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Angenommen es gäbe eine „Weltausstellung des Jazz“ – vielleicht in New Orleans, New York, Frankfurt oder Wuppertal, eine „Jazzexpo“ eben mit Vertretern aller Nationen, aller historischen Etappen und Genres –, dann würde ich folgenden Vorschlag einreichen: Es gibt eine Veranstaltung in Berlin-Karlshorst, die bräuchte man nur Stein für Stein abzutragen und im „DDR-Pavillon“ neu zusammenzusetzen, dann hätte man bereits ein absolut originelles und obendrein überaus kostengünstiges Highlight. Was im „Jazz Treff Karlshorst“ Monat für Monat abläuft, sucht nach Erklärungen. Im Schema der klassischen DDR-Jazztradition (einem wissenschaftlichen Vortrag folgen mehrere Live-Performances und zum guten Schluss wird getanzt) wird dort seit 1992 wieder Jazz veranstaltet. Der Erfolg schlägt sich seit zwölf Jahren in sensationellen Besucherzahlen nieder. Über 90 Prozent der Tickets werden bereits im Vorverkauf abgesetzt. Warum also auf die „Jazz-Expo“ warten? Lasst uns einfach das Kulturhaus Karlshorst zur Außenstelle des Deutschen Historischen Museums erklären!
Karlheinz Drechsel steigt auf die Bühne. Ich erinnere mich augenblicklich an den Moment, als ich Westberliner den berühmten Ostberliner Rundfunkmoderator das erste Mal im Einsatz sah. Gemeinsam mit einigen Berlinern aus der westlichen Stadthälfte saß ich damals auf der Tribüne des Berliner Jazz & Blues Award, als Drechsel mit gut recherchierten Wortbeiträgen durch das Programm führte. Die feine Wortwahl und das seriöse, freundliche Auftreten dieses Mannes führte bei uns zu (völlig unpassender) Erheiterung, denn aus den uns bekannten (West-)Jazzclubs waren wir bis dato nur kosmopolitische Coolness und Lässigkeit bis hin zur Ignoranz gewöhnt. Von der großen Ost-Tradition einer öffentlichen (!) Jazzforschung und Wissensvermittlung hatte von uns bisher keiner etwas gehört oder gelesen (dass es so etwas nach dem Krieg auch im Westen gab, wissen ebenfalls nur ältere Semester). Hier im Kulturhaus Karlshorst wirkt Karlheinz Drechsel allerdings überhaupt nicht komisch, ganz im Gegenteil. Das Publikum klebt an seinen Lippen. Bis auf die letzte Maus spürt der ganze dichtgefüllte Saal, dass bei einem Auftritt des inzwischen ergrauten Herrn Drechsel immer etwas Wichtiges zu erfahren ist. Diesmal hat sich Karlheinz Drechsel eine ungewöhnliche Familien-Saga auf seine kleinen Spickzettel notiert. Die Alexander Blume Jazz Family ist nicht nur der Show-Anheizer, sondern sie steht für die Wurzeln, die den ganzen Abend im Kulturhaus zusammen halten: Alles hier, vom Mobiliar über den Moderator bis zur Musiktruppe, alles wurde von den Verhältnissen in der Deutschen Demokratischen Republik geprägt und lernte hier den Jazz als lebenslange Leidenschaft kennen und schätzen. Die Familienband Blume stammt aus Thüringen. Der Vater des aktuellen Familien-Bandleaders Alexander Blume, Manfred Blume, gründete 1960 den ersten Jazzclub in Eisenach und kämpfte in schwierigen politischen Zeiten („Kalter Krieg“) an der gleichen Front wie Drechsel für die Anerkennung des Jazz als zeitgenössische Ausdrucksweise junger DDR-Musiker. Der in diesen Jahren kulturpolitischer Selbstverteidigung geborene Alexander hatte es als junger Saxophonist bereits ein wenig einfacher, denn Anfang der 70er-Jahre hatte sich Jazz in Ostdeutschland durchgesetzt und Alexander wurde Teil einer von großen Bevölkerungskreisen getragenen und stilistisch vielfältigen musikalischen Bewegung.
Moment! Karlheiz Drechsel redet da über Ereignisse von Vorvorgestern, als wären sie eben erst passiert. Wen im Saal interessieren eigentlich die Triumphe und Niederlagen der 60er- und 70er-Jahre? Ich schaue mich um und sehe: Praktisch alle der Anwesenden dürfte diese Zeit bewusst miterlebt haben, der Altersdurchschnitt liegt um oder über 50. Karlheinz Drechsel redet zu Menschen, die diese Geschichte live erlebt haben, er redet über Vater, Sohn und Enkelkinder, über ein soziales Umfeld, in dem viele Gäste des „Jazz Treff“ ihre eigenen Kinder groß gemacht haben. Er redet über Städte, die man nicht nur im Urlaub, sondern auch seiner Jazzliebe wegen besuchte und über Clubs, in denen sich viele der anwesenden Gäste kennen lernten. Immer wieder redet er auch über das Internationale Dixieland-Festival Dresden, dem der heutige Abend gewidmet ist und als dessen Abgesandte sich die Alexander Blume Family Band vorstellt. „Dresden-Nachlese“, so heißt das Motto des Abends im Kulturhaus Karlshorst. Die „Dresden-Nachlese“ findet bereits zum 23. Mal seit 1980 statt, als der „Jazz Treff Karlshorst“, der damals noch nicht so hieß, aber bereits unter dem gleichen Banner „Jazz für Sie“ firmierte, erstmalig eine Auswahl von Bands des Internationalen Dixieland-Festivals in Berlin auf die Bühne brachte. Der „Jazz Treff“ hatte sich damals halbwegs etabliert, er wurde nie wirklich gegründet, sondern entstand auf eine DDR-typische Art und Weise im freien Übergang von spontanem Impuls zu deutschtypischer Organisationslust.
Fest steht so viel: Das „Kreiskulturhaus Lichtenberg“ (heute: Kulturhaus Karlshorst) richtete in den Jahren 1974 und 1975 diverse humorvoll-satirische Lesungen von C.U. Wiesner aus, die „Jazzumrahmung“ beinhalteten. Als Jazzliebhaber Wolf-Dieter Preschner die Mitarbeit im Kreiskulturhaus antrat, zogen dort neue Verhältnisse ein. Das Haus richtete nun Jazzvorträge aus, die in der Veranstaltungsserie „Jazz zum Hören und Tanzen“ gipfelten. Diese Veranstaltung wurde praktisch aus dem Stand zum unumstrittenen Publikumsrenner. „Jazz zum Hören und Tanzen“ oder „Jazz für Sie“, solche Titel hören sich mit heutigen Ohren hölzern und reichlich gestelzt an. Aber selbst moderne oder freie Jazzveranstaltungen trugen in der DDR Namen dieser Kategorie, einfach deshalb, weil man sie erstklassig den Behörden verkaufen konnte. Der Staat begann nach der Ulbricht-Ära die Jazzförderung schritt-weise zu institutionalisieren und so verfügten viele Jazzveranstalter gegen Ende der 70er über eine gute finanzielle Ausstattung, die sie zur Realisierung ihres Wunschprogramms einsetzten. Auch im Kreiskulturhaus verkürzten sich die zeitlichen Abstände der Jazzabende, die ursprünglich vierteljährlich ausgerichtet wurden, immer weiter und im Jahr 1982 einigte man sich auf eine regelmäßige Monatsreihe.
Das Gros der Bands, die im über 200 Gäste fassenden Haus seit 1976 auftraten, rekrutierte sich aus Berliner Amateurjazzbands. Von den 10 Ostberliner Bands traten am häufigsten Papa Binnes Jazzband, das Jazz Collegium Berlin mit Ruth Hohmann, die Tower Jazzband und die Berlin Jazz Makers auf. Auch aus anderen Landesteilen wurden Gäste eingeladen, etwa die Bourbon Jazz Band (Zwickau), Sidelights of Swing und Hot & Blue (Meerane), Kasseturm Jazzband und Blamu (Weimar), Jazz-Enthusiasten (Leipzig), Uni Jazzband (Halle), Dixieland Stompers, Oldtime Memory Band und The Dixielanders (Jena), Dahme River Jazzband (Königs Wusterhausen), Elb Meadow Ramblers, Blues Wonder Jazzband und Thomas Stelzer Trio (Dresden). Schwierig, aber nicht unmöglich waren Engagements aus dem sozialistischen Ausland, etwa aus Prag, Warschau, Wroclaw oder Tallin. Auftritte von Westbands waren die absolute Ausnahme, nur zwei Gruppen („Mountain Village Jazzmen“ und Vince Weber) schafften es (politisch bedingt) in das Programm des „Jazz Treff“. „In beiden Fällen schlug die generell hochschäumende Karlshorster Publikumsbegeisterung regelrecht zum Orkan um“, berichtet Karlheinz Drechsel im Jubiläumsheft des „Jazz Treff“. „Hier wurde – als Nebeneffekt – unverkennbar deutlich, in welchem Maße die Veranstaltungen für viele Jazzfreunde im Ostteil der Stadt auch ein ‚Ventil’ darstellten, eine ‚Insel’ oder ‚Nische’ im Alltag bedeuteten.“ Drechsel beteiligte sich nahezu von Anfang an am Jazzgeschehen in Karlshorst. Seine Prominenz als Rundfunkjournalist und „Gesicht“ des Dixieland-Festivals in Dresden, verschaffte ihm die notwendige Sachkenntnis und die Autorität, um seit 1977 auch den „Jazz Treff“ auf unnachahmliche Weise durch das Programm zu führen. Die Besucher erlebten einen weiteren Aufschwung der Jazzaktivitäten, als der heutige Leiter des Kulturhauses Karlshorst, Jürgen Ast 1983 die neue Programmreihe „Jazz Kontakt“ aufzog und erstmals Modern Jazz im Kreiskulturhaus gespielt wurde.
„Jazz Kontakt“ wurde passender Weise von Karlheinz Drechsels jüngerem Sohn Ulf Drechsel durch das Programm geleitet. Im Kreiskulturhaus konkurrierte nun monatlich eine Auswahl der besten Dixieland- und Modern Jazz-Formationen Ostberlins. Der Zuschauerquerschnitt und die musikalische Präsentation unterschieden sich gewaltig. „Jazz Kontakt“ stellte – wie der Name es bereits andeutet – die Bands radikal mitten im Publikum auf, es handelte sich oft um Workshop-Besetzungen. „Künstlerische Kreativität“ war der alles entscheidende Faktor. Folgerichtig wanderte die Veranstaltungsreihe „Jazz Kontakt“ jedoch bereits nach zwei Jahren Richtung Berlin-Mitte ab, dort, wo nicht nur der Jazz immer kritischer brodelte. Keine StilschrankenIst die Trennung zwischen neuem und alten Jazz also für die DDR typisch? Keineswegs! Viele Konzertbesucher suchten nicht den einen speziellen Jazzstil, sondern das Flair, das vom Jazz allgemein ausgeht, den Impuls und den Ausbruch. Eine ideologische stilistische Abgrenzung wie im Westen kannte die DDR-Szene nicht, auch wenn hüben wie drüben die Geschmäcker verschieden waren.
Trotz unterschiedlicher individueller Jazzvorlieben behielt in Karlshorst bis zur Wende der Dixieland-Jazz die Nase vorn. Höhepunkte der Jazzsaison waren der Jahresauftakt „Dixieland um Mitternacht“, bei dem sechs Gruppen zwischen 21 Uhr abends und 3 Uhr morgens dem Publikum einheizten, sowie die „Dresden-Nachlese“, ein eher konzertanter Abend. Außerhalb der offiziellen Veranstaltungen organisierten die Dixieland-Aktivisten Claus Engelmann und Diethard Kaliski jährlich halb-private „Riverboat-Shuffles“ und „Eisenbahn-Jazzfahrten“, bei denen vor allem die Stammbesucher weiter zusammen wuchsen. Erst nach der Wende und der Vereinsneugründung durch Jürgen
Ast, Karlheinz Drechsel, Claus Engelmann und Diethard Kaliski zerbrach
Stück für Stück die Dixieland-Dominanz. Heute umfasst die
musikalische Palette Dixieland, Swing, Blues, Boogie Woogie, Big Band
und Mainstream. Beliebt sind nach wie vor die Samstagsveranstaltungen,
dazu kommen Video-Vorträge, Fotoausstellungen, Reisen zu nationalen
und internationalen Jazz-Festivals und natürlich Sonderveranstaltungen
wie die „Dresden-Nachlese“. Die Umkleideräume der Bands sind geradezu Tempel der Bescheidenheit. Wer als Musiker dorthin mit einem modernen Bandbus anreist, der wird regelrecht auf den Boden der Tatsachen zurück gerissen. Kahle Wände, Sperrholzschränke, uralte Waschbecken und auf dem Tisch die obligatorische Flasche Bier. Als sich die Polnische Band Hagaw einfindet, läuft dem Fotograf ein Schauer über den Rücken. Die Polen kommen wie von einem anderen Stern, sie sind mürrisch und zeigen selten ihre schlechten Zähne, sie stimmen ihre Instrumente und bleiben angesichts der ärmlichen Umgebung völlig ungerührt, gleichgültig, gelangweilt. Irgendwie scheinen sie in dem Raum genauso wenig anzukommen, wie das trübselige Mobiliar um sie herum. Oder ist es vielleicht umgekehrt? Gehören sie schon zu lange dazu? Das totale Kontrastprogramm spiegeln die Mienen der Organisatoren wider. Vorsitzender Heinz Georg Schubel strahlt angesichts des Publikumsandrangs. Der Hauptverantwortliche des Abends, Michael Leonhardt, hat für ein festlich glänzendes Haus gesorgt, die Tischzuweisung funktioniert penibel genau und die Kellner flitzen zwischen den Gästen herum und reichen deftiges Essen und Trinken. Karlheinz Drechsel steht ununterbrochen in einer Traube von Menschen, die teilweise über Hunderte von Kilometern angereist sind und ihm die Hand schütteln wollen beziehungsweise fröhlich Erinnerungen austauschen. Vor der Bühne hat Tonmeister Rainer Schach seine computergesteuerte Regie aufgebaut. Für Nachwuchs ist gesorgtMitten durch den Trubel flitzen beinahe unbeachtet mehrere Jungs, die erst verschwinden, als Moderator Karlheinz Drechsel nach dem Mikrofon greift und das Publikum Willkommen heißt. Dann wird es eigenartig. Karlheinz Drechsel lässt eine Schimpfkanone in Richtung Fernsehen los, das mit einer „dilletantischen und entsetzlichen Sendung“ über das diesjährige Internationale Dixieland-Festival in Dresden berichtet habe. „Das war Wasser auf die Mühlen derjenigen Leute, die Dixie nicht mögen“, zürnt Drechsel. „Ich bin froh, dass mein Gesicht in diesem Beitrag nicht zu sehen war.“ Wie sehr Karlheinz Drechsel den Nerv der Karlshorster Gemeinde trifft, zeigt die Publikumsreaktion. Unmittelbar neben mir schreit jemand „Bravo!“ und energischer Applaus brandet auf. Jetzt lächelt der Moderator spitzbübisch. Wenigstens die eigenen Reihen stehen verlässlich zusammen! Und plötzlich steht die Blume Family mit ihren Jungs auf der Bühne, die Enkelkinder von Manfred Blume, die Söhne von Bandleader Alexander: Cornelius (Trompete), Daniel (Klarinette und Altsaxophon) und Maximilian (Schlagzeug und Gesang). An der Posaune steht der Chefarzt der Uni-Klinik Greifswald, Professor Gunter Mlynski. Die einstudierten Familien-Gags sitzen und der erst elfjährige Maximilian hat ein starkes Feature als Drummer und Sänger. Der Familienband aus Deutschland folgt die „Hagaw Association“ und wieder enthält die Ansage eine hintergründige Pointe für das gereifte Publikum. „Als ich den Trompeter Stanislaw Piwowarski 1964 kennenlernte, hatten wir beide die selbe Figur. Er hat seine behalten“. Das Publikum brüllt und Männer zwinkern sich grinsend über die Tische zu. Hagaw hat zu Ostblockzeiten den Klamauk in den osteuropäischen Dixieland eingeführt. Mit Erfolg, wie man auch heute Abend sieht. Nach der Pause änderte sich das musikalische Erscheinungsbild erneut in unvorhersehbarer Weise. Die dänische Gruppe „Bla Mandag Jazzband“ betätigt sich mit 100 Prozent Einsatz als Stimmungskanone. Über Geschmack lässt sich bekanntlich streiten und auch das Publikum reagiert uneindeutig. Einerseits will man mitfeiern, aber so richtig ausflippen, wie es die Sängerin Lisa Bentsen fordert, tut hier auf Knopfdruck sicher keiner. Aber das Publikum beginnt zu tanzen, obwohl die „Dresden Nachlese“ als Konzert gilt. Jazz at it’s roots! Wir (jüngeren) Reporter verlassen das Kulturhaus im Mondschein mit einem ulkigen Gefühl im Bauch. Haben wir das etwa geträumt oder war das jetzt alles ganz real? Vereinsaktivist Michael Leonhard beruhigt uns bei einem Bier: Hier sind keine übernatürlichen Kräfte im Spiel! Der „Jazz Treff Karlshorst e.V.“ ist eine Hauptantriebskraft der „Jazzinitiative Berlin e.V.“ und steht damit in vorderster Reihe bei der Repräsentation des Berlin Jazzgeschehens. Der Verein bedient seine Zielgruppe einfach so genau, dass das Programm inzwischen bereits zur Hälfte Gäste der Westlichen Stadthälfte anzieht. Ein wichtiger Grund: Der „Jazz Treff“ ist in der Gegenwart angekommen und vermittelt trotzdem noch für eine Weile das Gefühl einer vergangenen Epoche. Al Weckert |
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