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Jazzzeitung

2010/01 ::: seite 9

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Inhalt 2010/01

Inhaltsverzeichnis

STANDARDS

Editorial / break / Nachrichten aus der Jazzszene / kurz, aber wichtig Jazzlexikon: Leonard Gaskin Farewell: Gigi Campi


TITEL -
Metamorphosen
Zum 100. Geburtstag von Django Reinhardt


Berichte

Chiemgauer Band LaBrassBanda // Dresdens Jazztage 2009 // Nachklänge vom JazzFest Berlin 2009 // Preview: „Annual Arbors Records Party“ in Florida, Teil 1 // Fritz Rau wird 80 und geht auf Tour


Portraits

Klaus Kugels und Albrecht Maurers Label NEMU Records // Markus Geiselhart // Bratschistin, Komponistin und Sängerin Katrin Mickiewicz // Solveig Slettahjell // Boris Vian


Jazz heute und Education
Die Kulturhauptstadt Europas und der Jazz // VOC COLOGNE – Impulsgeber für junge A-cappella-Ensembles // Abgehört: Keith Jarretts Solo über „What Is This Thing Called Love“

Rezensionen und mehr im Inhaltsverzeichnis

Der Jazz-Journalist

Boris Vian wäre am 10. März neunzig geworden

Was tat er nicht alles? Im bürgerlichen Beruf war er Ingenieur. zugleich aber betätigte er sich als Romancier, Dichter und Übersetzer, Chansonier und Schauspieler, und in all diesen Bereichen oft auch als Provokateur, Bürgerschreck und Bonvivant. Und er war schier besessen vom Jazz, als Musiker, aber auch als kenntnisreicher und meinungsfreudiger Jazz-Journalist – Boris Vian, geboren vor 90 Jahren, am 10. März 1920, gestorben mit nur 38 Jahren am 23. Juni 1959. Über sein kurzes, doch aus voller Kreativität heraus gelebtes Leben liegen in deutscher Sprache zwei ausgezeichnete Biographien vor, eine von dem „Le Monde“-Journalisten Philippe Boggio 1997 als umfangreiches, reich bebildertes rororo-Taschenbuch, und eine neuere, gewissermaßen intimere, aus der Feder des Vian-Übersetzers und Herausgebers Klaus Völker, die unter dem Titel „Boris Vian – Der Prinz von Saint Germain“ 2006 bei Wagenbach erschienen ist.

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Hier soll uns ausschließlich der Jazz-Enthusiast Boris Vian interessieren, als Musiker und vor allem als Jazz-Journalist. Boris hatte sich als Autodidakt das Trompetenspiel beigebracht und es so weit entwickelt, dass er ab 1942 ständiges Mitglied der Band des Klarinettisten Claude Abadie wurde, eine der damals beliebten Amateurbands, die dem New-Orleans-Stil möglichst „werktreu“ huldigten, neben dem Orchester von Claude Luter eine der erfolgreichsten Formationen ihrer Art. Ihre größte Zeit hatte sie in den ersten Nachkriegsjahren, etwa bis 1948, als sie in den Kellern und Klubs der Existentialisten von Saint-Germain-des-Prés auftrat und auf den seinerzeit häufigen Jazzamateur-Festivals zahlreiche Preise einheimste. Neben Boris spielten zeitweise auch seine Brüder Lelio als Gitarrist und Alain als Schlagzeuger bei Claude Abadie.

Vians Vorbilder als Trompeter waren King Oliver, Louis Armstrong, Tommy Ladnier und Bix Beiderbecke, den er besonders schätzte und dem er stilistisch am nächsten gekommen sein soll, wie Musikerkollegen berichten. Merkwürdigerweise existieren neben den zahlreichen Schallplatten mit Vians – entweder von ihm interpretiert oder von so prominenten Freunden wie Juliette Greco und Henri Salvador – nur wenige Tondokumente, auf denen er als Trompeter oder auf dem von ihm – wie von Bix – bevorzugten Kornett zu hören ist merkwürdig auch deswegen, weil sogar während der deutschen Okkupation erstaunlich viele Schallplatten mit französischen Jazzmusikern erschienen waren, was umso mehr für die Zeit nach dem Krieg zutraf. Dem Verfasser ist nur die CD „Boris Vian – Jazz“ bekannt, mit sechs Titeln, auf denen er mit Claude Abadie spielt, und vier weiteren mit Claude Luter, alle aus den Jahren 1945/46. Große Schlüsse auf die Qualität seines Trompetenspiels lassen sich daraus schwerlich ziehen (übrigens musste auch dieses magere Angebot, 2000 vom französischen Label SOLDORE zusammengestellt, wohl noch durch fünf Titel des Quintette du Hot Club de France mit Django Reinhardt aus den Jahren 1949/51 als „Bonus“ angereichert werden).

1948 war es ohnehin vorbei mit dem Trompetenspiel, auf dringenden ärztlichen Rat, denn Boris litt an einem angeborenen Herzfehler. „Jeder Puster in meine Trompete verkürzt mein Leben“, beschied er ihn bedrängende Fans und Freunde. Nur ab und an konnte er der Verlockung gelegentlicher Auftritte nicht widerstehen. Umso emsiger widmete er sich seiner neuen Karriere als Jazz-Journalist, um seine immensen Kenntnisse der Geschichte und Entwicklung seiner geliebten Musik, aber auch seine dezidierte Meinung, so weit als möglich zu verbreiten. Bis 1958 schrieb er regelmäßig für die älteste französische Fachzeitschrift „Jazz-Hot“, dessen Redaktionskomitee er gemeinsam mit André Hodeir und Frank Ténot bildete. Von 1947 bis 1949 lieferte er eine wöchentliche Jazzkolomne für die einst von Albert Camus geleitete linke Zeitung „Combat“. Daneben war er als Jazz-Experte für etliche Kulturzeitschriften und – Magazine wie „Spectacles“, „Arts“ und „Radio“ tätig, mit grundsätzlicheren Essays, aus englischen und amerikanischen Fachzeitschriften übersetzten Artikeln sowie mit Plattenrezensionen.

Zumeist schrieb er sehr sachlich, wenn auch in gelegentlich sehr eigenwilligem Stil. Oftmals aber lebte er seine Freude an Polemik und Provokation auch in Pamphleten aus. So beteiligte er sich aktiv am erbitterten Feldzug der Traditionalisten, die – angeführt von Hugues Panassié, dem einen der beiden Jazzpäpste Frankreichs – nur den puren New Orleans Jazz der Urväter als wahren Jazz gelten ließen und zugleich den in ihren Augen abartigen, ja verräterischen Bebop und seine – vom zweiten Jazzpapst Charles Delaunay angeführten – Anhänger attackierten. Die wiederum schossen nicht weniger fanatisch mit gleicher Munition zurück. Obwohl seine eigentliche Liebe der Musik und den Musikern der Ursprungsjahre des Jazz gehörte, bezog Vian eindeutig Partei für den Bebop und seine Interpreten, allein schon aus der Einsicht heraus, dass die ewige Wiederholung des Gleichen jegliche Erneuerung des Jazz ersticken würde, aber auch aus zunehmender Freude an der Kreativität und Musikalität von Musikern wie Dizzy Gillespie, Charlie Parker, Miles Davis, Kenny Clarke und ihrer vielen Mitstreiter, von denen er nicht nur die namentlich genannten, die er bei ihren Gastspielen in Frankreich fürsorglich betreute, bald als echte Freunden gewann, so wie er auch mit den besten französischen Musikern befreundet war.

Als besonders absurd empfand es Vian, dass Panassié, dessen Verdienste als Chronist und Gründer des Hot Club de France er durchaus würdigte, schwarze gegen schwarze Musiker ausspielte, indem er nur den traditionellen Jazz als wahrhaft schwarz und damit authentische Musik anerkannte, während doch die führenden Bebopper ebenfalls schwarze Musiker waren. Für Vian galt: „In Wirklichkeit gibt es nicht den mindesten Unterschied zwischen dem ‚alten Stil’ und dem ‚Bebop’. Das sind zwei Phasen der Entwicklung ein- und derselben Sache: schwarze Musik. Und diese zwei Phasen erlauben dieselben Elemente, sie werden nur auf verschiedene Weise behandelt …“ Sein Appell: „Wäre es nicht besser, alle kleinlichen Kompetenzstreitigkeiten beiseite zu lassen und damit aufzuhören, die einen Schwarzen gegen die ‚ganz echten’ auszuspielen und, indem alle zum Triumph derselben Musik beitragen, den Jazz dort wahrzunehmen, wo er gespielt wird und ihn ohne Vorurteile zu würdigen.“

Vians wahrer Gott aber war Duke Ellington, für ihn – als Komponist, Arrangeur, Bandleader und auch als Pianist – „die bedeutendste Persönlichkeit des Jazz“, „die Essenz selbst von der Schwarzen Musik in ihrer vollendeten Form“ –, dessen Kompositionen er der zeitgenössischen „E-Musik“ gleichstellte. Neben vielen Favoriten, zu denen außer den prominenten Beboppern auch solch unterschiedliche Musiker wie Fats Waller, Erroll Garner, Slam Stewart (!), Coleman Hawkins, Don Byas, Django Reinhardt, Bernard Pfeiffer zählten, pflegte er auch einige Hassfiguren, so Stan Kenton, den er als „geschmacklosesten amerikanischen Musiker“ und dessen Band er als „weißes Bierhaus-Orchester“ schmähte. Doch in der Regel sind seine Artikel differenziert verfasst, so wenn bei seinen Versuchen, den Bebop zu definieren, was in dessen Anfangsphase selbst für dessen eifrigste Protagonisten schwierig war und was gerade deswegen interessant zu lesen ist, oder wenn er feinsinnig und objektiv das Schlagzeugspiel von Kenny Clarke und Max Roach vergleicht, oder wenn er nicht davor zurückscheut, selbst Louis Armstrong, einen seiner Heroen, für weniger gelungene, allzu kommerzielle Aufnahmen und Auftritte in den Nachkriegsjahren zu kritisieren. Generell gilt, dass Boris Vian durch seine journalistischen Arbeiten unendlich viel dafür geleistet hat, dass der Jazz in Frankreich bis heute als eine der wichtigsten zeitgenössischen Musikrichtungen anerkannt wird.

Zwar ist es eine verlegerische Großtat, dass seit 1979 bei ZWEITAUSENDEINS in einer von Klaus Völker herausgegebenen bibliophilen, mehrbändigen Reihe sämtliche Romane, Erzählungen, Theaterstücke, Chansons, Gedichte, Essays und sonstige Werke von Boris Vian neu erscheinen. Aber dabei finden sich die Publikationen zum Jazz leider nur in einer beschränkten Auswahl in dem Band „Der Kommissar und die Grüne Pantherin“ mit gesammelten Schriften über Film, Literatur, Science Fiction, Pataphysik und eben auch etwas Jazz. Dabei waren 1989 und 1990, ebenfalls von Klaus Völker herausgegeben und (mit Stefan Zweifel) übersetzt, zwei heute nur noch mit viel Glück antiquarisch aufzutreibende Bände – „Rundherum um Mitternacht“ und „Stolz und Vorurteile“ – mit einer großen Auswahl von Vians „Schriften, Glossen und Kritiken über Jazz“ im Hannibal-Verlag erschienen.

Eine kritisch durchzusehende Neuausgabe würde sich durchaus lohnen, denn die Arbeiten des Jazz-Journalisten Boris Vian stellen auch über den frankophonen Bereich hinaus noch immer eine reichhaltige Fundgrube für Jazz-Historiker wie auch aktuelle Fans dar.

Dietrich Schlegel

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