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Immer wieder zieht sich durch die einschlägigen Magazine die Diskussion, ob es einen europäischen Jazz beziehungsweise einen spezifischen Jazz in Europa gibt, wobei dies oft im Hinblick auf die amerikanischen Quellen verneint wird. Doch die Antwort ist ganz einfach: Der Jazz ist vor einigen Jahrzehnten als eine freie und für alle Einflüsse offene Musikform in Europa angekommen und hat sich mit den persönlichen musikalischen Qualitäten der einzelnen Musiker weiter entwickelt und verändert, hat zu neuen Ausdrücken und Ideen gefunden, eine Eigenschaft, die dieser Musik von ihren Anfängen an zu eigen war. Und da jeder Mensch, ob er will oder nicht, von den kulturellen Eigenheiten seiner Umgebung geprägt wird, schlägt sich das zwangsläufig in seiner Musik nieder. Nichts anderes hat in Europa stattgefunden, wo der Jazz nicht nur angekommen ist, sondern unter dem Einfluss der verschiedenen Musiktraditionen eine Pracht entfaltet hat, die zu der Aussage verleitet, dass der Jazz in Europa die Musik des 21. Jahrhunderts ist. Ein sehr prägnantes Beispiel ist das, was die Szene in Ungarn ausmacht, ein Land das ja in den letzten hundert Jahren mit Bartók, Ligeti oder Kurtág große Beiträge zur Zeitgenössischen Musik geleistet hat, die die gesamte Kulturszene dieses Landes oder besser der Kulturregion geprägt haben. So sagt Mihály Dresch, seit Jahren einer der führenden Musiker der ungarischen Jazzszene in einer Sendung des WDR im September 2007 (Regie Karl Lippegaus), dass es ihm nicht um das routinierte Spielen irgendwelcher Themen geht, sondern um ausgefallene Improvisationen. Es sind dann diese Emotionen, die die Melodien erzeugen und für ihn ganz wichtig sind. Und schließlich verweist er darauf, dass es für ihn inspirierend ist, aus einer mehrere hundert oder tausend Jahre alten musikalischen Schatzkammer Dinge herauszuholen. Schon in den Titeln seiner letzten CD auf BMC „Argyelus“ wie zum Beispiel „Heritage“ oder „Homeward Bound schlägt sich das nieder. Und da ist der Gitarrist Gábor Gadó, einer der wichtigsten und prägendsten beziehungsweise ungarischen Jazzmusiker, der ganz bewusst dem so genannten traditionellen Jazz, wie er aus Amerika kommend präsentiert wurde, den Rücken kehrte, um eine eigene Musik zu machen, mit der man ihn identifiziert. Interessant ist, dass gerade junge französische Musiker wie Matthieu Donarier oder Sébastien Boisseau, die etliche Jahre zu seinem Quartett gehörten, dies auf Anhieb und als besondere Herausforderung verstanden haben. Und schon sind die Kategorie-Fanatiker da und erfinden Begriffe wie
Ethno-Jazz oder Jazz-Folklore. Das fällt einem Westeuropäer ziemlich leicht,
wenn er Musik aus entfernteren Kulturen wie dem Balkan vernimmt. Dass
die musikalischen Erfahrungen und Traditionen eines Musikers in Budapest
einfach anders sind als die eines Musikers aus dem Ruhrgebiet, wird dann
schnell übersehen. Doch nun der Reihe nach: Wie ist die Entwicklung des Jazz gerade in Ungarn gewesen und was zeichnet ihn heute aus, was hat zu der kurz skizzierten Situation geführt? Bis zum Zweiten Weltkrieg erlebte gerade Ungarn mit der endlich erreichten Selbständigkeit nach dem Ersten Weltkrieg von der österreichischen Herrschaft eine „Goldene Zeit“, die auch den Swing u.ä. mit allen Beigaben auf die Podien dieses Landes Einzug halten ließ, eine Bewegung, die sich zwischen Paris, Berlin, Wien, Budapest und sogar bis Tallinn ziemlich gleichmäßig und mehr oder weniger intensiv vollzog. Anders als zum Beispiel in der deutschen „Ostzone“ entstand
nach Ende des Zweiten Weltkriegs zunächst ein gewisses Vakuum, das
auch intensive Musikeinflüsse einschließlich Jazz aus dem
Westen zuließ, bis dann um das Jahr 1950 die Kommunistische Partei
das Land im Griff hatte. Jazz als amerikanisches Produkt war mit deren
Zielen nicht vereinbar und stand auf dem Index. Als sich Ende der 50er
Jahre trotzdem eine Traditional Jazz Szene entwickelte z.B. mit der Bénko
Dixieland Band, wurde auch diese vom Staat bekämpft. In den folgenden Jahrzehnten ging mit der Auflockerung dieses politischen
Starrsinns bis hinein in die Kultur auch eine Lockerung für den
Jazz einher. Jazzclubs wurden gegründet, Jazzschallplatten hergestellt,
meist in der Regie der Staatsfirma Hungaroton, die sich bis in die 90er
Jahre hielt. Aber auch in diesen Jahren wie auch nach der Wende hielt
es etliche Musiker wie Lajos Dudas, Ferenc Snétberger, Tony Lakatos
oder Aladàr Pege nicht im Lande. Sie begründeten bis heute
im Westen ihren Aktionsraum. 1990 wurde die Hungarian Jazz Federation gegründet, in der die ganze Szene vereinigt ist, Musiker, Journalisten, Veranstalter oder Hörer. Die Federation vergibt Preise, organisiert Jazzveranstaltungen zum Beispiel für den Nachwuchs oder ein Big Band Meeting und vieles mehr. Vor einigen Jahren wurde die Society of Hungarian Jazz Artists gegründet,
eine Organisation der Musiker, die sich um die notwendige Unterstützung
der Musiker durch den Staat bemüht. Glaubt man einer im Internet
veröffentlichten Darstellung von Ildikó Nagy vom Mediawave
Festival in Györ (Brief draft of jazz policy in Hungary) besteht
die Szene aus einer Zahl von Einzelpersönlichkeiten, ist sie „unterorganisiert“ und
steht, wie er mit den offiziellen Subventionsstatistiken belegt, ziemlich
am Ende der Liste der geförderten Kulturbranchen – ein Zustand,
der sich von dem in Deutschland allerdings kaum unterscheidet. Jeweils zu gleichen Teilen produziert das CD-Label Werke der Zeitgenössischen Musik, zum Beispiel von Kurtag, und Jazz. Da das Label versucht, eben gerade die Besonderheiten der eigenen Musik zu erfassen, gibt der Bestand der bereits publizierten CDs einen guten Einblick in dieses musikalische Phänomen (www.bmcrecords.hu). Seit zwei Jahren werden die Produkte auch auf dem deutschen Markt vertrieben. Da sind zum Beispiel die beiden bereits erwähnten Musiker Mihály Dresch und Gábor Gadó, die eine Reihe sehr grundsätzlicher Produktionen herausgegeben haben. Erlebt man das Dresch Quartet, so fällt vor allem der Cimbalon Spieler Miklós Lukács auf, der dieses traditionelle Instrument außerordentlich modern spielt, sodass gar nicht erst der Gedanke an folkloristische Einflüsse aufkommt. Seine Virtuosität ist einmalig. Gábor Gadó hat Projekte von ganz unterschiedlicher Struktur entwickelt, oft grenzüberschreitend in Richtung der Zeitgenössischen Musik. Besonders interessant auch die Aufnahmen mit seinem französischen Quartett mit Donarier, Quitzke und Boisseau. Immer wieder gibt es Annäherungen der ungarischen Szene und der französischen. Gadó selbst hat in Paris mehrere Jahre gelebt, der Pianist Emil Spányl oder der Gitarrist Csaba Palotai tun es immer noch, wobei Palotai mit seiner Grupa Palotai eine Musik produziert, die so richtig in keine Schublade passt, sich zwischen Punk und Free Jazz bewegt, aber die Hörer, vor allem auch junge, sehr fasziniert. Der gleichermaßen virtuose wie ausdrucksvolle Geiger Zoltan Lantos beweist, dass das typischste traditionelle ungarische Instrument ein höchst aktuelles Jazzinstrument ist, sei es mit seinem eigenen Projekt „Mirrorworld“ oder zum Beispiel in der Band des in Köln lebenden, aus dem benachbarten Rumänien stammenden Nicolas Simion, mit der er gerade in Dortmund, Köln und Düsseldorf sehr eindrucksvoll zu erleben war. Ein weiterer herausragender Exponent der Szene ist der Sänger Gabor Winand, der von sich selbst sagt, was man spontan nachvollziehen kann, dass er seine Stimme als Instrument versteht. Sehr bewegende Produktionen hat er gemacht, zuletzt „Fabulas“ mit den Gästen Ramon Valle und Eric Vloeimans. Und dann ist da die Großfamilie Lakatos, mit Sinti-Wurzeln, allen voran der große alte Herr des ungarischen Jazz György Szabados, der eine lange Liste großartiger Pianisten anführt. Da ist vor allem Kalman Olah, den man in unserem Land mehrfach erleben durfte, auch im Jahr 2007 auf der „jazzahead“ in Bremen, zusammen mit dem Bassisten Sébastien Boisseau und dem Saxophonisten Kristóf Bacsó, dessen eigene CD „Aloteregos“ aus dem vergangenen Jahr auch besonders hörenswert ist. Und dann ist da der Schlagzeuger Elemér Balázs, einer der älteren und besonders hörenswerten Musiker und Projekterfinder. Hinreißend das „Plastic Septet“ u.a. mit dem Gitarristen Gábor Brezovcsik, dem Sopransaxophonisten Dániel Váczi oder dem Altsaxophonisten Gábor Lukács. Individueller AnsatzAuch die „Hommage an Kodály“ des Quartetts des Saxophonisten
und Klarinettisten Mihály Borbély vermittelt einen sehr
nachdrücklichen und individuellen Ansatz ungarischer Musik. Eine weitere wichtige Leistung von BMC ist die Ausrichtung des großen MOL Festivals in Budapest, benannt nach dem gleichnamigen Hauptsponsor und Energiekonzern. An mehreren Tagen Mitte September und an mehreren Spielorten gibt es aktuelle Projekte aus Ungarn, aber auch aus anderen meist europäischen Ländern, darunter einige auch aus Deutschland. In diesem Zusammenhang ist natürlich das Goethe Institut ein wichtiger Partner, der die Buchung der deutschen Gäste finanziell unterstützt. An einigen Abenden kann man außerdem die junge Szene der Jazzmusiker in Cafés, Clubs, Bars, Hotels etc. erleben, ein spannender Blick in eine interessante Szene, die zumeist am Konservatorium in Budapest studiert. Und natürlich gibt es außer dem MOL Festival auch noch andere Festivals in Ungarn mit überörtlicher Bedeutung, so das Mediawave Festival in Györ oder das Festival in Szeged, ein Open Air Festival mit starken populären Bezügen. Hat man einmal einen nicht nur flüchtigen Blick in die Szene des Jazz in Ungarn geworfen, erlebt man ein Land, das zu besuchen sich unbedingt lohnt, in dem man viele Anstöße zum Verständnis aktueller Musik in diesem Kulturraum erhält und sich daran auch sehr intensiv erfreuen kann, ganz zu schweigen von den vielen anderen kulturellen Segnungen, die man zum Beispiel in Budapest genießen kann, bis hin zu dem ziemlich einmaligen Vasarély Museum. Hans-Jürgen von Osterhausen
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