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Da er von Geburt an wegen extremen Kalziummangels an der seltenen Glasknochenkrankheit litt, war Michel Petrucciani nur einen knappen Meter hoch und konnte die Pedale nur dank einer speziellen Vorrichtung benutzen. Die Osteogenensis imperfecta hatte auch zur Folge, dass er auf sich aufpassen musste, buchstäblich wie auf ein rohes Ei, denn jede Ungeschicklichkeit konnte fatale Folgen haben. Mit Fleiß und Willenskraft, vor allem aber dank einer einzigartigen Begabung, konnte er alle Schwierigkeiten überwinden. Der Sohn eines sizilianischen Gitarristen verdiente sich seine ersten Sporen zunächst in der Familienband seines Vaters Tony. Die Sanglichkeit seiner Musik hat er im Gespräch mit JazzZeitungs-Autor Bert Noglik auf sein „italienisches Herz“ zurückgeführt: „Wir singen viel und sind vielleicht ein bisschen glücklicher, das liegt wohl im Blut.“ Bei Kenny Clarke wurde er mit 15 Profimusiker. Er hatte schon mit Clark Terry gespielt, als er in die Musikmetropole Paris zog. Zu seinen ersten Weggefährten gehört auch Lee Konitz, doch Charles Lloyd, in dessen Quartett er international bekannt wurde, gilt als sein Entdecker. In jener Zeit erinnerte sein Spiel auch an Keith Jarrett, der ja einst ebenfalls regelmäßig an der Seite Lloyds zu hören gewesen war. Obwohl er von 1989 bis 1992 ein Quartett leitete, in dem neben seinem Klavier der Synthesizer von Adam Holzman in Erscheinung trat, stets ein sensibler Duopartner war und viel im Trio musizierte, bleibt er vor allem als Solopianist unvergessen. Seit den 80er-Jahren war er unablässig zwischen Europa und den USA unterwegs. Als frustrierter Jet-Setter, der nie genügend Zeit für Musik, Familie, Essen und Schlafen habe, beschrieb sich Michel Petrucciani in einem seiner letzten Interviews. „Ich tröste mich dann, dass ich noch jung bin und noch viel Zeit habe.“ Zeit, eine Sinfonie zu komponieren, Zeit, nach jahrelangem Erfolg als Solopianist wieder im Trio zu musizieren. Als er dann doch erst 36-jährig in einem New Yorker Krankenhaus an Lungenentzündung starb, hatte er allerdings etwas erreicht, was nur wenigen Jazzkünstlern zu Lebzeiten vergönnt ist: Anerkennung nicht nur in Fachkreisen, sondern – zumal in Deutschland, wo er auch „Fernseh-Star“ war (Willemsens Woche) – eine Popularität bei Millionen Nicht-Jazz-Hörern, für die er (wie einst Satchmo oder Ella) den ersten oder gar einzigen Zugang zu einer Musik bedeutete, die für sie sonst nur ein Buch mit sieben Siegeln gewesen wäre. Wegen seiner Behinderung sprachen boshafte Zungen von einem Behinderten-Bonus. Doch gerade damit hätte man auch seinen Misserfolg begründet, hätte er serielle Musik oder Free Jazz gespielt. Er verkörperte jedoch die romantische Seite des modernen Mainstream-Pianos. Wie einst Chopin spielte sich der französische Tas-tenartist mit einer Mischung aus atemberaubender Virtuosität und unverhüllter Gefühlsinnigkeit, feinnerviger Lyrik und überschäumender Spiel- und Lebensfreude in die Herzen der Menschen. Welch stimmige Symbolik, dass er auf dem Pariser Prominentenfriedhof Père Lachaise in der Nähe jenes anderen früh verstobenen Götterlieblings ruht. Marcus A. Woelfle Film-Tipp
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