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Technik liegt hinter ihm. Das heißt nicht, dass er sie nicht mehr zu trainieren bräuchte. Joachim Kühn ist ein harter Arbeiter. Einen Tag ohne Üben, ohne Klavier zu spielen, kann er sich nicht vorstellen. Oft werden es viele Stunden, bis in die Nacht hinein, im Refugium, in seinem Haus auf Ibiza. Schon als Kind hat er Konzerte gegeben, in jener Stadt, in der er 1944 geboren wurde und in die er nach all den Jahren, die ihm das nicht möglich war, schließlich immer wieder gern zurückgekehrt ist: Leipzig. Aufgewachsen in der musischen Atmosphäre des Elternhauses, früh angehalten zu klassischem Klavierunterricht, konfirmiert in der Thomaskirche, vertraut mit der europäischen Klassik, aber auch mit der Professionalität des Artisten in Gestalt seines Vaters, für den Jazz begeistert durch seinen älteren Bruder Rolf, den international renommierten Klarinettisten. Mit siebzehn Jahren fasste er den Entschluss, Jazzmusiker werden zu wollen. Weil ihm die DDR zu eng wurde, spielte und lebte er vorübergehend in Prag und in Warschau.
Joachim Kühn erschloss sich musikalisches Neuland, spielte bereits frei, bevor sich in Europa der Free Jazz Bahn brach. Anfang bis Mitte der sechziger Jahre ließ er im Trio mit dem Bassisten Klaus Koch und dem Schlagzeuger Reinhard Schwarz die amerikanischen Standards hinter sich. Beeindruckt von Pianisten wie Horace Silver und Bobby Timmons merkte er bereits damals, dass eine Kopie gar nichts bedeutet. 1966 bekam er eine Einladung zu einem von Friedrich Gulda veranstalteten Wettbewerb für junge Jazzmusiker nach Wien. Die Dame von der Künstleragentur der DDR, die ihm die Genehmigung besorgte, ahnte, dass er nicht zurückkommen würde und in die Welt musste, um sich entwickeln zu können. Heute organisiert sie wieder Konzerte, und auch solche mit Joachim Kühn. Nach der Ankunft im Westen ging es zunächst weiter wie im Bilderbuch. Noch im gleichen Jahr, 1966, spielte Joachim mit seinem Bruder bei den Berliner Jazztagen und beim Newport Festival in den USA. Bob Thiele, Produzent des Labels Impulse, fragte ihn, ob er Interesse hätte, eine Platte mit Jimmy Garrison, dem ehemaligen Bassisten von John Coltrane, aufzunehmen. „Ja wann denn?“ Und Thiele antwortete: „Wie wär’s denn am Donnerstag.“ Von 1968 an wohnte Joachim Kühn in Paris, wo er mit Gato Barbieri, Don Cherry und Jean-François Jenny Clark spielte, die er bereits 1965 beim Jazzfestival in Prag kennen gelernt hatte. Damals nach dem Konzert, in einer denkwürdigen Nacht-Session, sagt Kühn, sei er bei denen „eingestiegen“. Er habe sofort gemerkt, dass er in diese Richtung gehen wolle. In Paris entstand das Trio mit dem Bassisten Jean-François Jenny Clark und dem Schlagzeuger Daniel Humair. Eine musikalische Dreierbeziehung mit traumwandlerischer Souveränität. Rund drei Jahrzehnte haben sie gemeinsam gespielt, in einem Trio, das für den europäischen Jazz Maßstäbe setzte. 1998 passierte das Schreckliche, das sich angekündigt hatte und das keiner wahr haben wollte: J.-F., wie er von seinen Freunden genannt wurde, starb an Lungenkrebs. Wenige Monate zuvor entstand das Album „Triple Entente“, eine der besonders starken und beeindruckenden Aufnahmen mit dem Trio, das neben vielen Variablen über weite Zeiträume zu den Konstanten im Leben des Pianisten zählte. Anfang der siebziger Jahre begann Joachim Kühn, sich intensiv mit
elektrischen Keyboards zu beschäftigen und mit Gruppen wie der „Jean
Luc Ponty Experience“ und „Association P.C.“ zu spielen.
In der zweiten Hälfte der siebziger Jahre tauchte Joachim Kühn
in die Fusion-Szene der amerikanischen Westküste ein, wo man ihn
mit Musikern wie Alphonse Mouzon, Billy Cobham und Michael Brecker hörte.
Auch Joe Henderson war auf das Talent des Pianisten aus Deutschland aufmerksam
geworden und engagierte ihn für die Einspielung seines Albums „Black
Narcissus“. In Leipzig sprachen Ornette Coleman und Joachim Kühn auch über Bach. Kühn meinte, Bach sei so gewaltig, dass man den Interpretationen – zumal nach Glenn Gould – nichts mehr hinzufügen sollte. Und Ornette entgegnete, er, Joachim, solle es auf seine Art versuchen. Monate später saßen wir in der Wohnung des Thomaskantors Georg Christoph Biller zusammen und sprachen über ein dem Wortsinn nach kühnes Projekt: eine Begegnung des Pianisten mit dem Leipziger Thomanerchor. Von Anfang an stand fest: Es sollte keine Vermengung von Jazz und Bach werden, kein „Play Bach“, sondern eine von gegenseitigem Respekt getragene, behutsame Annäherung. Dank der großen Aufgeschlossenheit des Thomaskantors und der Bereitschaft des Pianisten, sich auf das Unerwartete und das Ungewohnte einzulassen, ist das Projekt Realität geworden und im Oktober 1998 im Rahmen der Leipziger Jazztage zur Uraufführung gelangt: Bach Now! Motetten und Improvisationen. In der überfüllten Nikolaikirche haben sie sich gegenseitig beflügelt: der von Biller geleitete Chor und Kühn am Piano. Mit Ornette Coleman und Bach in Leipzig, zu Hause in der Welt. Joachim Kühn spielt mit einem amerikanischen Trio in New York und mit einem europäischen auf dem alten Kontinent, nun mit dem Bassisten Jean-Paul Célea und dem Schlagzeuger Wolfgang Reisinger. Sein in New York mit Scott Coley am Bass und Horacio „El Negro“ Hernandez sowie Michel Portal und Chris Potter als Gästen aufgenommnes Album nannte der Pianist „Universal Time“. Längst geht es nicht mehr um die Abgrenzung des Europäischen, längst nicht mehr um die Überlegenheit des Amerikanischen. Es geht um die musikalische Kraft und die künstlerische Integrität von Persönlichkeiten. Joachim Kühn hat ein Stadium der Reife erreicht und ist doch ungewöhnlich offen geblieben für neue Begegnungen. Zugleich nimmt er Fäden wieder auf, die bis in die Kindheit zurückreichen und sich mit all den inzwischen gewonnenen Einsichten neu verknüpfen. Noch in diesem Jahr erscheint eine Duo-Platte Joachim Kühns mit seinem Bruder Rolf. Kühns musikalisches Denken und Empfinden dreht sich mehr und mehr um die pure Musik. Wie Ornette Coleman hat er ein eigenes musikalisches System entwickelt: „The Diminished Augmented System“. Was musiktheoretisch kompliziert anmuten mag, erweist sich als Medium für die unverstellte, die vorbehaltlose Mitteilung, als Weg der Verknüpfung von strukturellem Denken und spontanem Gestalten. Solches passiert beispielhaft im Solospiel – der Pianist völlig selbstvergessen und zugleich hochkonzentriert. Kreativität und Können, Wissen und Neugier fließen zusammen. Technik liegt hinter ihm. Bert Noglik
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