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Leipzig feiert den Oktober ’89, da kommen Erinnerungen hoch ohne Ende. Doch etwas fehlt im Herbstwind 2009, die Jazztage wurden vorverlegt. Ausgerechnet der 33. Jahrgang rückte in den Sommer, aus Planungsgründen, wie es hieß. Das war nur eins von vielen Risiken, doch er fiel nicht ins Sommerloch, soviel vorweg.
Hinter den Kulissen hatte sich einiges getan, der veranstaltende Jazzclub wurde personell neu aufgestellt, eine inhaltliche Neuorientierung hätte die Folge sein können. Doch es blieb bei neuer Besinnung – und dies mit achtbarem Erfolg. Der geänderte Termin Ende August machte neue Spielorte möglich, ließ Musik auch unter freiem Himmel zu und streckte den Zeitraum des wohl nicht nur nach Eigenwerbung wichtigsten ostdeutschen Jazzfestivals auf ganze zehn Tage. Vor allem aber besann man sich der diesem Genre ohnehin innewohnenden Freiheit in all ihren Schattierungen. Sowohl der Drang nach als auch der Mut zur Freiheit sind lohnende Anknüpfungspunkte. Grenzen haben da also nichts zu suchen, es sei denn, ihre Überwindung wird zum Gegenstand der Betrachtung. So war es in der Tat und gipfelte in erstaunlicher Vielfalt, ohne je in den Verdacht der Beliebigkeit zu geraten. Große Namen und Entdeckungen, Standard-Jazz und Experiment, pures Konzert und Session, nicht zuletzt auch Kindermusik und Film – dies in etwa ist die Bandbreite der diesjährigen Jazztage gewesen. Den vordergründigsten Bezug zu 1989 bildete die „Große Suite als befreiende musikalische Grenzöffnung mit akustisch-instrumentellen Experimenten“ vom Transatlantic Freedom Suite Tentet. Da erklang ein direkter Brückenschlag zu den 14. Leipziger Jazztagen, die inmitten von Aufbruch und Spannung stattfanden, neben unvergesslichen aber auch von verhinderten Konzerten geprägt waren. Saxofonist Ernst-Ludwig Petrowsky war es, der damals eine Protestnote auf der Bühne verlas – bis dahin ein undenkbarer Vorgang, der Abhörpraxis und Zensur aufs Korn nahm und begeisterten Zuspruch des Publikums fand. Derselbe Musiker trug denselben Text nun noch einmal vor und machte deutlich, wie sehr die Courage des Einzelnen gefragt war und ist. Zehn Musiker unterschiedlicher Herkunft, Stilistik und Generationen versinnbildlichten dieses Thema dann künstlerisch, um Petrowsky und Günter „Baby“ Sommer versammelten sich brillante Kollegen mit ihrer tönenden Botschaft. Ein einziges Konzert, das so viele Politikerreden in den Schatten stellt! Zwischen ohrenöffnendem Experiment und erinnernder Tradition angesiedelt waren auch die weiteren Hauptkonzerte im Leipziger Opernhaus, wenn sie etwa die Schweizer Truppe Ronin auf die schwedische Sängerin Rigmor Gustafsson treffen ließen – hier ein Groove wie die Pest, da ein charmant schöner Gesang zum radio.string.quartet.vienna –, oder wenn exzessive Virtuosen wie der Posaunist Ray Anderson im Marty Ehrlich Quartet geradezu verwegende Duoparts äquilibrieren und Brad Jones den Kontrabass einmal mehr als Soloinstrument zu adeln versteht. Dass auf diesem Feld auch Avishai Cohen überzeugen wird, war zu erwarten. Er leitet seit diesem Jahr das Red Sea Jazz Festival in Tel Aviv und kam direkt aus der historisch belasteten Krisenwelt nach Leipzig, um einen phänomenalen Part abzuliefern. Frieden- und Freiheitsgedanken in wohltönenden Harmonien – das mag manchem zu glatt gewesen sein, wurde aber vom Publikum heftigst bejubelt und darf durchaus als passable Klangfarbe zwanzig Jahre nach ’89 ins Leipziger Jazzfest gezählt werden. Den Kontrast dazu bot Marc Ribot mit seinen kraftstrotzend schrägen Orgien, die er virtuos aus den Gitarrensaiten hervorzauberte und geradezu donnerhaft von seiner derzeitigen Band Ceramic Dog begleiten ließ. Der Amerikaner öffnete zudem ein Fenster gen Osteuropa und lud die singende Geigerin Eszter Balint zum Zusammenspiel ein. Wer hier sanfte Ausgewogenheit suchte, war fehl am Platze. Nachtkonzerte gehören zu den Leipziger Jazztagen wie der Blick auf die Jüngsten – diesmal sogar mit einer Art Benefiz für Kinder im Krankenhaus und dem großen Lustmachen für die Jazzfans von morgen und übermorgen, das die Top Dog Brass Band so witzig wie überzeugend didaktisch betrieb. Wolfgang Haffner schlagzeugerte eine „jazz-electric“-Eröffnungsparty und das Duo um den Leipziger Universitätsdirektor David Timm und Jens Winter setzte mit einem Konzert für Orgel und Trompete einen weiteren Bau- und in diesem Fall Schlussstein ins Mosaik der vorherbstlichen Jazztage, deren nächster Jahrgang – fast könnte man es jetzt schon bedauern – dann tatsächlich wieder in die Zeit der bunten Blätter fällt. Michael Ernst |
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