigen Magazine die Diskussion, ob es einen europäischen Jazz beziehungsweise einen spezifischen Jazz in Europa gibt, wobei dies oft im Hinblick auf die amerikanischen Quellen verneint wird. Doch die Antwort ist ganz einfach: Der Jazz ist vor einigen Jahrzehnten als eine freie und für alle Einflüsse offene Musikform in Europa angekommen und hat sich mit den persönlichen musikalischen Qualitäten der einzelnen Musiker weiter entwickelt und verändert, hat zu neuen Ausdrücken und Ideen gefunden, eine Eigenschaft, die dieser Musik von ihren Anfängen an zu eigen war. Und da jeder Mensch, ob er will oder nicht, von den kulturellen Eigenheiten seiner Umgebung geprägt wird, schlägt sich das zwangsläufig in seiner Musik nieder.

Victor Toth

Bild vergrößernVictor Toth

Nichts anderes hat in Europa stattgefunden, wo der Jazz nicht nur angekommen ist, sondern unter dem Einfluss der verschiedenen Musiktraditionen eine Pracht entfaltet hat, die zu der Aussage verleitet, dass der Jazz in Europa die Musik des 21. Jahrhunderts ist.

Ein sehr prägnantes Beispiel ist das, was die Szene in Ungarn ausmacht, ein Land das ja in den letzten hundert Jahren mit Bartók, Ligeti oder Kurtág große Beiträge zur Zeitgenössischen Musik geleistet hat, die die gesamte Kulturszene dieses Landes oder besser der Kulturregion geprägt haben.

So sagt Mihály Dresch, seit Jahren einer der führenden Musiker der ungarischen Jazzszene in einer Sendung des WDR im September 2007 (Regie Karl Lippegaus), dass es ihm nicht um das routinierte Spielen irgendwelcher Themen geht, sondern um ausgefallene Improvisationen. Es sind dann diese Emotionen, die die Melodien erzeugen und für ihn ganz wichtig sind. Und schließlich verweist er darauf, dass es für ihn inspirierend ist, aus einer mehrere hundert oder tausend Jahre alten musikalischen Schatzkammer Dinge herauszuholen. Schon in den Titeln seiner letzten CD auf BMC „Argyelus“ wie zum Beispiel „Heritage“ oder „Homeward Bound schlägt sich das nieder.

Und da ist der Gitarrist Gábor Gadó, einer der wichtigsten und prägendsten beziehungsweise ungarischen Jazzmusiker, der ganz bewusst dem so genannten traditionellen Jazz, wie er aus Amerika kommend präsentiert wurde, den Rücken kehrte, um eine eigene Musik zu machen, mit der man ihn identifiziert. Interessant ist, dass gerade junge französische Musiker wie Matthieu Donarier oder Sébastien Boisseau, die etliche Jahre zu seinem Quartett gehörten, dies auf Anhieb und als besondere Herausforderung verstanden haben.

Zoltan Lantos

Bild vergrößernZoltan Lantos

Und schon sind die Kategorie-Fanatiker da und erfinden Begriffe wie Ethno-Jazz oder Jazz-Folklore. Das fällt einem Westeuropäer ziemlich leicht, wenn er Musik aus entfernteren Kulturen wie dem Balkan vernimmt. Dass die musikalischen Erfahrungen und Traditionen eines Musikers in Budapest einfach anders sind als die eines Musikers aus dem Ruhrgebiet, wird dann schnell übersehen.
Kurze Skizze

Doch nun der Reihe nach: Wie ist die Entwicklung des Jazz gerade in Ungarn gewesen und was zeichnet ihn heute aus, was hat zu der kurz skizzierten Situation geführt? Bis zum Zweiten Weltkrieg erlebte gerade Ungarn mit der endlich erreichten Selbständigkeit nach dem Ersten Weltkrieg von der österreichischen Herrschaft eine „Goldene Zeit“, die auch den Swing u.ä. mit allen Beigaben auf die Podien dieses Landes Einzug halten ließ, eine Bewegung, die sich zwischen Paris, Berlin, Wien, Budapest und sogar bis Tallinn ziemlich gleichmäßig und mehr oder weniger intensiv vollzog.

Anders als zum Beispiel in der deutschen „Ostzone“ entstand nach Ende des Zweiten Weltkriegs zunächst ein gewisses Vakuum, das auch intensive Musikeinflüsse einschließlich Jazz aus dem Westen zuließ, bis dann um das Jahr 1950 die Kommunistische Partei das Land im Griff hatte. Jazz als amerikanisches Produkt war mit deren Zielen nicht vereinbar und stand auf dem Index. Als sich Ende der 50er Jahre trotzdem eine Traditional Jazz Szene entwickelte z.B. mit der Bénko Dixieland Band, wurde auch diese vom Staat bekämpft.
Längst hatten nun einige bekannte Musiker wie Gábor Szabó oder Attila Zoller das Land verlassen und in der westlichen Welt, insbesondere in den USA, ihr Glück gesucht und meist gefunden. Eine besondere Ausprägung einer ungarischen Musiktradition in deren Werken kann man allerdings nicht ohne Weiteres feststellen; nur – und das ist schon genug – , dass sie zu den Großen des Jazz gehörten.

Csaba Palotai. Alles Fotos: Marieke Rabe

Bild vergrößernCsaba Palotai. Alles Fotos: Marieke Rabe

In den folgenden Jahrzehnten ging mit der Auflockerung dieses politischen Starrsinns bis hinein in die Kultur auch eine Lockerung für den Jazz einher. Jazzclubs wurden gegründet, Jazzschallplatten hergestellt, meist in der Regie der Staatsfirma Hungaroton, die sich bis in die 90er Jahre hielt. Aber auch in diesen Jahren wie auch nach der Wende hielt es etliche Musiker wie Lajos Dudas, Ferenc Snétberger, Tony Lakatos oder Aladàr Pege nicht im Lande. Sie begründeten bis heute im Westen ihren Aktionsraum.
Mit der Wende war nun alles möglich, soweit auch die finanziellen Mittel dazu vorhanden waren. Und das war und ist natürlich bis heute und vor allem in einer Finanzkrise, wie sie zur Zeit die ganze Welt erfasst hat, ein Problem sowohl für den Aufbau genügender Auftrittsmöglichkeiten im eigenen Land wie auch die Reisen in andere Länder.

1990 wurde die Hungarian Jazz Federation gegründet, in der die ganze Szene vereinigt ist, Musiker, Journalisten, Veranstalter oder Hörer. Die Federation vergibt Preise, organisiert Jazzveranstaltungen zum Beispiel für den Nachwuchs oder ein Big Band Meeting und vieles mehr.

Vor einigen Jahren wurde die Society of Hungarian Jazz Artists gegründet, eine Organisation der Musiker, die sich um die notwendige Unterstützung der Musiker durch den Staat bemüht. Glaubt man einer im Internet veröffentlichten Darstellung von Ildikó Nagy vom Mediawave Festival in Györ (Brief draft of jazz policy in Hungary) besteht die Szene aus einer Zahl von Einzelpersönlichkeiten, ist sie „unterorganisiert“ und steht, wie er mit den offiziellen Subventionsstatistiken belegt, ziemlich am Ende der Liste der geförderten Kulturbranchen – ein Zustand, der sich von dem in Deutschland allerdings kaum unterscheidet.
In den 90er Jahren entstand mit dem Budapest Music Center (BMC) dann eine private Organisation, die für die weitere Entwicklung dieser Musik bis heute von großer Bedeutung wurde.
Auch der Staat sah dies so, wie zum Beispiel der Tatsache zu entnehmen ist, dass BMC das umfangreiche Archiv und die Bibliothek des Hungarian Music Council zur weiteren Bearbeitung in eigener Zuständigkeit erhielt. Inhaber ist der Musiker László Göz, der mit einem kleinen Team diese Organisation zu einem Zentrum der aktuellen Musik in Ungarn gemacht hat. Auf ihrer Homepage findet man die Aufgabenbeschreibung: „… die Werte der ungarischen Musik in ihrer Komplexität und Einheit zu präsentieren, aktiv daran teilzunehmen, dass die ungarische Musikkultur den Platz in der Welt einnehmen kann, der ihr zusteht.“

Jeweils zu gleichen Teilen produziert das CD-Label Werke der Zeitgenössischen Musik, zum Beispiel von Kurtag, und Jazz. Da das Label versucht, eben gerade die Besonderheiten der eigenen Musik zu erfassen, gibt der Bestand der bereits publizierten CDs einen guten Einblick in dieses musikalische Phänomen (www.bmcrecords.hu). Seit zwei Jahren werden die Produkte auch auf dem deutschen Markt vertrieben.

Da sind zum Beispiel die beiden bereits erwähnten Musiker Mihály Dresch und Gábor Gadó, die eine Reihe sehr grundsätzlicher Produktionen herausgegeben haben. Erlebt man das Dresch Quartet, so fällt vor allem der Cimbalon Spieler Miklós Lukács auf, der dieses traditionelle Instrument außerordentlich modern spielt, sodass gar nicht erst der Gedanke an folkloristische Einflüsse aufkommt. Seine Virtuosität ist einmalig.

Gábor Gadó hat Projekte von ganz unterschiedlicher Struktur entwickelt, oft grenzüberschreitend in Richtung der Zeitgenössischen Musik. Besonders interessant auch die Aufnahmen mit seinem französischen Quartett mit Donarier, Quitzke und Boisseau. Immer wieder gibt es Annäherungen der ungarischen Szene und der französischen. Gadó selbst hat in Paris mehrere Jahre gelebt, der Pianist Emil Spányl oder der Gitarrist Csaba Palotai tun es immer noch, wobei Palotai mit seiner Grupa Palotai eine Musik produziert, die so richtig in keine Schublade passt, sich zwischen Punk und Free Jazz bewegt, aber die Hörer, vor allem auch junge, sehr fasziniert.

Der gleichermaßen virtuose wie ausdrucksvolle Geiger Zoltan Lantos beweist, dass das typischste traditionelle ungarische Instrument ein höchst aktuelles Jazzinstrument ist, sei es mit seinem eigenen Projekt „Mirrorworld“ oder zum Beispiel in der Band des in Köln lebenden, aus dem benachbarten Rumänien stammenden Nicolas Simion, mit der er gerade in Dortmund, Köln und Düsseldorf sehr eindrucksvoll zu erleben war.

Ein weiterer herausragender Exponent der Szene ist der Sänger Gabor Winand, der von sich selbst sagt, was man spontan nachvollziehen kann, dass er seine Stimme als Instrument versteht. Sehr bewegende Produktionen hat er gemacht, zuletzt „Fabulas“ mit den Gästen Ramon Valle und Eric Vloeimans.

Und dann ist da die Großfamilie Lakatos, mit Sinti-Wurzeln, allen voran der große alte Herr des ungarischen Jazz György Szabados, der eine lange Liste großartiger Pianisten anführt. Da ist vor allem Kalman Olah, den man in unserem Land mehrfach erleben durfte, auch im Jahr 2007 auf der „jazzahead“ in Bremen, zusammen mit dem Bassisten Sébastien Boisseau und dem Saxophonisten Kristóf Bacsó, dessen eigene CD „Aloteregos“ aus dem vergangenen Jahr auch besonders hörenswert ist.

Und dann ist da der Schlagzeuger Elemér Balázs, einer der älteren und besonders hörenswerten Musiker und Projekterfinder. Hinreißend das „Plastic Septet“ u.a. mit dem Gitarristen Gábor Brezovcsik, dem Sopransaxophonisten Dániel Váczi oder dem Altsaxophonisten Gábor Lukács.

Individueller Ansatz

Auch die „Hommage an Kodály“ des Quartetts des Saxophonisten und Klarinettisten Mihály Borbély vermittelt einen sehr nachdrücklichen und individuellen Ansatz ungarischer Musik.
Schließlich muss der junge Saxophonist Victor Tóth erwähnt werden, der mit seinem Trio, u.a. mit Hamid Drake am Schlagzeug, ein hinreißendes Stück aktueller freier Musik hergestellt hat.
Natürlich ist die Liste der hörenswerten Musiker noch viel länger, doch ein erster Überblick soll genügen.

Eine weitere wichtige Leistung von BMC ist die Ausrichtung des großen MOL Festivals in Budapest, benannt nach dem gleichnamigen Hauptsponsor und Energiekonzern. An mehreren Tagen Mitte September und an mehreren Spielorten gibt es aktuelle Projekte aus Ungarn, aber auch aus anderen meist europäischen Ländern, darunter einige auch aus Deutschland. In diesem Zusammenhang ist natürlich das Goethe Institut ein wichtiger Partner, der die Buchung der deutschen Gäste finanziell unterstützt.

An einigen Abenden kann man außerdem die junge Szene der Jazzmusiker in Cafés, Clubs, Bars, Hotels etc. erleben, ein spannender Blick in eine interessante Szene, die zumeist am Konservatorium in Budapest studiert.

Und natürlich gibt es außer dem MOL Festival auch noch andere Festivals in Ungarn mit überörtlicher Bedeutung, so das Mediawave Festival in Györ oder das Festival in Szeged, ein Open Air Festival mit starken populären Bezügen.

Hat man einmal einen nicht nur flüchtigen Blick in die Szene des Jazz in Ungarn geworfen, erlebt man ein Land, das zu besuchen sich unbedingt lohnt, in dem man viele Anstöße zum Verständnis aktueller Musik in diesem Kulturraum erhält und sich daran auch sehr intensiv erfreuen kann, ganz zu schweigen von den vielen anderen kulturellen Segnungen, die man zum Beispiel in Budapest genießen kann, bis hin zu dem ziemlich einmaligen Vasarély Museum.

Hans-Jürgen von Osterhausen

Zum Studium der Geschichte des Jazz sei auf das informative Buch „The Book of Hungarian Jazz“ von Géza Gábor Simon aus dem Jahr 1992 verwiesen.

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