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Jazzzeitung
2003/09 ::: seite 16
rezensionen
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Steve Lajoie: Gil Evans & Miles Davis 1957–62. An analysis of
selected Gil Evans works, advance music, Rottenburg, 429 Seiten.
Eine amerikanische Dissertation über
die wichtigste Periode der Zusammenarbeit der beiden großen Musiker –
an Gründlichkeit kaum zu übertreffen. Der Autor untersucht zunächst
in komprimierter Form die fünf Alben aus diesem Zeitraum („Miles ahead“,
„Porgy and Bess“, „Sketches of Spain“, „At Carnegie
Hall“ und „Quiet Nights“) und konzentriert sich dann auf vier
Titel („Blues for Pablo“, „New Rhumba“, „Bess, you
is my woman now“ und „Will o’ the wisp“. Er transkribiert
sie komplett, stellt zudem eine Amplitudengrafik mit Hilfe des Pro Tools Computerprogramms
her und analysiert dann mit einer ausgefeilten Methode, die acht Schritte umfasst:
1. Historischer Kontext, 2. Erstes Hören ohne Vergleich mit anderen Werken,
3. Detaillierte Analyse nach sechs Kriterien (Klang, Harmonie, Melodie, Kontrapunkt,
Rhythmus, Entwicklung) in drei Stufen (er nennt sie Large, Middle und Small Dimensions),
4. Zusammenfassende Klanganalyse, 5. Rolle des Werks innerhalb des Evans’
schen Kosmos, 6. Erneutes Hören unter allgemeinen Aspekten, 7. Anregungen
für Orchesterleiter, die dieses Werk aufführen wollen (!), 8. Kritische
Betrachtung der Ergebnisse der Analyse (Meta-Kritik). Dieses Buch ist ein Meilenstein
der analytischen Literatur des Jazz. Es animiert hoffentlich zu weiteren Untersuchungen
und bietet im übrigen jedem viele Anregungen, der musikwissenschaftlich arbeitet.
Hans Gruber (advance music) gebührt für die Herausgabe hohes Lob.
György Ligeti im Gespräch mit Eckhard Roelcke: Träumen Sie
in Farbe? Paul Zsolnay Verlag, Wien, 237 Seiten.
Jazzliebhaber sollten ab und
zu über den Zaun in das Gebiet der Neuen Musik schauen. Was dort passiert,
kann uns nicht gleichgültig sein, wenn es auch oft den Charakter des Konstruierten
und Überkomplizierten trägt. Das gilt aber sicher nicht für den
ungarischen Komponisten György Ligeti, der ein hochsensibler Klangkünstler
ist; mit Kompositionen wie „Atmosphères“ (1961), „Volumina“
(1962) und anderen nimmt er einen wichtigen Platz in der Musikgeschichte des 20.
Jahrhunderts ein. Ein hochgebildeter Denker und Fühler (ein in diesem Zusammenhang
ungebräuchliches Wort, ich weiß, aber es erscheint mir richtig und
wichtig), dem man gerne zuhört, denn er weiß viel und hat viel erlebt,
schon vor seiner Flucht 1956 nach dem ungarischen Aufstand. Er ist sehr kritisch,
auch gegenüber sich selbst, und äußert seine Meinung deutlich,
auch über vieles außerhalb der Musik. Er verachtet den Kommerz, weil
er durch und durch Künstler ist. „Meine tiefste Bewunderung gilt der
,Kunst der Fuge‘ von Bach und dem späten Beethoven.“ (S. 206)
Auch über politische Ereignisse urteilt er mit klarem Verstand. So sagt er
über den 11. September: „Was haben die islamistischen Extremisten damit
bezweckt ? Die Beschämung der westlichen Welt! Aber das ist kein Ziel an
sich… Es war einfach das Beleidigtsein einer naiv-gläubigen und total
verbohrten nationalistischen Gruppe. Das hätte auch eine andere Religion
als der Islam sein können.“ (S. 209) Ein spannendes Buch. Jeder sollte
es lesen.
Joe Viera
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