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Im Herbst 2011 wäre John Coltrane 85 Jahre alt geworden. Da richtet sich die Aufmerksamkeit fast automatisch auf seinen frühen Tod. Die Behauptung, er habe sich zu Tode gespielt, sei regelrecht an der Intensität seiner Musik verglüht, kann kaum einen besseren Beleg finden als in seinen letzten Aufnahmen. Vor zehn Jahren sorgte das posthume Erscheinen des „Olatunji Concert“ (Impulse!) für großes Aufsehen. Schon Jahrzehnte hatte es in unseren Köpfen herumgespukt und unsere Phantasie beschäftigt, in der es dank existierender Berichte und zumindest einem bekannten Foto schon Gestalt angenommen hatte. Das waren die bekannten Fakten: John Coltrane hatte seinem Freund Babatunde Olatunji Unterstützung zugesagt für das Center of African Culture, das der Trommler im März 1967 in New York eröffnete. Der Beistand kam in Form von Geldbeträgen und in der Zusage, im April mit seinem Auftritt eine Serie von Konzerten zu eröffnen, die unter dem Motto „Roots of Africa“ standen. Die Nachricht von einem Konzert Coltranes wirkte schon in jenen Tagen wie eine Sensation. Coltrane war schwer krank und 1967 in New York noch überhaupt nicht aufgetreten. Die Leute müssen auf der Straße Schlange gestanden sein. Zwei Shows gab es an jenem denkwürdigen 23. April. Eine um 16 Uhr und eine um 18 Uhr. Trane steigerte sich in das erste der Konzerte so hinein, dass Olatunji ihm Zeichen geben musste, das Konzert zu beenden, da schon Hunderte auf das nächste Konzert warteten. Das angekündigte Publikumsgespräch mit John Coltrane musste leider entfallen. Dieses erste Konzert wurde auf Veranlassung Coltranes mitgeschnitten. Das Resultat ist in puncto Aufnahmetechnik mehr schlecht als recht. Die akustischen Verhältnisse sollen für den Tontechniker verheerend gewesen sein. Nicht nur, dass der gute Mann in seiner Verzweiflung immer wieder mal die Position des Mikrophons ändert und der New Yorker Straßenverkehr während Jimmy Garrisons Bass-Solo hörbar wird, über weite Strecken ist die Aufnahme übersteuert. Die Saxophone John Coltranes und Pharoah Sanders‘ klingen verzerrt. Garrison und Tranes Frau, die Pianistin Alice Coltrane, sind oft mehr zu erahnen als zu hören. Der Drummer Rashied Ali verdeckt mit seinem faszinierend vulkanischen Spiel die ohnehin in einem Klangbrei verschwindende Rhythmusgruppe – zu ihr gehören auch Algie de Witt mit seiner Batá-Trommel und vermutlich der Perkussionist Jumma Santos. Ob man deshalb 34 Jahre mit der Veröffentlichung gewartet hat? Als Otto Normalhörer nicht, wohl aber als bekennender Coltranianer wird man die Mängel in Kauf nehmen. Die aufnahmetechnischen Absonderlichkeiten entrücken Coltranes letztes New Yorker Live-Konzert in eine Sphäre des Unwirklichen. Wir erleben nur zwei, etwa je halbstündige Stücke: Das auf einem afro-brasilianischen Lied basierende „Ogunde“ hatte Coltrane schon kurz zuvor für „Expression“, sein letztes Live-Album, eingespielt. Trane’s unzählige Male interpretierter Dauerbrenner „My Favorite Things“ erklingt in einer ganz furiosen Version, die in keiner Weise mehr an die ursprüngliche Hit-Version erinnert, den von Coltrane orientalisierten Rodgers-Walzer. Das Thema ist kaum noch zu erkennen, lediglich eine Startrampe, von der es überall hin gehen kann. Sanders’ Power „Play in Things“ – er wird von Rashied Ali und den Perkussionisten zum äußersten getrieben – ist zweifellos ein ergreifender Höhepunkt des Albums. Auch Coltranes zweites, daran anschließendes faszinierendes Sopran-Solo ist einer: Immer wieder kommt es ab der 28. Spielminute zu Anspielungen auf sein Thema „Cosmos“ (aus dem 65-er Live-In-Seattle-Album), das aber nie „richtig“ zitiert wird. Doch es bringt nicht viel, einzelne Soli herauszugreifen. Dieses Konzert, das zeigt, was Free Jazz sein kann, erschließt sich nur in seiner Ganzheit als Gruppenwerk. John Coltrane spielt auf höchster Stufe glühender Intensität, gibt alles von sich und bringt auch die anderen dazu, alles zu geben. Dabei überlässt Trane wie immer die schmerzhaftesten Aufschreie, die wildeste Wut Pharoah Sanders, der bald zu so viel sanfteren Sounds finden sollte. Wer vermutet, dass Coltrane drei Monate vor seinem Tode abgeklärter, ruhiger spielte, wer glaubt, dass die Krankheit ihn seiner Kräfte beraubt hätte, erlebt bei diesem Album ein kleines Wunder: eine Stunde, die klingt wie ein permanenter Exorzismus, eine Stunde, in der es kaum Ruhepunkte gibt, fast nur Spannung, ständige Steigerungen zu immer ekstatischeren Ausbrüchen. Marcus A. Woelfle |
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