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Vor ein paar Jahren war alles noch so wundervoll simpel. Da gab es noch Grenzen. Unüberwindbare Grenzen. Es gab zum einen den Jazz: Alte Männer, in der Regel aus der gesellschaftlichen Oberschicht stammend, saßen mit geschlossenen Augen vor ihrer völlig überteuert gekauften High-End-Stereoanlage und schwelgten, ein überdimensional großes Glas Cognac als Zeichen der Dekadenz in der rechten Hand schwenkend, in auf Vinyl gepressten Erinnerungen an eine Zeit der musikalischen Hochnäsigkeit und Freiheit, die ihnen der sich immerwährend drehende Plattenteller wohl nie zurück bringen würde. Und da gab es die Anderen, die Jungspunde. Die statt Musik lieber Krach machten, erst mit lauten Gitarren, dann irgendwann laut bumpernd mit Computern und Synthesizern. Soweit die Klischees. Langweilig zwar, aber eben einfach, weil geklärte Fronten. Doch dann kam die Wende.
Wenngleich bei weitem nicht so ruckartig wie in der Weltpolitik begann ein Kreis mehr oder weniger junger Jazzer, ihr ganz persönliches Glasnost zu verwirklichen und schockte damit einige verstarrte Traditionalisten bis ins Gebein. Fing die Öffnung der Musik mit den ersten Coleman’schen Free-Jazz-Sessions in den 60ern an, fand sie wohl ihren vorläufigen Höhepunkt 1970 in den legendären „Bitches-Brew“-Sessions von Miles Davis, und auch heute ist noch nicht an ein Ende der Evolution des Jazz zu denken: allerspätestens seit John Scofields „Überjam“ sind wohl alle Zweifel ausgeräumt, dass die Grenzen zwischen dem Jazz und dem Rest der musikalischen Weiten endgültig gefallen sind. Endlich ist der Jazz dort angelangt, wo ihn Miles Davis nach Aussage von John Scofield immer sehen wollte: „He was always looking to take jazz to a new place“, sagt der Gitarrist über seinen früheren Mentor. Wobei im Grunde nur schwer auszumachen ist, wo dieser „new place“ liegen könnte. Denn die Öffnung des Jazz ging in alle Richtungen: Durch Miles in die Richtung des Rock und des Psychedelic, durch Kollaborationen wie der von Al Di Meola mit Paco De Lucia in die Richtung der Folklore und stellenweise sogar zurück in die Vergangenheit, wie es einige wenige Kritiker dem beinahe schon klassisch angehauchten Bestseller „Köln Concert“ von Keith Jarrett nachzusagen wagten. Ein universal anwendbarer Begriff für diese Vermischung der Stile war schnell gefunden: Fusion. Am „erfolgreichsten“ war jedoch die Öffnung hin zu funkigen Rhythmen und elektronischen Elementen. Eine Entwicklung, die zum einen recht reaktionär anmutet, wenn man bedenkt, dass in einem Großteil der Lexikonartikel das Wort „Tanz“ eine vorherrschende Position einnimmt, obwohl der bis dahin verbreitete Jazz an sich nicht wirklich tanzbar war. Zum anderen fand die Entwicklung zu einem „neuen“ Jazz aber auch seltsamerweise nicht erst mit der Veränderung der Musik selbst ihren Beginn, sondern schon mit der Verbreitung des „Rohmaterials“, den alten Aufnahmen aus den 60er- und 70er-Jahren. So begann 1992 der Hamburger „Mojo-Club“, unter dem Namen „Dancefloor Jazz“ Sampler mit tanzbaren Funk- und Jazz-Raritäten zu veröffentlichen, die sofort breiten Absatz unter den Musikfans fanden. Mit einem Mal war der bisher so ernste Jazz partyfähig geworden. Und als man sich dann entschied, neben den Samplern mit dem „echten“ Jazz auch Remix-Alben auf den Markt zu werfen, gab es kein Halten mehr: Alte Standards wurden allerorts auf Teufel komm raus gesampelt und verbraten, zuerst vornehmlich von HipHoppern – sogar das legendäre „Die da“ der deutschen HipHop-Pioniere „Die Fantastischen Vier“ basiert auf einem Stück der Coleman-Entdeckung und Sängerin Asha Puhtli –, mittlerweile aber auch von den Jazzern selbst. „Alte Big-Band-Arrangements sind unsere Inspiration, und so samplen wir auch alte Aufnahmen und bauen sie in unsere Stücke ein,“ rechtfertigt etwa Karl Frierson, Sänger der Heidelberger NuJazz-Formation „De-Phazz“, das regelrechte Raubschatzen der neuen Garde in den Truhen der alten Klassiker. Womit sich der Kreis vom elektronischen Sound hin zum „good old jazz“ wieder schließt, denn „De-Phazz“ nutzen auch auf der Bühne überwiegend Samples aus dem Computer, die sie dann mit Gesang und Posaune live verfeinern. Eine völlig andere Herangehensweise an ihre musikalische „Mutter“ legen dagegen die Stuttgarter „Orbit.Experience“ an den Tag. Die Band, bestehend aus Florian Dauner (dr), Markus Birkle (g), Markus Kössler (b, alle drei sind Mitglieder der Live-Band der „Fantastischen Vier“) und Sebastian Studnitzky (kb, tr, Trompeter etwa bei Joy Denalane) fabriziert einen Sound, der irgendwo zwischen Trip-Hop, Funk, Country und Jazz in keine Schublade passt. Obwohl Florian Dauner, dem Sohn der Komponisten- und Pianistenlegende Wolfgang Dauner, der Jazz buchstäblich in die Wiege gelegt wurde, möchte er sich als Musiker nicht auf diese Sparte festgelegt sehen. Seiner Aussage nach machen „Orbit.Experience“ ganz einfach Musik, einordnen „müssen das sowieso die Journalisten, damit das Publikum einschätzen kann, ob ihnen die Musik gefallen könnte oder nicht.“ Ä hnlich war wohl die Vorgehensweise des Nürnberger Allstar-Drummers Wolfgang Haffner, als er mit seinem Buddy und Kollegen Roberto Di Gioia das Projekt „Zappelbude“ ins Leben rief. Eine reine Spaßcombo, in der die beiden zusammen mit den Scales-Brothers Martin an der Gitarre und Patrick am Bass sowie Tony Lakatos und Johannes Enders an den Saxophonen und dem Rapper MLG, ihren jazzigen Hintergrund nutzen, um sich in Funk-, Disco- und HipHop-Beats austoben zu können. Allerdings ist die Grundlage der gesamten Musik immer noch das Zusammenspiel „echter“ Instrumente, auf Samples oder Ähnliches wird verzichtet. Die Band fabriziert damit dann genau die Art Sound, der dann von NuJazzern gesamplet wird, quasi ein nie enden wollendes Bausteinsystem. Diese sehr rohe Symbiose zwischen Jazz und kommerziellem Sound versucht auch Jerker Kluge, Initiator der Veranstaltungsreihe „Jazzkombinat“ im Münchner „Prager Frühling“, zu schaffen. Jeden Mittwoch bietet der Club ein Jazzkonzert mit anschließendem DJing an. „Das Ziel ist nicht, nur tanzbaren Jazz auf die Bühne zu bringen, sondern jungen Menschen Jazz näher zu bringen.“ erzählt der Mittzwanziger – selbst ein „junger Mensch“ – grinsend. Genügend junge Musiker gebe es laut Kluge ja, nur wäre eben der Jazz selbst in seinen Strukturen noch zu veraltet, um auch junge Nicht-Musiker zu überzeugen, und das gelte es, zu ändern. Neben „neuen“ Musikern ist somit auch ein neues Denken unter Produzenten, Labels und Promotern gefragt. Laut Jerker Kluge ist der Münchner Marcus Hacker da ein Hoffnungsträger. Mit seinem Label „Perfect Toy Records“ produzierte dieser beispielsweise kürzlich eine Remix-EP von Kluges Band Hipnosis, die schon vor Veröffentlichung – völlig jazzuntypisch – 700mal vorbestellt wurde. Ein anderes Beispiel für einen innovativen Produzenten ist der Berliner Volker Meitz, Mitglied in dem von Jazzanova initiierten „Sonarkollektiv“. Während seine Aufnahmen durch und durch elektronisch klingen, bringt er seinen Sound auf der Bühne mit Hilfe einer 8-köpfigen Band an den Mann, wobei die Übergänge zwischen den einzelnen Stücken, wie bei einem DJ-Set, fließend sind. Neben der Öffnung des Jazz selbst hin zum Rest der Musik spielte aber sicherlich auch die Tatsache, dass der Jazz immer besser von jungen Musikern akzeptiert wurde, eine große Rolle dabei, dass wir es heute oftmals mit einer Vermischung der Stile zu tun haben, die alle musikalischen Grenzen hinfällig zu machen scheint. Es bauen also mittlerweile nicht nur Jazzer neue Elemente in ihre Musik ein, auch ansonsten jazzferne Musiker wie beispielsweise der Techno-Papst Westbam oder der US-Rapper Eminem übernehmen traditionelle Gitarrenriffs im Wes-Montgomery-Stil. Ob das alles helfen wird, dem Jazz ein neues Publikum zu erschließen und ihn, um Miles Davis gerecht zu werden, „to a new place“ zu bringen, ist fraglich. Denn die Grenzen zwischen Innovation und Belanglosigkeit sind fließend. Aber alles, was dabei hilft, die Assoziation von Dekadenz und Cognacschwenkern vom Jazz zu nehmen, wird ihm ein dauerhaftes Überleben sichern. Sebastian Klug cd-tipps
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