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Jazzzeitung
2002/06 ::: seite 13
portrait
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Die Münchner Multiinstrumentalistin Beate Kittsteiner ihr Hauptinstrument ist die Flöte
gehört zu den vielseitigsten Musikerinnen der deutschen Jazz-Szene. Sie ist eine originelle Komponistin und Improvisationskünstlerin
fließender melodischer Linien, deren klassische Ausbildung, jazzige Neugier und tiefes Verständnis unterschiedlichster
Stimmungen, Rhythmen und Skalen aus aller Welt zu einer unverwechselbaren Tonsprache geführt haben. Auf Guajira
For My Moods und Pentalud, den Alben ihres International Jazz Quintetts, spielen auch lateinamerikanische
Musikformen eine große Rolle. Mit ihrer neuen Formation Tocando widmet sie sich nun ganz dem Choro.
Darüber unterhielt sich die Künstlerin mit Marcus A. Woelfle.
Jazzzeitung: Der Choro entstand, als Brasilianer begannen europäische Modetänze wie Walzer, Polka
und Schottisch zu brasilianisieren. Nun kommst du als Europäerin auf den Choro zurück. Wie bist du als Deutsche
auf den Choro gestoßen, eine Musikform, die vor 100 Jahren in Brasilien populär war und selbst dort wohl
ziemlich in Vergessenheit geraten ist?
Beate Kittsteiner: Im Jahr 1980 hörte ich in einem New Yorker Jazzclub den Flötisten Lloyd McNeill,
der dort den ersten Choro gespielt hat, den ich je in meinem Leben gehört habe. Fünf Jahre später traf
ich ihn zufällig in München wieder. Erstaunlicherweise konnte er sich an mich gut erinnern, obwohl wir in
New York kein einziges Wort wechselten. Er wusste sogar noch, dass ich belgische Zigaretten rauchte. Seit dem sind
wir gute Bekannte und er hat mir viel über seine Erfahrungen in Brasilien erzählt, wo er eine Weile gelebt
hat. (Später nahm ich seinen Choro für meine erste CD auf.) Das war der Auslöser für
eine intensive Beschäftigung, die meine Begeisterung für den Choro wachsen ließ. Mein Verständnis
für brasilianische Musik und deren Interpretation vertiefte sich durch eine über zehnjährige Zusammenarbeit
mit der Grupo Veneno Brasil. Borel de Sousa, der Percussionist dieser Band spielte übrigens dann auch in meinen
Jazz-Bands und jetzt in meiner Choro-Gruppe. Ich glaube, dass viele heute nicht mehr wissen, was Choro ist. Er entstand
um 1870 in Rio de Janeiro, einem Schmelztiegel der Kulturen. Hier lebten Einwanderer aus allen möglichen europäischen
Ländern, die von ihrer Heimat ihre musikalischen Traditionen und Tänze mitgebracht hatten. Dazu kamen Einflüsse
der inzwischen freien schwarzen Sklaven. In der Vermischung musikalischer Elemente entstanden die typischen synkopierten
rhythmischen Figuren und die fast europäisch anmutenden Harmonien. Die so entstandene Musik ist filigraner als
die Samba, die später den Choro in der Publikumsgunst verdrängte und heute international bekannter ist.
Jazzzeitung: Choro wird in seiner Bedeutung für die spätere brasilianische Musik oft mit Ragtime
und seiner Bedeutung für den Jazz verglichen. Der ältere Choro steht noch der klassischen Musik näher,
der spätere dem Jazz. Worin besteht der Reiz des Choros für eine Jazzmusikerin wie dich?
Kittsteiner: Bei vielen heute aktuellen Musikformen findet eine Reduktion auf wenige Elemente statt. Melodie
spielt dabei schon kaum mehr eine Rolle. Choro aber besticht durch seine wunderbaren, weit geschwungenen Melodiebögen
und überraschenden Harmoniewechseln. Außerdem kann ich bei dem Rhythmus nicht still sitzen.
Jazzzeitung: Ja, er swingt, obwohl es kein Jazz ist. Ursprünglich wurde im Choro wenig improvisiert;
später änderte sich das. Wie sieht das bei dir aus?
Kittsteiner: Der Reiz beim Choro ist, dass die Themen erst gespielt, dann variiert werden, was der Improvisation
im Jazz nahe kommt. Die Solisten werfen sich die Melodien gegenseitig zu und jeder versucht den anderen zu übertrumpfen,
bis einer nicht mehr mitkommt. Viele der alten Choros haben ja auch Titel, die das Improvisationselement beinhalten,
etwa Caíu, não disse? (Habe ich es nicht gesagt, dass er stürzen würde?) oder
Cuidado, colega (Vorsicht, Kumpel). Bei meinen Improvisationen versuche ich den brasilianischen Charakter
beizubehalten.
Jazzzeitung: Spielt ihr Choros in der klassischen Besetzung oder hast du dich für eine typische Jazzbesetzung
entschieden?
Kittsteiner: Die Originalbesetzung ist eigentlich Flöte, Gitarre und Cavaquinho. Später wurden in
den 20er-Jahren die typischen Perkussionsinstrumente hinzugenommen, wie etwa das Pandeiro (Schellentamburin), Reco-Reco
(Guiro aus Metall) oder ein kleines Surdo (tiefe Standtrommel). Außerdem kam zum Cavaquinho (eine kleine Gitarre)
die siebensaitige Gitarre hinzu, die ein besseres Spielen von Bassläufen ermöglicht. Ich habe mich für
eine Mischung entschieden: Ich selbst spiele Flöte und Altsaxophon. Dazu kommen Gitarre, Cavaquinho, Percussion
und ein Kontrabass.
Jazzzeitung: Wer sind deine Vorbilder? Klassiker wie der Flötist Pixinguinha oder jüngere brasilianische
Vertreter des Choro?
Kittsteiner: Der Flötist Altamiro Carrilho ist für mich ein großes Vorbild, natürlich
auch Pixinguinha, dessen Musik ebenso frisch wie emotional berührend ist. Ich verehre auch alte Meister wie Waldir
Azevedo (Cavaquinho), dessen Komposition Brasileirinho so bekannt geworden ist.
Jazzzeitung: In den letzten zehn Jahren gab es immer wieder Wellen, die bestimmte lateinamerikanische Musikformen
international populär machten. Das gelang vor allem mit argentinischem Tango und brasilianischem Son. Kannst
du dir so etwas beim Choro auch vorstellen?
Kittsteiner: Natürlich kann ich mir das vorstellen und will auch dazu beitragen. Ich möchte, dass
die ganze Welt meine Liebe für Choro teilt!
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