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Jazzzeitung

2011/02  ::: seite 13-14

rezensionen

 

Inhalt 2011/02

Inhaltsverzeichnis

STANDARDS

Editorial / break / Nachrichten aus der Jazzszene / kurz, aber wichtig Jazzlexikon: Charlie Mariano Farewell: George Shearing


TITEL - Basar der Perspektiven
Über den Jazz in der arabischen Welt

DOSSIER Im Osten viel Neues
Die Pianisten Djangirov, Hamasyan und Neselovskyi


Berichte

Lisa Bassenge entdeckt ihre Muttersprache // Bujazzo: Frühjahr-Arbeitsphase // Das Festival Women in Jazz // Armin Mueller-Stahl veröffentlicht mit 80 Jahren sein Debüt-Album


Portraits

Brigitte Angerhausen // Nguyên Lê // Vokalquartett „Niniwe“ // Magnus Öström // Klaus Treuheit // Neuer Deutscher Jazzpreis 2011 // Neue CDs von Acoustic Music


Jazz heute und Education
Jazz e.V. Dachau ist umgezogen // Zwölf CDs mit Schätzen der „Free Music Production“ // jazzahead! 2011: ein Interview mit Ulrich Beckerhoff // Südtirol Jazzfestival 2011 // Jazz-Workshop für Studenten und Amateure im Münchner Gasteig // Abgehört: Zum 85. Geburtstag von Miles Davis
Miles Davis’ Solo über „Sweet Pea“

Rezensionen und mehr im Inhaltsverzeichnis

CD-Rezensionen 2011/02

Joe Lovano/US FIVE
Bird Songs

Blue Note 50999-9-05861-25

Um es gleich vorweg zu nehmen: Joe Lovano und seiner Band US FIVE ist mit dem Album „Bird Songs“ ein großer Wurf gelungen, ein ganz großer Wurf! Der Titel ist Programm und lässt keinen Zweifel aufkommen, was den geneigten Hörer erwarten soll. Was dieser dann hört, ist letztlich nur für diejenigen eine echte Überraschung, die Joe Lovano NICHT kennen. Begriffe wie Nostalgie oder rückwärtsgerichtet sind ihm fremd. Und so sind seine „Bird Songs“ denn auch weniger bis kein „Tribute“, als mehr ein sehr persönlicher Blick auf einen der wichtigsten Saxophonisten des Jazz. Dabei berücksichtigt Lovano bei seiner Interpretation sowohl Parkers Roots (Hawkins, Young oder Webster), als auch Einflüsse der Musiker, die nachhaltig von ihm beeinflusst wurden wie Coltrane, Coleman oder Shorter. Das Ergebnis sind zum Beispiel ein äußerst melancholisch gespieltes „Moose the Mooche“ oder ein für seine Verhältnisse frei interpretiertes „Ko Ko“. In erster Linie aber präsentiert „Bird Songs“ Joe Lovanos Lesart des genialen Charlie Parker als Essenz aus Tradition und Moderne in der für ihn typisch lyrischen Spielweise auf dem Tenorsaxophon. Nur für die herrliche „Blues Collage“ setzt Lovano das Altsaxophon ein, auf „Lover Man“ erklingt ein G-Mezzosopran und seine kurze Verbeugung „Birdyard“ erinnert durch sein Aulochrome genanntes Doppel-Sopran nicht unbeabsichtigt an Roland Kirk. Letztlich funktioniert der Spirit des Werkes dank traumwandlerischem Zusammenspiel von US FIVE und der ungeheuren Dynamik der Band.
Thomas J. Krebs

Pablo Held
GLOW

Pirouet PIT3053

Pablo Helds Debut „Forest Of Oblivion“ liegt drei Jahre zurück. 2010 folgte sein Abschluss an der Hochschule für Musik in Köln und gleichzeitig sein zweites Trio-Album „Music“. Nun ist seine neue CD „Glow“, ebenfalls auf dem Münchner Label Pirouet Records, erschienen. Dabei wurde sein klassisches Trio Konzept mit Robert Landfermann und Jonas Burgwinkel erweitert um einen Bläsersatz, unorthodoxe Instrumentierung mit Henning Sieverts und Dietmar Fuhr zusätzlich an Bass/Cello, Kathrin Pechlof an Harfe und Hubert Nuss an Harmonium und Celesta. So ungewöhnlich dies auf den ersten Blick anmutet, so spannend klingen scheinbare Gegensätze und vielschichtige Klangfarben. Pablo Held ist zur Zeit einer der wenigen jungen Pianisten, die mit klarem Kopf und freiem Geist Bühne oder Studio betreten. Viele der Stücke auf „Glow“ sind komponiert, aber – und gerade das zeichnet Helds musikalisches Denken aus – größtenteils ohne feste Arrangements. Kleine Skizzen habe er geschrieben, die „den Musikern die größtstmögliche Freiheit geben damit anzustellen, was sie möchten“. Kommunikation ist damit großgeschrieben und eröffnet spannende Dialoge. So einfach nebenbei sollte man dies nicht konsumieren, sondern sich voll und ganz auf die Musik einlassen. Der Hörer wird dafür großzügig mit einem vielschichtig harmonischen Klangerlebnis belohnt. Schon heute ist Pablo Held nicht nur ein fantastischer, höchst inspirierter Pianist, sondern bringt mit seinem Schaffen die lebendige deutsche Jazzszene zum „Glühen“!
Thomas J. Krebs

Siiri Sisask
Lingua Mea

JAZZ’n’ARTS JnA 5211/in-akustik

Die estnische Musikern Siiri Sisask hat in enger Zusammenarbeit mit dem Pianisten Kristjan Randalu ein Album eingespielt, welches sofort aus der „Vocal-Kiste“ des Jazz hervorsticht: Intensive Songs sind es, die tiefe Gefühle atmen und durch ihr ganz eigenes folkig-jazziges Klangbild ungewohnt in unseren Ohren ankommen. Eine Herausforderung auch die Wahl der Sprachen: Neben ihrer Heimatsprache, dem Estnischen, singt Siiri Sisask auch auf Mongolisch, Koreanisch und dem Dialekt Seto. Dankenswerterweise wurde kein Aufwand gescheut, und so können wir im Booklet alle Texte auch in englischer und deutscher Übersetzung nachlesen. Es finden sich auf diesem Album ebenso neuarrangierte und -interpretierte Folksongs wie Eigenkompositionen der Künstlerin – das Arrangement übernahm überwiegend Kristjan Randalu. Auch der Titel „Lingua Mea“ hat einen entsprechenden Sinn, dreht sich doch Sisasks empathisch-melancholischer Gesang um kongenial poetische und philosophische Texte – und dies in einem ihr ganz eigenen Umgang mit Sprache, Inhalt und entsprechender Emotion. Eingespielt wurde die CD mit Band und Streichquartett. Die herausragende, klassisch ausgebildete Stimme von Siiri Sisask erfährt dadurch eine ausgezeichnete Unterstützung. Fast überflüssig zu sagen, dass auch die Produktion eine Glanzleistung ist – aufgenommen in den zu Recht gerühmten Bauer Studios in Ludwigsburg. Auf „Lingua Mea“ gilt es einen neuen Klangkosmos zu entdecken – und vielleicht lüftet sich gar ein Stück „estnische Seele“?!
Carina Prange

Oliver Lake, Christian Weber, Dieter Ulrich: For a little Dancing
Intakt records 2011

„Reiner Jazz ist ein Widerspruch in sich“, sagt der Saxophonist Oliver Lake. Denn eine lebendige Interaktion, die neues hervorbringt und Intensität entfaltet, braucht den permanenten Umwandlungsprozess. Sich beflügeln, sich reiben und inspirieren und dabei jedes sichernde Auffangnetz zu ignorieren, ist hier alles. Solche Gedanken kommen auf Anhieb ins Spiel, wenn der US-Saxophonist auf wesentlich jüngere Kollegen, nämlich den Bassisten Christian Weber sowie den Schlagzeuger Dieter Ulrich trifft. Was in zehn Stücken der vorliegenden CD passiert, erfüllt in idealtypischer Weise den hohen Anspruch des Schweizer Labels an die ungebremste Freigeistigkeit. Modern Jazz, Freejazz, Bebop oder Blues – sowas haben die drei Musiker im Blut, aber sie nutzen es assoziativ wie ein Rohmaterial. Sie schlagen die gewünschten Partikel heraus, um die­se den eigenen wilden Ener­gieströmen einzuverleiben. Groß und strahlend steht Oliver Lakes Sound oft wie ein Fixstern über allem. Sein Alt-Saxophon zeichnet lange Linien, stürzt sich in mutigem freien Fall in Klangkaskaden hinein, atmet in lodernden Crescendi und überschlägt sich in jähen Überblas-Attacken – aber behält immer die glasklare Phrase, das beredte Statement im Blick. Derweil die Rhythmusgruppe alles dransetzt, um den Titel dieses Werkes zu rechtfertigen: „For a little dancing“. Wuchtige Akzentschläge umspielen zupackende repetitive Muster, die Christian Weber abgrundtief aus den Saiten hervorbrechen lässt. Ostinato-Parts sind hier Treibmittel, Widerstand ist zwecklos.
Stefan Pieper

Frederik Köster Quartett
Momentaufnahme

Traumton Records 4551

Besser könnte der Moment kaum sein: Nach dem Neuen Deutschen Jazzpreis 2009 und dem ECHO Jazz sowie dem WDR Jazzpreis 2010 kann die Reise um so beflügelter weitergehen. Wobei sich der Titel der CD eigentlich auf jenen Zeitraum im Herbst 2009 bezieht, in dem die Suite entstand, die zwischen dem Prolog „Arabesque“ und dem Epilog „Schaltjahr“ den Kern der Aufnahme bildet. Einflüsse der Kompositionslehre Olivier Messiaens in „3x211“ belegen die Ernsthaftigkeit und Tiefe der musikalischen Sorgfalt von Frederik Kösters jazziger, rockiger, mal harter, mal zarter „Momentaufnahme“, die sich dem Leben von vielen Seiten nähert, lyrisch, poetisch in der sanften Flügelhornballade „Liebeslied“, geschichtsbewusst, politisch, konkret auf den Spuren des „2. Juni“, meditativ und in sich gekehrt beim „Prayer“. Alles ist drin, moderner Jazz wie klassische Moderne, minimal music und Heavy Metal, Komplexität und Transparenz, Verharren und Ausbruch, Initiative, Energie, Entschlossenheit. Kös­ter verfügt über eine sehr individuelle Trompetenstimme, kraftvoll, differenziert, durchdacht und elastisch im so kommunikationsstarken wie an anderer Stelle bewusst kantigen Zusammenspiel mit einer dicht aufeinander eingehenden Band. Tobias Hoffmann, g, effects, Robert Landfer­mann, b, und Ralf Gessler, dr, sowie in Prolog und Epilog Niels Klein, bcl, ts, reichern die Momente an mit passgenauer Aufmerksamkeit und facetten­reicher Bandbreite.
Tobias Böcker

Arturo Sandoval & WDR Big Band
Mambo Nights

Connector 59886-2 (In-Akustik)

Seine exzeptionellen Fähigkeiten als Trompeter des Latin-Jazz hat Arturo Sandoval aus Kuba, zwar 61 Jahre alt, aber noch vital und fidel, während animierender „Mambo Nights“ mit der WDR Big Band ausgiebig vorgestellt. Subtil gestreute Klangfarben im Arrangement von Michael Philip Mossman zum Klassiker „Come Candela” von Mongo Santamaria sind das ideale Prisma für Arturo Sandoval, um das Ambiente aus Vokalchor und Flötenpassagen mit Phrasen im extrem hohen Register zu schmücken. Aus den rhythmischen Verschachtelungen in „Manteca” von Dizzy Gillespie strömt nach kurzem Intro bald so viel Energie, dass Arturo Sandoval dadurch zu einem Solo äußerster sequentieller Dichte beschleunigen kann, beim „Mambo 9/34” sogar noch zum chromatischen Turbo-Tempo gesteigert. Die sonst eher lässigen Frequenzen dieses Stils haben dann in springenden Riffs des „Mambo Sandoval” von Michael Philip Mossman, eine Hommage an seinen Gaststar, mit Humor eigenen Kick bekommen. Auch wenn der Spot bei dieser Quintessenz eines Lebenswerks stets auf Arturo Sandoval gerichtet ist, haben andere versierte Solisten der WDR Big Band wie insbesondere Pernell Saturnino (Perkussion), Karolina Strassmeyer (Alto Sax) und Frank Chastenier (Klavier) genügend Freiraum für inspirierte Episoden, sodass die „Mambo Nights” etwas Nostalgie mit zeitgemäßer Verve enthüllen.
Hans-Dieter Grünefeld

Chinaza
Home

Nagel Heyer 2094 (Rough Trade)

Wo für sich selbst „Home“ sei, also Heimat oder Zuhause, hängt nicht (nur) von geographischen Koordinaten ab. Erinnernd kann es der Geburtsort sein, ein Irgendwo beim Wunsch für eine Zukunft in Frieden. Nigerianerin und Deutsche zugleich hat Chinaza für ihr Album diesem Sujet elf poetische Jazzsongs gewidmet. Schon zu Beginn zitiert sie über weiche Arpeggios ihres Klavier- und Kompositionspartners Sebastian Weiss den berühmten Satz von Martin Luther King: „I Have A Dream”, nämlich dass alle Menschen gleich geboren sind. Nicht wie ein Prediger, sondern wie eine Troubadoura, deklamierend. Und dann blüht aus diesem lyrischen Keim durch Wechsel zum pochenden Groove eine Hymne. Mit Emphase singt sie über die Zugehörigkeit von „Four Women” und freut sich „Every Moment” über vertraute Körperkontakte der Liebe. Doch diese zarten Gefühle trüben sich sukzessive ein, denn es folgen kontemplative Balladen, über Flüchtlinge: „They Stood Up For Love” und die bedrängende Frage des einzigen deutschsprachigen Songs „Wohin?” im geschmeidigen Jazz-Bossa-Stil. Eindeutig ist „Home” für Chinaza nicht, zu erkennen eher in vielen Facetten his­torischer oder persönlicher Situationen, die ausweglos oder erwartungsvoll waren. Seelenverwandt erzählt sie davon, aufgehoben in dezenten Afro-Rhythmen und Melodien ohne Schnörkel mit ihrer swingenden Band und eigener sensiblen Vokalkunst.
Hans-Dieter Grünefeld

Steffi Denk & Flexible Friends
Unterwegs in Sachen Liebe

Balance Music

Schon lange kein Geheimtipp mehr sind die Flexible Friends um Everybody’s Darling Steffi Denk. Die eindrucksvolle Stimme Denks gepaart mit dem virtuosen Spiel der vier Musiker Martin Jungmayer (sax), Norbert Ziegler (p, fl-h), Michael Gottwald (dr) und Markus Fritsch (b) verschafft dem Zuhörer einen Gänsehautmoment nach dem anderen. Mal frech, mal humorvoll, mal ruhig, aber immer mit überaus viel Gefühl nähern sich die Fünf dem großen Thema Liebe. Dabei geht es aber nicht nur um große Gefühle, sondern auch mal um die Schwächen von Männern und das Können-wir-nicht-Freunde-sein-Problem. Zwischenzeitlich fühlt sich der Hörer an einen Abschlussball zu vorgerückter Stunde erinnert, an Pärchen, die sich auf der Tanzfläche eng umschlungen langsam zur Musik drehen. Oder beim Hören der Chansons an zwei Frischverliebte, die händchenhaltend durch Paris schlendern. Trotzdem driftet das Album nicht in Richtung Kitsch ab. Sehr gelungen ist zweifelsohne eine frische Version von „I can see clearly now“. „Can’t we be friends“, ein lässiges Duett von Denk und Charlie Meimer, klingt dagegen unverkennbar nach 60er-Jahre-Swing. Bei „When I fall in love“ durften sich die vier Musiker auch mal solistisch austoben. Herausgekommen ist dabei ein wunderbar weiches Instrumentalstück, bei dem vor allem das Saxophon und das Klavier bestechen. Perfekt also zum Entspannen, Tanzen, Träumen ...
Corinna Eindorfer

Erika Stucky
Stucky Live 1985-2010

Traumton records 4548

Bewegte Bilder erübrigen sich, so eindringlich und imaginativ ist die Stimme von Erika Stucky, der ironisch rebellischen Schweizer Antwort auf jedwede gutbürgerliche Gemütlichkeit. Das 25-jährige Bühnenjubiläum ist Anlass genug, 16 bisher nicht zu habende Live-Tracks dem Ohr der Öffentlichkeit anheim zu geben. Das geht ziemlich fetzig los mit dem 70er-Jahre Sweets-Kracher „Ballroom Blitz“ und dem starken Blech von Bubbles+Bones alias Ray Anderson, tb, Art Baron, tb, und Matt Perrine, sousaphone, kühlt auf Lavatemperatur ab mit Annie Lennox’ „Why“, begleitet von Art Baron, tb und Earl McIntyre, tuba, gibt dem „Afro Blue“ vokale Farbe mit „the sophisticrats”, Eva Enderlin, Vonne Geraedts und Clara Buntin, zelebriert gemeinsam mit der WDR Big Band Köln & George Gruntz im großen Stil und mit Schweizer Kolorit „You Are My Sunshine“ und und und. Led Zeppelin, Frank Zappa und die Rolling Stones kommen zu Ehren im unvergleichlichen, bodenständigen, internationalen musikalischen Terrarium Erika Stuckys, die mit den Begriffen Jodel-Punk oder Anti-Heidi so gar nicht einzufangen oder zu beschreiben ist, Screamin Jay Hawkins und Eminem, Britney Spears, Patsy Cline und Doris Day. Dabei dienen bekannte Songs Erika Stucky als Sprungbrett puren gesanglichen Ausdrucks, unmittelbarer Emotion und distanziert subversiver Intelligenz, deren Stärke nicht zuletzt ihre lustvolle Unberechenbarkeit ist.
Tobias Böcker

The Classic Columbia and Okeh Joe Venuti and Eddie Lang Sessions (8 CDs)
MOSAIC MD 8 – 213/rec.1926-34

Stephane Grappelli und Django Reinhardt, die ihr berühmtes Quintette du Hot Club de France 1934 gründeten, hatten zwei Vorgänger: Joe Venuti und Eddie Lang, jene alles in allem noch übertrafen. Schon bei deren ersten Aufnahmen 1926 zeigt sich das: Sie spielten noch frecher und harmonisch ausgefuchster; dazu gibt es immer wieder arrangierte Passagen und überraschende Kabinettstückchen. Später, in „Joe Venuti‘s Blue Four“ kam noch ein Bass-Saxophon dazu, vor allem von Adrian Rollini hinreißend gespielt. Die vorliegende Kassette, wieder eine Meisterleistung von MOSAIC RECORDS, enthält eine Vielzahl von Besetzungen mit Venuti und Lang, oder auch nur mit einem von beiden, die auch Entdeckungen bieten: Eddie Lang als feinfühliger Bluesgitarrist im Duo mit Lonnie Johnson und als Begleiter von Bessie Smith, Tommy Dorsey als Armstrong-inspirierter Trompeter (!), Bix Beiderbecke als Pianist (nein, ich meine nicht „In a Mist“), Harold Arlen – später Komponist von Standards wie „Come Rain or Come Shine“ und „Get Happy“ – als Sänger … Manche der größeren Bands klingen zickig – bis Venuti oder Lang (oder beide) mit einem Solo sagen: „Freunde, nicht so schlimm, wir sind ja auch noch da!“ Die 194 Aufnahmen wurden von Toningenieur Doug Pomeroy hervorragend restauriert. Und das 44-seitige Booklet im Großformat zu lesen macht Spaß: kein Herumphilosophieren, kein Wortgeklingel, sondern Wissen, aus jahrzehntelanger Erfahrung gespeist. Vivat MOSAIC!
Joe Viera

Luftmentschn
Grosses Kino

südpolmusic

Die Luftmentschn haben sich auf ihrem neuen Album „Grosses Kino“ nun rundum der Instrumentalmusik verschrieben, man kann es programmatische Weltmusik nennen. Seit 2003 gibt es die exzentrische Combo, die unter anderem Träger des Yehudi Menuhin-Förderpreises 2005, des Fraunhofer-Preises 2009 sowie Gewinner der Bucharest International Jazz Competition 2008 und des Wettbewerbs „Jocurile delfice“ (Russland) ist.
Mit fünfsaitiger Viola, Geige, Gitarre (Florian R. Starflinger), Kontrabass (Michael Unfried Fenzl), Akkordeon, Klavier (Vladislav Cojocaru) und Schlagzeug (Jan-Philipp Wiesmann) bieten die Luft­mentschn gewohnt mit spitzem Schnurrbart, gegelter Tolle und in Nadelstreifen auf diesem Album tatsächlich ganz großes Experimentier-Kino. Obwohl es ein bisschen schade ist – keine Brecht’schen Moritaten und „gruselettiger“ Sprechgesang mehr –, dass die Vier auf diesem Album gänzlich ohne Stimme das Musikkabarett und -theater hinter sich lassen.
Die dreizehn Stücke, mit so klingenden Titeln wie „Golfo de Biskaia“ oder „Blaue Moschee“, überzeugen dennoch; durch kaleidoskopartige Einfälle, frische Wendungen und natürlich Können. Cojocuras Spiel auf dem Akkordeon ist eine musikalische Teufelsaustreibung, das Verweilen von Kontrabass und Viola in leisen Teilen lässt jegliches Zeitgefühl vergessen. Die Stücke fließen, sind unorthodox, aber nicht sperrig, tanzbar, aber nicht vorhersehbar. Langeweile kommt bei diesem Album sicher nicht auf.
Nadine Lorenz

Cassandra Wilson
Silver Pony

Blue Note/EMI

Live-Aufnahmen der Sängerin Cassandra Wilson waren seit 1991 nicht mehr auf Tonträgern zu hören. Und so verspricht ihr aktuelles Album Ausnahmen von der Regel im Studio, andere Nuancen von Instrumentals und Gesang im Konzert.
Ganze drei von elf Songs stammen aus Wilsons Feder, eine Handvoll gab sie live bei Auftritten in Europa. In einer knappen Stunde erklingt ihr Organ gefühlte zehn Minuten und von mittlerem oder hohem Tempo regelrecht abgehalten. Das Album beweist keine Pferdestärken, es nimmt so gar keine Fahrt auf. An den Mitmusikern Wilsons mag das nicht liegen. Bassist Reginald Veal, Gitarrist Marvin Sewell und Perkussionist Lekan Babalola sind in Hochform, sie vermögen aber den in verschiedenen Studios produzierten Stücken, in denen Konzert- und Studioaufnahmen künstlich befruchtet wurden, keine verbindende Struktur zu geben. Das Titelstück Silver Pony, ein Instrumental, dauert, in Worten, siebenunddreißig Sekunden und geht in Applaus über, den es live nie bekommen hat. Eine leidenschaftliche Nacht verheißt mehr als der Text vom Silver Moon, unter dem getanzt und gespielt wird. Für wie anspruchslos werden heutige Hörer eigentlich gehalten? Die Idee, eine Kindergeschichte von Wilson, die als Vierjährige zum ersten Mal auf einem Pferderücken saß, mit den Zügeln in Händen der seit 30 Jahren erfolgreichen Musikerin zu vermählen, weist auf ein schlüssiges Thema hin. Auf ihr bestes Pferd im Stall, die Verbindung kraftvollen Gesangs mit außergewöhnlichen Texten, hätten nicht so viele Reiter satteln sollen.
Franziska Buhre

Jasper van’t Hof’s Pili Pili
Ukuba Noma Unkungabi

JARO 4297-2/Jaro Medien

Sechs Jahre nach seiner „PS“, Post-Scriptum, betitelten Doppel-CD ist der holländische Keyboarder und Komponist Jasper van’t Hof rückfällig geworden. Eine Neuauflage seines langjährigen Bandkonzepts „Pili Pili“ mit Ethno-Worldjazz also. Diesmal mit einer Sängerin, Smangele Khumalo, aus einem südafrikanischen Township in KwaZulu-Natal – und mit musikalisch eindeutig europäischer Orientierung. Das macht erst mal stutzig. „Pili Pili“ lebte immer aus dem faszinierenden Konglomerat moderner afrikanischer und europäischer Grooves und afrikanischer Musiker. „Das wollte ich jetzt einmal umdrehen“, sagt van’t Hof, „und von einem europäischen musikalischen Gedanken ausgehen“. Mit dem Perkussionisten Dra Diarra aus früheren Tagen ist immer noch ein Afrikaner dabei. Die übrige Besetzung mit der großartigen holländischen Saxophonistin Tineke Postma, dem rumänischen Geiger Vasile Darnea, dem Cellisten Anton Peisakhov und Bassist Erik von der Westen – ohne Schlagzeug – präsentiert als Saitenfraktion eindeutig europäisches Erbe. Gegenüber der früheren Rasanz und dem afrikanischen Groove-Feuerwerk ist zwar das neue „Sein oder Nichtsein“-Album – so die Übersetzung des Zulu-Titels „Ukuba Noma Unkungabi“ – deutlich europäischer, ein wenig beschaulicher, erhabener – der Groove aber stimmt immer noch. Wenn van’t Hofs Finger behende über die Tastatur seiner Keyboards oder dem Flügel zu flitzen beginnen, kommt unweigerlich ein mitreißendes Gefühl voller Rhythmus, Spannung und Tempo heraus.
Michael Scheiner

Günter Baby Sommer percussion & strings: Whispering Eurasia
Neos Jazz 40903

Schlagzeuger Baby Sommer zu Xu Fengxia, die vergnügt lachend auf ihrer überdimensionalen chinesischen Zither, der Guzheng, zupft. Über ihre Geige hinweg schaut Klangforscherin Gunda Gottschalk konzentriert auf Akira Ando, den japanischen Bassisten von „percussion & strings“, der in sich versunken sein Instrument streicht. Beziehungen und Austausch, wie sie sich augenfällig im Foto der gelungenen Covergrafik zeigen, spiegeln sich auch musikalisch auf dem Album wider, welches Schlagwerker und Perkussionist Günter Baby Sommer mit den drei Saiteninstrumentalisten unter der verschmitzten Bezeichnung „Whis­pering Eurasia“ aufgenommen hat. Es wird aber nicht nur interkulturell, also „eurasisch“, geflüstert, gezischelt und poetisch zart gestrichelt auf dem außerordentlich spannenden und abwechslungsreichen Album. Wobei tatsächlich das ruhige und konzentrierte Pingpong-Spiel mit klanglichen Figuren, Glockenklängen, zartem Wispern, schattenrissartigen Streichermotiven und sanglichen Bildern Xu Fengxias den Kern dieser reizvollen, zweitägigen Studiobegegnung ausmacht. Es wird auch schon mal kräftig gefeuert, beherzt gefiedelt und gestrichen und wild über die Guzheng gefegt, die an Hackbrett und Harfe erinnert. In der „Rumba Saxonia“ gar, lustvoll glossolalisch besungen von Feng­xia, gerät das intensive Beziehungsgeflecht der Vier in einen sinnlich-lüsternen Freudentaumel verrenkter Glieder und tänzerischer Lust. Ein echter Hör- und Erlebnisgewinn.
Michael Scheiner

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