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Was unterscheidet Jazz von (sonstiger) notierter Musik? Improvisiert wird ja auch andernorts, selbst in der E-Musik, von den klassischen Kadenzen bis zu den geradezu gebieterischen Freiheiten, die spätestens seit John Cage zum Standard-Repertoire der Avantgardisten gehören. Auch das Mit-Musizieren, das Hören auf den anderen, das Eingehen auf seine Ideen, das von ihm Gefühlte und Gewollte, ist das Erfolgsgeheimnis jeder Art von Musik, die mehr ist als Plastik, Pappe, Syntho-Sound. Was ist dann also Jazz, was ist das Distinktions-Merkmal, das Definiens? Die Antwort auf diese Frage fällt nicht leicht, denn Jazz ist längst (und war es vielleicht immer!) mehr als Nische, Genre, nämlich so etwas wie Ferment, das Salz der (musikalischen) Erde. Das heißt: „Jazziges“ ist auch da drin, wo nicht unbedingt Jazz drauf steht. Ein Beispiel, das eher fern liegt und das vielleicht gerade deshalb weiterhilft. Grateful Dead-Konzerte waren drei Jahrzehnte lang, bis zum Tod von Jerry Garcia vor allem eins: lang, sehr lang. Und noch eins: sehr, sehr suggestiv. Es soll Leute gegeben haben, die alles daran setzten, kein einziges Konzert zu versäumen. Man nannte sie „Deadheads“. Und es gibt unzählige, mehr oder minder illegale, jedenfalls „fan-fulle“ Mitschnitte aller Dead-Konzerte. Was geschah da? Immer dasselbe, immer ein wenig anders. Die Songs waren nur Vorlage, ihre Themen, Motive, Strukturen wurden live nicht einfach nur gedehnt, sondern „versucht“, erprobt. Man hat Grateful Dead auch eine Drogen-Band genannt, man sprach von Acid-Rock. Es ging aber im psychedelischen Taumel ihrer Neverending-Performances nicht nur um Bewusstseins- und Gefühls-Erweiterung, sondern auch um die Frage: Was gibt ein bestimmtes Thema, und mag es noch so unscheinbar sein, „her“, was ist in ihm verborgen, wozu kann es führen, was kann aus ihm werden. Man könnte auch sagen: Die Haltung, mit der Jerry Garcia und Co. musizierten, war nicht „Pop“, sondern „Jazz“. Was aus einem Thema wird, werden kann, das war auch ein leitendes Interesse der E-Musik. Aber „Durchführung“, wie das dort gemeinhin heißt, ist etwas anderes als die Themen- und Motiverkundung im Jazz. Und wenn man den Unterschied benennen soll, dann sollte man nicht, wie es leider oft geschieht, an die „Freiheit“, gar die „Freiheit der Improvisation“ denken. Denn frei und aus einem intuitiven, undisziplinierten Augenblick geboren sind etwa auch die unseligen Exerzitien der großen Gitarren-Machos. Die Jazz-Erkundungen aber sind am aufregendsten, wenn sie nicht ausufern, sondern karg, lakonisch, „maskiert“ daherkommen. Ein Motiv, das wiederholt, in immer neuen Rollen-Spielen und oft sehr verborgen, „diskret“ auftaucht, ist mehr als nur der möglichst hemmungslose Ausdruck eines „intensiv“-selbstverliebten Subjekts. Am deutlichsten wird das vielleicht dort, wo Musik vordergründig
nicht autonom, auch nicht frei, sondern funktional ist, im Dienst einer
Erzählung steht, also bei Film-Soundtracks beziehungsweise Zuschauer, Musiker, natürlich auch Filmemacher haben die Macht dieses Motivs erfahren – und sie spielen mit ihm. Schon Woody Allens große Liebes-Tragikomödie der 70er Jahre handelt nicht nur von einer virtuellen Begegnung mit dem großen „Bogey“, der ihm die eigenen Liebesmöglichkeiten verstellt, solange man sich an ihm orientiert, sondern vor allem auch von dem, was alles in einem Lied verborgen sein kann. Und selbst noch in einem Psychothriller wie Bob Swaims „Masquerade“, in dem es um den Verrat in allen seinen Varianten geht, taucht, wie von selbst, variiert und wie hingetupft, aber äußerst wirksam, dieses „As time goes by“-Motiv auf. Jazz, könnte man sagen, ist der Transfer eines Themas – und der Erfahrungen, Gefühle et cetera, die an ihm haften – durch alle seine Veränderungen hindurch. Helmut Hein |
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