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Die spannendste musikalische Frage im Frühjahr 2005 lautete: Wer ist der Piano Man? Die Times und der Guardian brachten dutzendweise Artikel zu dem rätselhaften Menschen aus der Themse, der nicht spricht, aber Klavier spielt. Allein in der ersten Woche nach seinem Auftauchen gingen mehr als 1.000 Hinweise ein, wurden 250 Namen genannt, offenbar alle falsch. Im Internet liefen Wetten über seine Nationalität. Sofern er Österreicher sein sollte, erkannte das „Kulturland Österreich” schon mal in ihm ein „Musik-Genie” und einen fernen Nachfahren von Mozart oder Johann Strauß. Das wirre Potpourri mit Anklängen an Tschaikowsky und die Beatles, das er auf dem Anstaltsklavier zum Besten gab, wurde flugs zum „klassischen Klavierkonzert auf hohem Niveau” erklärt. Vergleiche mit David Helfgott wurden gezogen. Ein Mann, der in durchnässter Abendgarderobe gefunden wird, ein Bohemien offenbar, dazu stumm, scheu und der Klaviertasten kundig, kann ja nur ein kranker Künstler sein an der Grenze zwischen Genie und Wahnsinn. Das Bildungsbürgerblatt „Die Zeit” entsandte flugs einen Poeten auf die Insel, der im Piano Man das Sinnbild des Sehnens „nach wirklicher, der Oberflächlichkeit und Alltagsflüchtigkeit enthobener Kultur” erkannte, ein Gegenbild zur englischen Realität, zu „stiernackigen Glatzköpfen”, „Obszönitäten aus offenen Autofenstern”, „eisig kalten Regenschauern”, „Plattenbauten aus den 60er-Jahren”, „einer immer profaneren Welt”. Die ewige Frage nach der menschlichen Identität rief sogar schon das bekannte Philosophie-Institut Hollywood auf den Plan. Nur die Eidgenossen bewahrten den nüchternen Blick. Ein Schweizer Online-Dienst zeigte ein Werbefoto von Piano-Kaiser und schrieb: „Keines der großen europäischen Orchester vermisst einen Pianisten.” Rainer Wein |
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