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Am Nachmittag des 5. Juli braut sich über Montreal ein Gewitter zusammen. Die Wolken lassen nichts Gutes erahnen, hat die Stadt doch während der vorangegangenen Tage unter tropischer Hitze gelitten und sich schweißtreibend erwärmt. Tatsächlich gießt es bald aus Kübeln, so stark, dass man in Downtown den gegenüberliegenden Wolkenkratzer nicht mehr sieht. Nach einer Stunde ist der Spuk vorbei. Der Himmel reißt auf, die Aufräumarbeiten setzen ein. Die Tunnels der Stadtautobahn müssen ausgepumpt, herumtreibende Autos eingesammelt werden. Das alles geschieht auf unspektakuläre Weise, bedacht und gelassen. Typisch für Montreal.
Zwei Tage vorher. Ich sitze mit den Musikern des bayrisch-berliner Trios [em] in einem Frühstückslokal. Wir haben die Wahl zwischen etwa 100 verschiedenen Varianten, Eier zu verspeisen. Die Einrichtung pittoresk, ein wenig post-industrial, die Bedienung erfrischend freundlich für jemanden, der süddeutsche Verhältnisse gewohnt ist. Wir machen Pläne, Stadtbesichtigung, Rundgänge, Touristenprogramm eben. Es gibt einiges zu erkunden, das Saint-Sulpice-Seminar in der Nähe der Place d’Armes, die Kirche Notre-Dame de Bonsecour, einige Beispiele für nordamerikanische Industriearchitektur in Form von Bürogebäuden, die während der vergangenen 150 Jahre errichtet wurden. In der Altstadt Richtung Hafen sind darüber hinaus ein paar Erinnerungen an die Vergangenheit erhalten worden wie das Maison Saint Gabriel im Stil der frühen Landhäuser von Quebec und das nach französischem Vorbild erbaute Château Ramezay, in das inzwischen ein Museum für Porträtgemälde eingezogen ist. So weit, so historisch. Wirklich Altes, wie man es aus Good Old Europe kennt, gibt es kaum. Kein Wunder: schließlich wurde die Insel von Montreal erst 1535 von dem französischen Eroberer Jacques Cartier den einheimischen Indianern abgeschwatzt und erlebte ihren Boom als Pelzmetropole und Handelsstadt nach der Eintragung als Stadt im Jahr 1832. Dafür beginnen kurz nach der Stadtgrenze bereits die kanadischen Wälder, unendliche Weiten mit statistisch gesehen vier Einwohnern auf einem Quadratkilometer, also eigentlich niemandem.
Stadtbesichtigung zweiter Teil. Tretbootfahren im Hafenbassin, Shoppen in Chinatown, Bummeln durch beachtliche Geschäftspassagen, die vor den extremen Witterungen der Gegend schützen. So warm der kurze Sommer sich präsentiert, so eisig kalt wird der lange Winter. Die Menschen haben sich an diese Extreme gewöhnt und ihre Konsequenzen daraus gezogen. Wenn die angenehme Jahreszeit schon so schnell vorbeigeht, dann wird sie eben möglichst nachhaltig genossen. Von Anfang Juni an, wenn die Formel 1 die Saison eröffnet, bis etwa Mitte August reiht sich in Montreal ein Kulturereignis an das nächste. Und von allen Veranstaltungen ist das Festival International de Jazz de Montreal die größte. Dass es so weit kommen konnte, liegt an verschiedenen Voraussetzungen. Da ist zunächst eine lobenswerte Affinität der Politik zur Kultur. Montreal ist zwar eine der wichtigsten Handelsstädte Kanadas, steht aber in ständiger Konkurrenz zu Vancouver oder Toronto (die beide übrigens auch ihr Jazzfestival haben!). Profil kann man daher außer über Wirtschaft vor allem über Kultur erlangen. Dazu kommen die Bemühungen der Québécois, sich als Minderheit von etwa sieben Millionen Französisch sprechenden Nordamerikanern gegenüber der anglophonen Übermacht zu behaupten. So entsteht ein ganzes Netzwerk von Interessen, das Montreal als kulturelle Hauptstadt Kanadas sehen möchte. Der Jazz wiederum als genuin amerikanische Kunstform mit starken Ablegern in Europa, einerseits durchaus mehrheitsfähig, andererseits noch immer vom Flair der Innovativen und des Exklusiven umgeben, eignet sich als Vehikel, um Identität zu schaffen und zu transportieren. Diese Chance haben die Programmverantwortlichen als solche begriffen und sind daher bestrebt, möglichst umfassend die Stadt und ihre Bürger in das Festival zu integrieren. Man merkt es an den Details. Jeden Tag zum Beispiel lockt im Inneren des Hyatt-Blocks die „Petite École du Jazz“ Scharen von Schulklassen an. Spielerisch, mit ein paar Kunststücken und reichlich Animation versetzt, werden den Zwergen auf diese Weise die Grundlagen des Jazz vermittelt, mit sichtlich Spaß auf beiden Seiten der Bühne. Kurz darauf sind die großen Amateure dran und dürfen sich mit einem öffentlichen Trommelkurs ein paar Rhythmen aus Afrika aneignen. Draußen auf den Straßen der für den Verkehr abgesperrten Innenstadt packen währenddessen Jongleure und Artisten aller Art ihre Utensilien aus und versuchen, die Passanten mit allerlei Varietéhaftem zu betören. Die Zeitungen sind voll mit Berichten von Konzerten und Features über die Künstler, überall floriert das Merchandising, in Boutiquen, Kaufhäusern, selbst die U-Bahn-Werbung bombardiert die Menschen mit den neuesten Nachrichten von der Place des Arts. Das Festival ist omnipräsent, kaum einer in der Stadt kommt an ihm vorbei. Und es gibt tatsächlich viel zu sehen. Ein Jahr nach dem 25-jährigen Jubiläum haben die Programmplaner wieder in die Vollen gegriffen und einen Musikmarathon zusammengestellt, der auf erfreuliche Weise die Waage zwischen Prominenz und Perspektive hält. Mehr als 500 Konzerte werden innerhalb von knapp zwei Wochen geboten, auf 20 Bühnen und mit geschätzten zwei Millionen Zuhörern. Drei Viertel dieser Events sind kostenlos und finden unter freiem Himmel statt. In knapp bemessenem Zeitplan kann man tagtäglich ab Mittag von einem Künstler zum nächsten pilgern, ohne sich auch nur eine Minute Pause gönnen zu müssen. Das Angebot der Open-Air-Konzerte ist enorm und bringt dem Publikum verschiedenste Stilistiken nahe. Die Tuaregs von Tinariwen zum Beispiel führen die Hörer in die Gefilde des Wüsten-Blues, ihre senegalesischen Kollegen von Ba Cissoko entfachen mit zwei Koras, Bass und Perkussion ein wunderbares Feuerwerk westafrikanisch popdurchzogener Melodien. Der Norweger Fredrik Lundin zeigt auf einer der großen Bühnen, was eine Party-Jazz-Brass-Harke ist, die Belgier von Soledad packen ihren besten Piazzolla aus und die Franzosen von Las Ondas Marteles erinnern sich musikalisch liebevoll an ihre Aufenthalte in Kuba. Zwischendurch gibt es dabei wirklich Großartiges zu erleben. Der Streel-Drummer Andy Narrell etwa präsentiert gemeinsam mit drei Kollegen aus Martinique und Guadeloupe ein derart mitreißendes Set aus Spielfreude, Virtuosität und karibischer Leichtigkeit, dass man sich fragt, warum diese Band nicht international als Headliner fungiert. In den Sälen und Theatern der Innenstadt wiederum tummelt sich die Prominenz und zeigt – auch hier erfreulich bunt in der stilistischen Auswahl –, wo der derzeitige Stand der improvisierenden Musik sein könnte. Das künstlerische Aufgebot ist wohldurchdacht. So kann man mit John McLaughlin, Marc Ribot, Pat Metheny, Bill Frisell und Béla Fleck eine Hand voll der international renommiertesten Saitenkünstler begutachten oder sich von Gonzalo Rubalcaba über Fred Hersch, Bobo Stenson, Geri Allen, Uri Caine, Hiromi und Bill Charlap bis hin zu Kenny Werner und Bugge Weseltoft einen Überblick über die Kunst des Klavierspiels verschaffen. Das Entertainment schlägt mit Paul Anka, Michael Bublé, Al Jarreau, Madeleine Peyroux oder auch Bobby McFerrin zu Buche und ein paar Legenden gibt es mit Dewey Redman, Charles Lloyd, Randy Weston oder Sonny Rollins ebenfalls zu erleben – wobei gerade letzterer sich erstaunlich unsouverän mit einem mittelmäßigen Sextett umgab und einem imaginären Konkurrenzdruck beugte, anstatt die potentielle Lässigkeit des Alters auf der Bühne auszukosten. Sei’s drum, die Musik beherrscht die Stadt, sie macht es auf bemerkenswert hohem Niveau, ohne sich anzubiedern. Damit schafft sie eine Basis des Verständnisses beim Publikum, das in auffallenden Enthusiasmus umschlägt. Nirgendwo sonst habe ich erlebt, dass Künstler durch die Bank ähnlich begeistert gefeiert werden wie in Montreal. Nachtrag: [em] hat Pech. Ihr Konzert ist ausgerechnet für den Abend angesetzt, als sich die Wolken über der Stadt entladen. Erst heißt es, der Auftritt sei komplett abgesagt. Als der Regen nachlässt, können sie doch noch spielen. Auch hier ist das gleiche Phänomen zu bemerken. Obwohl die Menschen unter Regenschirmen der Musik lauschen, feieren sie nachdrücklich die deutschen Gäste. Die können ja schließlich nichts für die Launen des Wetters. Und auch die zweite bayerische Band, die Rosenheimer Salonjazzer von Quadro Nuevo, wird von den Kanadiern ein paar Tage später mit viel Applaus empfangen. Fazit: Wer auch immer meint, Jazz sei eine Kultur für Minderheiten und folglich schwer vermittelbar, der soll sich einmal das Festival in Montreal gönnen. Er wird eines Anderen belehrt werden. Ralf Dombrowski |
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