Der Sänger und Gitarrist Gianmaria Testa stammt aus der italienischen
Provinz Cuneo. Als Gewinner eines Amateur-Festivals in Recanati wurde
er 1993 von einem französischen Produzenten entdeckt; im Jahre 2000
gelang ihm mit dem Album „Il valzer di un giorno“ auch der
Durchbruch in seinem Heimatland. Texte und Musik seiner zwischen Jazz,
Rock und Folk changierenden Songs schreibt er selbst. Auf seinem neuen
Album „Da questa parte del mare“ setzt sich Testa mit der
modernen Migration auseinander.
Jazzzeitung: Warum beschäftigt Sie das Schicksal
von Immigranten?
Gianmaria Testa: Der Auslöser geschah 1992 während
meines Urlaubs in Apulien. Ich sah mit eigenen Augen, dass zwei Flüchtlinge
am Strand wie Frachtgut behandelt wurden. Sie waren als blinde Passagiere
im Laderaum eines Frachtschiffes gekommen. Man entdeckte sie und setzte
sie in einem Schlauchboot vor der Küste aus. Als sie strandeten,
war es für einen der beiden schon zu spät.
Jazzzeitung: Das ist aber nun schon 14 Jahre her.
Testa: Da sehen Sie, wie langwierig meine Kreativität
arbeitet. Und das Erlebnis beschäftigt mich immer noch: In Italien
landen täglich solche Schiffe. Das Schlimmste ist, wie viele nicht
ankommen. Man geht inzwischen von Tausenden von Ertrunkenen aus. Eine
verzweifelte Hoffnung treibt diese Menschen an.
Jazzzeitung: Sie nennen Ihr Album „Da questa parte
del mare“ – auf dieser Seite des Meeres. Hier in Deutschland
verbinden wir Migration schwerlich mit dem Meer.
Testa: Trotzdem gilt: Wer auf der europäischen Seite
des Mittelmeers geboren ist, hat einfach Glück gehabt, auch wenn
er nördlich der Alpen lebt. Aber natürlich hat das Meer für
die Italiener eine ganz besondere Bedeutung. Es ist für uns eine
absolute Grenze, auf die immer wieder Hoffungen und Ängste projiziert
werden. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts verließen die Italiener selbst
ihre Heimat über das Meer; Ziel war damals die florierende Wirtschaft
Argentiniens.
Jazzzeitung: Verfolgen Sie politische Absichten?
Testa: Nein. Dieses Thema bewegt meine Gefühle.
Meine Herangehensweise ist eine poetische. Es geht mir um die Gründe
des Aufbruchs, schmerzliche Abschiede, die Entbehrungen der weiten Reise,
das Gefühl der Entwurzelung nach der Ankunft.
Jazzzeitung: Wie kamen Sie zur Musik?
Testa: Das wurde mir nicht in die Wiege gelegt. Ich komme
aus einer ganz normalen Bauernfamilie. Wir sangen Volkslieder zuhause,
hörten Radio; ich mochte Bob Dylan und Leonhard Cohen.
Jazzzeitung: Dann war es wohl ein weiter Weg zum Profi-Musiker.
Testa: Bin ich das überhaupt? Mir geht es einfach
darum, im Leben und in der Kunst mich auf die wesentlichen Dinge zu beschränken.
Eigentlich bin ich Bahnhofsvorsteher. Sofern es meine Zeit erlaubt, arbeite
ich heute noch in diesem Beruf.
Jazzzeitung: Als Gast für das neue Album konnten
Sie den amerikanischen Gitarristen Bill Frisell gewinnen. Wie klappte
die Zusammenarbeit?
Testa: Obwohl er nur einen einzigen Tag Zeit für
die Aufnahmen hatte, haben wir uns auf Anhieb verstanden. Dabei kannten
wir uns vorher nicht und konnten uns sprachlich kaum vers
tändigen. Diese wunderbare Art von Intimität ist ein Privileg
von Musikern.
Interview: Antje Rößler
Gianmaria Testa „Da questa parte del mare“
Le Chant du Monde LDX 874, Vertrieb über harmonia mundi
Vö: 20. Oktober 2006
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