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Mit Artie Shaw und Benny Goodman verhält es sich wie mit Schiller und Goethe. Im Zweifelsfall sind immer Goethe und Goodman die Bekannteren, Populäreren, Zitierten, nicht Shaw und Schiller. Das Schillerjahr 2005 mag die schiefe Optik für beide „Klassiker“ geraderücken. Es ist auch das Jahr in dem die Jazzgemeinde sich schmerzlich bewusst wird, dass sie den letzten Giganten der Swing-Ära verloren hat. Damit ist der seit Benny Carters Tod ohnehin nur noch hauchdünne Faden zur Ära des prämodernen, klassischen Jazz fast ganz abgerissen. Nur noch Insidern bekannte Größen wie Jay McShann erinnern an jene glanzvolle Epoche, als Jazz nicht nur große Kunst, sondern eben auch noch die Popmusik ihrer Zeit war.
Um die Statur Artie Shaws zu verstehen, hilft eine (zugegebenermaßen grobe) Verallgemeinerung der Jazzgeschichte. Jazz begann als eine Art Volksmusik. Eine Zeitlang war er – darin bestand das große Wunder des Swing – aktuelle Popmusik und hohe Kunst in einem. Dann drifteten die Tendenzen in den 40er-Jahren auseinander: auf der einen Seite Bebop und Cool Jazz, gespielt von Musikern, die sich in erster Linie als Künstler verstanden, auf der anderen Seite Rhythm & Blues und die meist singenden Entertainer des amerikanischen Showbiz. Das Auseinandergehen zeichnete sich schon mitten in der Swing-Ära ab und erklärte ihre Kürze. Schon damals gab es Größen wie Glenn Miller oder Tommy Dorsey, die eindeutig im populären Sektor zu Hause waren, und Solisten wie Coleman Hawkins oder Lester Young, die für kompromißloses Jazzen standen. Artie Shaw stand genau in der Mitte, an jenem Punkt, an dem die beiden Arme der angedeuteten Schere auseinandergingen. Somit ist er wohl der geradezu prototypische Repräsentant des Swing, denn kaum einer verdeutlicht besser als er, das Dilemma zwischen Geschäft und Anspruch, und hatte eine so kolossale Begabung, immer wieder den Spagat zu schaffen. Daher gehört sein Beitrag auch mit zum Spannendsten der Jazzgeschichte. Shaw, der am 30. Dezember 2004 94-jährig im kalifornischen Thousend Oaks verstarb, war als Bandleader und Klarinettenvirtuose einer der erfolgreichsten Repräsentanten der Swing-Ära. Als ewiger Konkurrent Goodmans mit zahlreichen Hits und als attraktiver Ehemann berühmter Filmschönheiten wie Lana Turner oder Ava Gardner war Shaw eine zentrale Persönlichkeit des Showbusiness. Bei weniger Begabung und Charakterfestigkeit hätte er sich einfach damit begnügen können, irgendeiner der vielen blendend aussehenden, reichen Stars Hollywoods zu sein. Doch Shaw und Show waren manchmal zwei Paar Schuhe. Er hatte ein Problem mit der musikalischen Anspruchslosigkeit seiner Zeitgenossen, die er leicht mit einer ständigen Diät simpler Hits hätte zufriedenstellen können. Für ihn war es ein Alarmzeichen, wenn er zu gut verdiente oder ein Titel zu häufig verlangt wurde. Angesichts seines großen Erfolges wiegt seine, von künstlerischer Integrität getragene Verweigerung gegenüber dem „Business“ sehr schwer. In frühen Jahren bewog sie ihn dazu, seine Big Bands auf der Höhe ihrer Erfolge aufzulösen, während er immer wieder Mühen auf Projekte verwandt, die kaum allgemeinen Anklang finden konnten. Schon 1955 zog er sich – nachdem er über 100 Millionen Platten verkauft hatte - fast endgültig aus der Musik zurück, obwohl er ebenso viel Geld damit hätte machen können wie Goodman, Hampton und eine Handvoll anderer Generationsgenossen. Wer noch in letzter Zeit einen Beleg für Shaws selbstkritische Haltung suchte, fand sie im Jahr 2001 in der auf Bluebird erschienenen Box „Selfportrait“, die in der Tat die ultimative Möglichkeit darstellt, sich mit Shaws Schallplattenwerk vertraut zu machen. In einer Zeit des Vollständigkeitswahns wurde die auf fünf CDs beschränkte Retrospektive herausgebracht, bei welcher der 91-jährige Shaw selbst nach dem Motto „gut genug ist nicht gut genug“ eine Auswahl traf, die gleichwohl ein vollständiges Bild ergibt. Dabei konnte er neben Studio-Aufnahmen für RCA, die Einspielungen für andere Konkurrenzlabels sowie Live- und Rundfunkeinspielungen berücksichtigen! Man wundert sich, warum so etwas nicht alle Tage vorkommt! Der Urheber selbst, man stelle sich das einmal vor, zieht die Summe seines Lebens, trennt die Spreu vom Weizen und greift, neben anderen Kennern zur Feder, und dies in Zeiten, in der so mancher Musiker seine eigene Platte nicht wiedererkennt, weil so viele zwischen ihm und seinem Produkt zwischengeschaltet sind, deren Treiben er machtlos zuschauen muss. Die Auswahl – sie verzichtete auf Tagesschlager, legt bei den Vokalaufnahmen strenge Kriterien an – bestätigt wieder seine kompromisslose Haltung. Es ging Shaw um die seiner Meinung nach besten Aufnahmen, nicht um jene Stücke, die damals zufällig Hits wurden. Nicht selten gab Shaw einer ausgefallenen Live-Aufnahme den Vorzug gegenüber bekannteren Versionen. Was bleibt – abgesehen von Hits wie „Begin The Beguine“ oder „Frenesi“ – von dem Klarinettisten? Zunächst einmal war er ein Musiker, der nicht nur über einen unverwechselbaren, berückenden Klarinettensound verfügte, sondern darüber hinaus für seine Formationen immer wieder neue Sounds kreierte, die auch von seiner Liebe für klassische Musik künden: schon bei seinen ersten Aufnahmen fiel er damit auf, dass er ein Streichquartett in die Jazzband integrierte. In der aus Orchestermitgliedern zusammengesetzten „Gramercy Five“ wurde ein Cembalo an Stelle eines Klaviers verwendet. Darüber hinaus bleibt es sein Verdienst, nicht nur Öl, sondern immer und immer wieder auch Sand im Getriebe des Musikgeschäfts gewesen zu sein. Das merkt man nicht zuletzt in der Wahl seiner Weggefährten. Als praktizierender Antirassist beschäftigte der weiße Shaw schwarze Größen wie Billie Holiday und Roy Eldridge. Als fortschrittlicher Kopf unter den Etablierten gab er Neutönern wie Dodo Marmarosa und George Russell Arbeit. Er machte es sich nicht leicht. So löste er, als Billie Holiday schlecht behandelt wurde, seine erfolgreiche Band kurzerhand auf. Die letzten Jahrzehnte widmete der am 23. Mai 1910 in New York als Sohn einer armen jüdischen Familie geborene Arthur Jacob Arshawsky seiner Leidenschaft für die Literatur. Er schrieb (neben einer Autobiogrpahie auch fiktionale Texte) und sammelte Bücher. Ein Mann, der die Aufgabe hatte, die über 10.000 Bücher zu katalogisieren, fand in einem Buch Freuds die Widmung „To Artie Shaw, with profound admiration and respect“. Als er in einem Buch Einsteins und in einem weiteren die nämliche Widmung in der gleichen Handschrift fand, fragte er Shaw, was es damit für eine Bewandtnis habe. Shaw erklärte, er habe die Widmungen selbst geschrieben, um die Bücher identifizieren zu können, falls sie ihm gestohlen würden. Bei den meisten anderen Menschen hätte diese Marotte auf eine ausgeprägte Einbildung schließen lassen. Nicht bei Shaw. Er gehörte wirklich zu den Großen des 20. Jahrhunderts. Marcus A. Woelfle |
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