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Mit der 36. Ausgabe der Leipziger Jazztage kann man guten Gewissens von einem traditionsreichen Festival reden. Obwohl, mit Tradition im ursprünglichen Sinn hat es wenig gemein. Hat sich das Festival doch von Anfang an dem zeitgenössischen und Avantgarde-Jazz verschrieben. Erst in den letzten Jahren öffnete es sich auch anderen Genres. Rhythmische Texturen der Popmusik einschließlich Computer-Technik und Synthesizer sind heute, wie auf fast jedem anderen Jazzfestival, auch in Leipzig zu finden. Die Genres diffundieren mehr und mehr, was nicht jedem gefällt. Der Wahl-Leipziger Richie Beirach, Jazzpianist aus New York und Klavierprofessor an der HfM Leipzig, äußerte in einem Radiointerview, dass Jazzfestivals von ihrer eigentlichen Aufgabe abweichen und dass er sich wünschen würde, auf Jazzfestivals ausschließlich Jazz zu hören. Wenn auch andere Genres angeboten würden, müsste das kommuniziert werden. Doch dann relativiert er und meint: „Wenn es nur reine Jazzfestivals gäbe, würde es finanziell nicht funktionieren“. Thärichens Hendrixperience Orchestra feat. Annamateur in der Oper Leipzig. Foto: Hendrik Teichmann Stefan Heilig, künstlerischer Leiter der Leipziger Jazztage, ist da anderer Meinung. Jazz lebe von Toleranz und lasse Neuentdeckungen zu. Deshalb habe sich das Festival auch dem Pop geöffnet. Zudem sei Popmusik in Verbindung mit Jazz so kraftvoll, dass sie oft nur von Jazzmusikern gespielt werden könne. Bestes Beispiel dafür sei Sophie Hunger, die Songwriterin und Sängerin aus der Schweiz, deren Konzert einer der Höhepunkte des diesjährigen Festivals war. Während beim 35. Festival im vergangenen Jahr „Mahler und Miles“ im Mittelpunkt standen, war das diesjährige Festival unter dem Motto „Cool Experience“ wieder zwei Jubiläen, diesmal der Jazz- und Popgeschichte, gewidmet: dem 100. Geburtstag des legendären kanadischen Komponisten und Pianisten Gil Evans, Wegbereiter des Cool Jazz, sowie dem 70. von Jimi Hendrix, Ausnahmegitarrist und Gründer von The Experience. Beide waren nie gemeinsam auf einer Bühne zu erleben, obwohl eine Zusammenarbeit zwischen Evans und Hendrix geplant war. Der frühe Tod Jimi Hendrix‘ verhinderte dieses Projekt. Möglicherweise war das der Anstoß für die Organisatoren der Leipziger Jazztage, beide Genies nicht nur in der Wortwahl „Cool Experience“, sondern auch auf der Bühne zu vereinen. Auf 11 Podien, vom kleinen wie die Kulturkneipe Horns Erben bis zur großen wie die Oper Leipzig, waren an 9 Tagen 23 Bands zu erleben, die sich mehr oder weniger mit Evans und Hendrix auseinandersetzten. Auf dem Programm, das sich hören lassen konnte, standen insgesamt 110 internationale Musiker. Bereits in der ersten Woche, vor den eigentlichen Hauptkonzerten im Opernhaus, konnte sich das Publikum vom Konzept der Festivalmacher überzeugen: stilistische Grenzüberschreitung. Am extremsten war wohl der Abend in Leipzigs soziokulturellem Zentrum WERK II. Drei Bands, Ye:Solar, Mouse on Mars und Sevensol & Bender, gaben dort eine schweißtreibende Show, die an Lautstärke nicht zu übertreffen war. Ganz im Gegensatz dazu das Konzert von Tonalrausch & Friends in der Reformierten Kirche, das dem 70-jährigen Paul McCartney gewidmet war. Wie jedes Jahr kamen auch die Kleinsten auf ihre Kosten. Mit dem Projekt „Jazz Miez Klassik“ hat die Band um die Organistin Christiane Bräutigam alte Volkslieder in ein neues, jazziges Gewand gesteckt. Sie begeisterte damit das jüngste Publikum und brachte sie mit Hilfe des Chores der Grundschule Forum Thomanum zum Mitsingen und Mitmachen. Die größte Resonanz lösten während der Leipziger Jazztage die drei Konzert-abende in der Leipziger Oper aus. Gleich am ersten Abend im ehrwürdigen Haus brachte die WDR Big Band gemeinsam mit der italienischen Vocalisten-Artistin Diana Torto zwei Urgesteine des Jazz auf die Bühne: den legendären John Taylor am Piano und Special Guest Lee Konitz. Beide musizierten dereinst mit Gil Evans, der gemeinsam mit Konitz Ende der 40erJahre den Cool Jazz aus der Taufe hob. Taylor, der zwei Tage vor dem Leipziger „Celebration“-Konzert seinen 70. Geburtstag feiern konnte, schrieb eigene Arrangements und Stücke für die WDR Big Band. Die brillierte mit Präzision und professioneller Souveränität. Das Konzert wurde live auf WDR2 und MDR Figaro übertragen. Wie gegensätzlich das Programm der Leipziger Jazztage gestaltet war, konnte man besonders an diesem Abend kompakt erleben. Die Schweizer Sängerin Sophie Hunger folgte auf die WDR Bigband und zog das Publikum im ausverkauften Opernhaus in ihren Bann. Sensibel und mit unbändiger Energie stellte sie die Songs ihres neuen Albums „The Danger Of Light“ vor. Hunger und ihre Band bewegen sich zwischen Blues, Rock, Jazz und Soul. Der mit Spannung erwartete letzte Abend im Opernhaus enttäuschte das Publikum nicht. Der legendäre Coltrane-Nachfolger Dave Liebman und die junge Schweizer Band VEIN stellten ihre neue CD „Lemuria – Live“ vor. Erstaunlich, wie wunderbar eine europäische Band und ein amerikanischer Superstar harmonieren können. Der weltweit gefeierte Solo-Cellist Jan Vogler, durch sein Moritzburg-Festival bekannt für seine Experimentierfreude, zeigte dem Publikum, wie Jazz-kompatibel Komponisten wie Bach oder Lutoslawski sind. Die Interpretation der Cellosuite Nr. 3 beziehungsweise der Sacher-Variationen zeigten, wie sehr sich Vogler vom Jazz inspirieren lässt. Höhepunkt des Konzerts waren aber Steve Reichs Cello Counterpoint und Jimi Hendrix‘ Maschine Gun. Schade, dass hier seine Mitstreiter „nur“ über Zuspielband zu erleben waren. Eine ausgesprochene Hendrix-Evans-Celebration lieferte Nicolai Thärichen am späten Abend. Er beschäftigte sich bereits in seiner Diplomarbeit mit Gil Evans und Stilparallelen in seinen Arrgangements sind unüberhörbar. Was lag da näher, als den Pianisten, Komponisten und Arrangeur mit dem diesjährigen zentralen Projekt zu beauftragen. Thärichen‘s Hendrixperience Orchestra feat. Annamateur wurde also ins Leben gerufen – ohne Gitarre! Die wurde ganz bewusst durch ein Cello ersetzt und der furiose Stefan Braun genoss seine Soli. Den lyrischen Part übernahm die Dresdner Sängerin, Liedermacherin und Kabarettistin Anna-Maria Scholz alias Annamateur. Sie haucht ihre eigene Nachdichtung von „Wind Crys Mary“ ins Mikrofon und lässt eine Ballade daraus werden. Im nächsten Moment, beim Titel „If 6 was 9“, gerät sie mit dem Saxophonisten Ulrich Kempendorff in einen Schlagabtausch, der nicht nur aufhorchen, sondern auch schmunzeln lässt. Das gelungene Experiment von Nicolai Thärichen war im wahrsten Sinne des Wortes einmalig, und einzig in Leipzig zu hören – leider! Barbara Lieberwirth |
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