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Spätestens seit den 1920er-Jahren war der Jazz für den „Schmutz“ zuständig. Man könnte auch sagen: für das Leben, das aus der Hoch-Kultur zu verschwinden drohte. Das Theater wurde als steril empfunden, selbst dort, wo es bis zum Äußersten zu gehen schien: bei Strindberg oder Schnitzler etwa. Die Musik war, paradoxerweise, umso „reiner“ geworden, je mehr sie in den Bereich der Dissonanz verrutschte. Ihre Struktur war vielleicht die der Welt (oder, für Adorno & Co., der Gesellschaft), aber nicht mehr die des Herzens oder des Geschlechts; Sentimentalität und Sex waren aus ihr verschwunden, das hieß: die Musik drohte geschichts- und geschichtenlos zu werden. Die neuere Avantgarde, von Brecht bis Strawinsky, Ravel oder Gershwin,
suchte das Heil in den niederen Künsten, also im Varieté,
im Kino (das damals noch weitgehend Jahrmarktsattraktion war, die pure
Schaulust bediente), im Sport und eben im Jazz. Brecht wünschte sich
für sein Theater ein Publikum, das so vergnügungssüchtig
und fachkundig – also in seinen Augen: unbestechlich – war
wie das der großen Boxkämpfe und der Sechs-Tage-Rennen. Ein
Publikum, das aß, trank, rauchte und – diskutierte. Für
Walter Benjamin waren die Zuschauer eines Chaplin-Films über die
einsame Kontemplation der bürgerlichen Kunst-Religion des 19. Jahrhunderts
hinaus, eine „kritische“ Masse, in der jeder die Reaktion
des anderen spürte und die Spontaneität wie das Urteil zu einem
sozialen Prozess, zu einer Sache von, wie es damals hieß, Kritik
und Selbstkritik wurde. Adorno, der den Jazz (oder Strawinsky!) nicht
mochte, empfand schon ein knappes Jahrzehnt vor dem Beginn der stalinistischen
Schauprozesse, das kollektive Lachen und Verlachen, die Verwandlung des
Publikums ins „Volksgericht“ als fürchterliche Angelegenheit,
nicht als Überwindung der sozio-psychologischen Mentalität des
Bürgertums, sondern als Regression zu deren vorhöllenhaften
Kern. Strawinsky benutzt das Archaische sorgloser. Wo Adorno das Marschieren der soldatischen Massen oder faschistischen Kollektive und das Stampfen der entmenschten großkapitalistischen Maschinerie hört, sieht er einen unschuldigen, nietzscheanischen Vitalismus am Werk: den Gott, der tanzen kann – und nicht passiv-rezeptiv in seinem Sessel verharrt. Ravel sieht im Jazz die Chance der kleinen Abweichung, einer Dissonanz und Dissidenz, die frech und subversiv wirkt, die aber nicht ins E-Musik-Ghetto führt, sondern belebt. Gershwin steht im Bann einer naiven „Widerspiegelungs“-These, verkörpert gewissermaßen die amerikanische Variante von Lukacs, Shdanov & Co., sucht nach einem Ausdruck für das rasche, in jeder Hinsicht mobile Manhattaner Lebensgefühl, nach dem Sound des „jazz age“ und der Wolkenkratzer. Und er entdeckt dabei die „Neger-Oper“, die nach dem Zweiten Weltkrieg in bundesdeutschen Jazzer-Milieus für Furore sorgte: die Klänge nicht nur der bewussten Abweichung, sondern der existenziell Marginalisierten, der Entrechteten und Beleidigten als das Reiz-Mittel, das vielleicht die E-Musik rettet, vor der Auszehrung des puren Avantgardismus bewahrt. Wenn man es drastisch formuliert: Bei Strawinsky, bei Gershwin, noch mehr vielleicht bei Bert Brecht/Kurt Weill wird das Heterogene – das ganz Andere, das bisher von jeglicher Repräsentanz in der Hochkultur ausgeschlossen war – zum Mittel der Unterhaltung, eines kritischen, urbanen „Entertainments“. „Glotzt nicht so romantisch“Am deutlichsten wird das vielleicht bei Bert Brecht und Kurt Weill, denen
mit ihrer „Dreigroschenoper“ (nomen est omen!) der größte
Theatererfolg der Weimarer Jahre gelang. Der junge Brecht war ein radikaler
Theaterreformer – und ein rüder Publikumsbeschimpfer lange
vor Handke: „Glotzt nicht so romantisch!“, hieß damals
seine Parole, die sich als wunderbare Geschäftsidee erwies. Er wollte
nicht Einfühlung, schon gar nicht Identifikation, sondern eine reine
Schau- und Hör-Lust und ein entschiedenes Urteil, deren Voraussetzung
für ihn die Fähigkeit zur Distanz war. Er zerlegte die Stücke
anderer und seine eigenen und montierte sie neu zusammen. Auch er wollte
das multimediale Gesamtkunstwerk, nur eben ganz anders als Wagner oder
Skrjabin. Zur Erhöhung des Schwierigkeitsgrads wie der Effekte kamen
ihm die anderen Künste, von der bildenden Kunst über den Film
bis zur Musik gerade recht. In der „Dreigroschenoper“ machte
er die wüste Collage zum Prinzip seines kritisch-kulinarischen Theaters.
Dass das so wunderbar funktionierte, dafür war vor allem der „Jazzer“
Kurt Weill verantwortlich. Ein Weill, der seine Schule, die verehrten
Meister Schönberg und Busoni verraten zu haben schien, nicht mehr
nach avantgardistischer Einheit und Reinheit suchte, sondern nach Diversität
und Diversifikation. Die Musik zur „Dreigroschenoper“ ist
ungeniert und unverschämt. Sie bedient sich überall. Sie kommt
maskiert daher und ist doch sehr nackt. „All That Jazz!“,
gewissermaßen. Eine Musik der Risse und der Brüche, notdürftigst
verklebt, die aber als ein einziger großer synkretistischer Sound
und scheppernder Daseins-Rhythmus an einem vorbeirauscht. Helmut Hein |
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