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Schnipp, schnipp, „Doo Wop, doo whow, doo dee…“, schnipp, schnipp. Aus dem Off klingt hardboppender Scat und groovendes Fingerschnippen. Eine vibrierende Altstimme füllt den Raum, bevor eine dunkelhaarige, attraktive Sängerin mit antiquiertem Rollkragenpullover, flachen Schuhen und enger, am Knöchel geschlitzter Hose ins Bild rückt. Schwarzweiß und in einer Dekoration, die umstandslos in die frühen 60er-Jahre versetzt und das altmodische Outfit erklärt, erlebt der Zuschauer einen TV-Auftritt von Inge Brandenburg. Cool swingend, von Schlagzeug und einem Tänzer begleitet, die der expressiven Szene auf einem skurrilen Podest ungewollt einen Zug ins Komische geben. Unterbrochen wird der nostalgische Anblick von kurzen Statements eines Personals, das dem Filmporträt seinen dokumentarischen Wert und eine hohe Authentizität verleiht: Emil Mangelsdorff, die einstige Grand-Prix-Sängerin Joy Fleming, Konzertveranstalter Fritz Rau, Klaus Doldinger und Schlagerstar Udo Jürgens, der kürzlich seinen 77. Geburtstag feierte. Letzterer attestiert „Deutschlands Jazzsängerin Nr. 1“ ganz unverhohlen und mit aufrechter Bewunderung: „Sie war das, was man eine kompromisslose Jazzsängerin bezeichnet…“. Inge Brandenburg, im Februar 1929 in Leipzig geboren, fünf Tage nach ihrem Geburtstag 1999 in München gestorben, war noch mehr – lebensgierig, fordernd und begehrend, nach Anerkennung dürstend, liebestoll, erregbar, voller Wut, unbeherrscht, aggressiv und maßvoll enttäuscht. Eine Künstlerin, von Kollegen geschätzt und anerkannt, von Musikverwertern zurechtgebogen und rundweg fehlbesetzt, weil man ihr künstlerisches Potential missachtete, ignorierte, geringstenfalls komplett falsch einschätzte. Und weil sich im Laufe der wechselvollen Karriere von Brandenburg Plattenbosse beleidigt zurückzogen oder zuwenig Eier in der Hose hatten, sich mit einer unbequemen und ganz sicher auch oft unangenehmen Frau auseinanderzusetzen. Filmemacher Marc Boettcher verschafft der heute fast Vergessenen mit der knapp zweistündigen Dokumentation „Sing! Inge, Sing! – Der zerbrochene Traum der Inge Brandenburg“ späte Anerkennung. Ganz en passant ist ihm bei dieser Spurensuche ein aufschlussreicher Einblick in die gesellschaftliche Realität eines Frauendaseins der ersten Nachkriegsjahrzehnte gelungen. Boettcher geht sehr sorgsam und aufmerksam an den Gegenstand seiner beruflichen Neugierde heran. Mit Fotos und schriftlichen Dokumenten, Filmausschnitten, begleitenden Kommentaren von Freunden, Bewunderern und Kollegen, mit zeitgeschichtlichen Bezügen und Zusammenhängen setzt er ein facettenreiches Porträt zusammen, das überraschend ehrlich wirkt – auch miese, dunkle Seiten und Lebenskapitel nicht schönt oder glättet – und imstande ist, Sympathie zu wecken. Für eine Frau und Musikerin, die alles andere als ein einfaches Leben hatte. Die schon als Kind schreckliche, traumatisierende Erfahrungen machen musste und sich trotzdem nicht unterkriegen ließ. Ausgelöst hat diese vierjährige und sicher oft mühsame Spurensuche ein Fotoalbum, das der Sammler Thomas Rautenberg auf einem Münchner Flohmarkt entdeckte. Die dort gefundenen Autogrammkarten Brandenburgs spornten ihn zu weiteren Nachforschungen und zur Kontaktaufnahme mit Boettcher an. Oft waren es nur Fragmente, Bruchstücke, die unter anderen Namen in Archiven abgelegt waren und nur durch Zufall gefunden und nutzbar gemacht werden konnten. Aus frühen Interviews begleitet Brandenburg den Zuschauer als Erzählerin durch ihr eigenes Leben und lässt einen an ihren Hoffnungen, Träumen und Enttäuschungen teilhaben. Beinahe unheimlich wird es an einigen, geschickt montierten Stellen des Films, an dem die „neue Billie Holiday“ (Time Magazine) mit Jazzsongs quasi eigene Erfahrungen kommentiert – vermutlich nur für uns im Rückblick so erkennbar. Eine lieblose Kindheit und der Abtransport und Tod beider Elternteile durch die Nazis hatten ebenso tiefe Wunden in die Kinderseele der kleinen Inge geschlagen wie die Trennung von den Geschwistern und das gewalttätige Aufwachsen in einem geschlossenen Heim. Später gelang es ihr, in Augsburg Klavierstunden zu nehmen und mit einem Tanzorchester durch die 50er-Jahre zu tingeln. Ein mehrmonatiges Gastspiel in Schweden brachte endlich gebührende Anerkennung und der Titel „Beste Jazzsängerin Europas“ beim Jazzfestival Juan-les-Pins in Südfrankreich den Durchbruch. Wie die damit einhergehenden Erwartungen und Zukunftsaussichten sich trotz Plattenverträgen und der Arbeit mit guten Bands und Musikern nach und nach zerschlugen und den späteren Absturz einleiteten, arbeitet das Porträt mit großem Respekt heraus. Boettcher gelingt es, diesen von extremen Erfahrungen gezeichneten Charakter einer komplexen und durchaus diskrepanten Persönlichkeit behutsam herauszuarbeiten – und dabei durchgehend ihre Würde zu wahren. Ganz nebenbei läuft eine kleine Kulturgeschichte der populären Musik im Nachkriegsdeutschland ab – mit Auftritten Charlie Antolinis, Peter Herbolzheimers, der eigene Lieder Brandenburgs vertont und arrangiert hat, der Liedermacherin und Freundin Joana, mit Max Greger, Wolfgang Dauner, dem Musikredakteur Siegfried Schmidt-Joos und Dusko Gojkovich, mit Knut Kiesewetter, Paul Kuhn und der Tante Charlotte Mehlhorn – die Einblicke ins familiäre Umfeld ermöglicht. Die Auszeichnung des ausgesprochen interessanten Filmporträts mit dem „Prädikat wertvoll“ spornt vielleicht einige Nachkommen der jazzignoranten Nachkriegszeit an, neugierige Blicke in die Musik- und Kulturgeschichte ihrer Eltern zu werfen. Es lohnt sich! Michael Scheiner Infos: CD mit Songs aus dem Film bei silverspot-records.com (siehe auch
unsere Rezension auf S. 15 dieser Ausgabe!) |
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