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Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum. Sagt Nietzsche. Was er meint: Klang ist nicht nur die Würze, sondern die Essenz des Daseins. Das Ding an sich Kants; der zu sich gekommene Wille Schopenhauers. Der niemals abbrechende Sound der Seele, das Weltinnerste. Sein Gott sollte tanzen können. Aber zu welcher Musik? Zuerst verfiel Nietzsche der Welterlösungsunendlichkeit in Wagners Melodien, später entdeckte er in ihnen nur noch das Rauschen der Décadence, Stoff für Junkies. Die Alternative hieß jetzt Carmen: Passion, die sich nicht auflöst, sondern zuspitzt. Stierkampf statt Christus am Kreuz. Steigerung des Daseins und nicht Valium, das so tut, als sei es Himmelreich. Auch der Jazz war zuerst Marsch und Tanz, Begräbnis- und Hochzeits- und sogar travestierte Militärmusik. Ewiger Mittag selbst dort, wo es dunkel wurde. Bewegung sollte alles sein, auch permanentes inneres Schunkeln, Swing. Ohne es zu wollen wurde der Lebensform-Ästhetiker Nietzsche zum Vater der Kulturindustrie. Adorno, Chef-Theoretiker der neuen Musik, hasste Nietzsche. Und er hasste den Jazz. Aber es war der Dixie- und Swing-Jazz der Tanzpaläste und frühen Massenmedien, den er hasste, der lügenhafte Feierabendsound der entfremdeten Verhältnisse und der zugerichteten Menschen, die klingend-trügerische Begleitmusik der realen Hölle. Nach dem Krieg begann der neue Jazz, der nicht mehr Kompensation, sondern Rebellion war, Anstiftung zur Unruhe. Nicht der kleinste gemeinsame Nenner, sondern Erhöhung des Schwierigkeitsgrads. Die im Dunkeln sieht man nicht: Jazz wurde Underground, ging in die Keller. Charlie Parker, John Coltrane und Co. wollten nicht mehr tun, was jeder tut, sondern nur noch auf die exzessivste Weise kommunizieren. Ihre Kunst wurde gefährlich: Rausch und Rauschen. Sie rutschte weg vom Mainstream, an die Peripherie, manchmal auch über den Rand. Am Ende der Verausgabung blieb nur Leere, das weiße Rauschen. Himmels- und Höllen-Musik, nicht frei von Hysterien. Manchmal blieb der Leib auf der Strecke. Du musst dich gegen den Rhythmus bewegen, sagt der Modefotograf den jungen Mädchen in Antonionis „Blow up“. Die mystische Erfahrung gab es in zwei Varianten: Als Kakophonie. Und als Stille. Das Label ECM mied von Anfang an hektische Ausbrüche und Abstürze. Expressivität gab es bei ECM nur in der kostbarsten Form, als Annäherung ans Verstummen. ECM-Musik blieb dabei stets beides: Daseins-Design und mönchische Meditation. Ausgangspunkt war eine Erfahrung, die bereits Nietzsche formulierte und die später zum Grundsatz der skeptischen Nachkriegs-Anthropologie wurde: Der Mensch ist das nicht festgestellte Tier. Er kann sich weder auf seine Instinkte noch auf seine Umwelt verlassen, er ist welt- und zukunftsoffen. Seine Triebe sind nur Rohstoff. Erst in der Kunst erhalten sie ihre Form. Der Tango zum Beispiel drückt unsere Leidenschaften nicht aus, er modelliert sie. Im Tango ist die unbezähmbare Natur reines Artefakt, ein hochinfektiöses kulturelles Phantasma. Der große Crooner Carlos Gardel verwandelte die Passionen noch in Sehnsuchtsklischees, aber spätestens seit Astor Piazzolla kümmern sich die großen Virtuosen nicht mehr so sehr um dramatische Auftritte in Vorstadt-Kneipen oder -Kinos, sondern um eine haltbare Architektur der Seele und um Choreographien für den Kampf der Geschlechter. In den Konzertsälen der klassischen Musik erscheint Piazzolla als sublim. Und Bruckner im Vergleich als Urgewalt, als Dionysos in der Maske des Predigers. Auch Dino Saluzzi, der härtere, düsterere Piazzolla-Rivale, tritt längst mit Streichquartetten auf, hat keine Scheu vor der Konfrontation mit dem klassischen Repertoire. Auf „Responsorium“ (ECM 1816) beschränkt er sich auf eine Trio-Besetzung (Bandoneon, Kontrabass, akustische Gitarre), er muss nicht, was auch sehr „sexy“ sein kann, gegen eine festgefügte Formation und Tradition anspielen, sondern komponiert äußerst reduzierte, fast schon „stille“ existentielle Etüden, die, was zu den Paradoxien des neueren Tango gehört, durch Verzicht und Zurückhaltung die psychische, auch die erotische, „tänzerische“ Intensität fast bis zum Brechen (der Kodes, der Körper) steigern. Anouar Brahems Trio-Platte „Le pas du chat noir“ (ECM 1792) ist in anderer Weise paradox. Der versierte Oud-Spieler hat zunächst auf dem Klavier komponiert, sein eigenes Instrument fast aus dem Blick verloren und schließlich in den endgültigen Arrangements dem Knopfakkordeon Jean-Louis Matiniers eine dominierende, manchmal beinahe exzentrische Bedeutung verliehen. Brahems Album, das deuten auch die Bilder des Beihefts an, ist Wüsten-Musik, ein Versuch, dem Ausdruck zu verleihen, was selbst stumm ist: ein Rauschen der Realität, ohne alles Getöse. Fast noch stummer, betörender ist Yves Roberts „In Touch“ (ECM 1787), dessen Posaune sich äußerst fremdartig, unerhört der Zärtlichkeit und Zerbrechlichkeit der Welt annähert; beider Welten, müsste man sagen, der seelischen, die immer dichter und labyrinthischer wird und dem ständigen Rauschen der Realität, das durch den Spielenden hindurchflutet und seine akustischen Spuren hinterlässt. Das Mystische, als Meister Eckhartsches „Leer werden von allem Leeren“ und, gesteigert noch, als reine, pure Leere, als Klang nah am Verstummen, als hitzigster und (doch, deshalb) vollkommen disziplinierter Ausdruck, ist Thema all dieser wunderbaren Alben, am drastischsten, also am stillsten und in der Stille am suggestivsten aber in den „Sofienberg Variations“ des Christian Wallumrod Ensembles (ECM 1809); fast hat man eine heilige Scheu es auszusprechen, dass manchmal, und nicht in den schlechtesten Momenten, nichts so „entertainend“ ist wie reine Exerzitien. Helmut Hein |
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