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Da konnte man sich die Augen reiben. Mitten in dem großen Eröffnungsfest zur Kulturhauptstadt Ruhr 2010 in der Essener Zeche Zollverein tummelten sich im Schneetreiben eine halbe Stunde lang Jazztanz-Akteure, auch zur Freude der besonderen Gäste, zum Beispiel Bundespräsident, Ministerpräsident etc. Da fragt man sich: Ist das jetzt nur Zufall oder spielt der Jazz eine Rolle in diesem Geschehen, in dem nicht nur Essen sondern die ganze Ruhrregion für ein ganzes Jahr als Kulturhauptstadt Europas gefeiert wird, und natürlich ihre Stärken zeigt, oft neue Stärken als Ergebnis eines jahrzehntelangen Strukturwandels von der reichen Region der Schwerindustrie, die nach dem Krieg ganz oben stand und den Wiederaufbau vollzog, aber dann mit dem europaweiten Niedergang der selbigen zu Boden ging.
Der Jazz war im Ruhrgebiet immer präsent, von Anfang an, allerdings auch oft in sehr schwierigen Situationen, nachzulesen in „Jazz in Nordrhein-Westfalen seit 19461. Man erinnere sich nur, dass die „Berliner Jazztage“, aus der Taufe gehoben von Ralf-Schulte Bahrenberg ihren Vorläufer in Essen Ende der 50er-Anfang der 60er Jahre hatten. Natürlich gab es danach viele „Aufs und Abs“, doch ganz unzweifelhaft spielt die Region zwischen Rhein und Ruhr im europäischen Jazz eine wichtige Rolle. Das Festival in Moers, seit Jahrzehnten ein weltweites Markenzeichen, der Club „domicil“ in Dortmund, seit einigen Jahren richtig gut räumlich etabliert oder die Jazzabteilung der Essener Folkwang Hochschule – drei Markenzeichen, die unübersehbar sind, wenn man von Kultur im Ruhrgebiet spricht. Drei Schwerpunkte hat das Jazzgeschehen, die natürlich an Anstrengungen der Vergangenheit anknüpfen und die Stärken der Szene nutzen. Thema Vernetzung Da ist zunächst das Thema Vernetzung. Ein Phänomen, das europaweit
immer mehr von den Kulturschaffenden als die Basis für einen gemeinsamen
Erfolg verstanden wird, obwohl dies gerade in der Kultur mit ihren vielen
Individualisten scheinbar nicht einfach ist. In der Grundinformation über den Jazz-atlas im Internet2 heißt es: „Der Jazzatlas Ruhr ordnet die Jazz-Szene und weist Strukturen aus: in einer Reportage aus Texten, Tönen und Bildern. In über 20 Kapiteln werden die lokalen, regionalen und überregionalen Jazz-Schauplätze dargestellt. Zahlreiche O-Töne und Soundbites machen den Atlas lebendig und plastisch“. Verfasser ist der Journalist Michael Rüsenberg, seit vielen Jahren als Autor vieler Publikationen und aktueller Beiträge vor allem bei dem WDR bekannt. Schon seit einigen Jahren widmet er sich der Reportage über die Jazzszenen der Städte im Sendebereich des WDR. Im April 2009 wurde der Atlas in einer ersten Fassung vor allem auf der „jazz-ahead“-Messe in Bremen als CD der Öffentlichkeit vorgestellt. Das Ziel war und ist die Installation im Internet. Diese beginnt im Februar 2010 mit dem Einbau in die Web-TV- und Blog-Plattform „2010lab“. So entsteht ein sehr farbiges Bild einer regionalen Musikszene, eine Auseinandersetzung mit allen nur denkbaren Ereignissen, nicht etwa als vordergründige Werbeaktion, sondern als kritische Reportage, bei der viele der Akteure auch selbst zu Wort kommen. Neben dieser medialen Vernetzung gibt es das Praxis- und Konzertprojekt des „jazzwerkruhr“. Getragen vom Verein ProJazz e.V. in Dortmund knüpft „jazzwerkruhr“ an „swingbeats-Jazz Podium Ruhr 1999/2000“ mit damals bis zu 13 Spielorten und vielen Bandprojekten im ganzen Ruhrgebiet an. Eine Jury wählt Bandprojekte aus, die dann in fünf Städten des Ruhrgebiets auftreten. Vor allem auch mit Blick auf das Kulturhauptstadt-Jahr hat man das Konzept europäisch erweitert, sich mit Partnern in Belgien, den Niederlanden, Frankreich, Polen und Österreich zusammengetan und europäische Bandprojekte mit Musikern aus diesen Ländern zusammengestellt, die 2009 zum ersten Mal unter dem Namen „jazzplayseurope“ in Europa auf Wanderschaft gegangen sind. So spielte eine Band mit Tobias Klein, Andrew Claes, Sven Decker, Andreas Wahl, Piotr Damasiewicz, Christophe Hache und Marcros Baggiani in Amsterdam, Dortmund, Bochum, Wroclaw, Lille und Borgerhout in Belgien. Anfang 2010 spielt das Brick Quartet mit dem belgischen Saxophonisten Ben Sluijs auf dem JOE-Festival in Essen und in Frankreich. 2010 wird auch die Werkstattidee weiter ausgebaut: die Schaffung und Präsentation gemeinsamer Projekte der Ruhr-Musiker mit europäischen Kollegen. Geplant ist der Start einer Konzertreihe in der Begegnung mit den übrigen
Kulturhauptstädten Europas bis zum Jahr 2014. So bleibt das Ruhrgebiet
auch über 2010 hinaus präsent. Nach so viel Kultur-, Wirtschafts- und Medienpolitik kommt schließlich
die Kunst ganz allein zur Geltung. GrubenklangorchesterGeorg Graewe, weltweit bekannter und agierender Pianist, der zur Zeit in Wien lebt, erneuert die Erinnerung an ein großes Projekt vor einigen Jahrzehnten, Anfang der 80er Jahre, als er noch mitten in der Ruhrregion lebte und arbeitete: das Grubenklangorchester“, unter dem passenden Namen „Grubenklang.Reloaded“. Georg Graewe ist ein Beispiel für die vielen bekannten und groß gewordenen Musiker aus der Region, die inzwischen ihr künstlerisches Glück in aller Welt, außerhalb des Ruhrgebiets, gesucht und gefunden haben. Letztlich zielt dann auch das oben erwähnte „jazz-werkruhr“-Projekt darauf ab, die heute jungen Musiker aus der Region zu fördern, ihnen die Möglichkeiten zu geben, in der Region zu bleiben. Doch zurück zu Graewe. In den 80er Jahren repräsentierte das Projekt den Aufbruch des Jazz/der Improvisierten Musik nach der so genannten Befreiung durch das Phänomen „Free Jazz“, die Schaffung einer neuen Art der Musik: intelligent, frei, virtuos und unterhaltend, der Start in die bis heute sog. aktuelle Musik. Nun kehrt Georg Graewe mit vielen seiner Kollegen von damals zurück, bringt auch einige Weggefährten aus anderen Ländern mit und präsentiert seine/ihre Musik in der heute aktuellen Form. Und die Besetzung spricht für sich, lässt große Erlebnisse erwarten: Thomas Berghammer, Sebastiano Tramontana, Melvyn Poore, Theo Jörgensmann, Frank Gratkowski, Tobias Delius, Eckard Koltermann, Martin Siewert, John Lindberg, Dieter Manderscheid, Achim Krämer, Michael Vatcher und natürlich Georg Graewe. Der erste große Auftritt nach kleineren Präsentationen an verschiedenen Orten wird das Moers Festival im Mai 2010 sein. Weitere Konzerte und Workshops wird es in Bochum, Duisburg, Essen und Moers und vor allem im „domicil“ in Dortmund geben. Letzterer bietet das Podium für das abschließende Festival im November. Verbunden sind mit dem Projekt auch Literaturveranstaltungen in und mit der Buchhandlung Napp in Bochum, Literatur und Musik, eine Kombination die es viel zu selten zu erleben gibt, wie auch Jazz und Film. So wird es am 18. und 19. Juni in der Henrichshütte in Hattingen den restaurierten Stummfilm „Schlagende Wetter“ von Karl Grune aus dem Jahr 1923 mit Musik von Georg Graewe unter Beteiligung des WDR Rundfunkorchesters und Begleitung von arte/ZDF zu sehen geben. Hinzu kommen noch einige Projekte mit Roscoe Mitchell oder Klavierabende in Museen zum Beispiel mit Keith Tippett oder eine neue Fassung der Operette „Der Obersteiger“ von Carl Zeller und eine Video/Klanginstallation der Videokantate „alle kennen meine visage“ nach Tagebuchaufzeichnungen von Albert Einstein. Natürlich widmen sich die einschlägigen Veranstalter in der Region wie das schon mehrfach erwähnte domicil in Dortmund, das JOE Festival in Essen, das Jazzprogramm der Philharmonie in Essen oder DINJazz in Dinslaken mit dem Projekt „Glückauf-Jazz“ im Rahmen der so genannten Local-Heroes-Woche im Januar dem Jazz. Oder es gibt besondere Projekte wie „Im Schoß der Erde“ in Oberhausen3, bei denen die Kölner Pianistin Laia Genc und der in Köln lebende Saxophonist Alessandro Palmitessa beteiligt sind. Und natürlich gibt es eine Vielzahl von Terminen, die jetzt noch nicht erwähnt sind und die auch erst in Zukunft in den einschlägigen Internatportalen oder Druckerzeugnissen auftauchen werden. Man sollte sich nicht scheuen, immer wieder nachzusehen. Hans-Jürgen von Osterhausen 1 Robert v. Zahn (Hrsg.): Jazz in Nordrhein-Westfalen seit 1946, Köln
1999 |
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