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Jazzzeitung

2011/02  ::: seite 22-23

farewell

 

Inhalt 2011/02

Inhaltsverzeichnis

STANDARDS

Editorial / break / Nachrichten aus der Jazzszene / kurz, aber wichtig Jazzlexikon: Charlie Mariano Farewell: George Shearing


TITEL - Basar der Perspektiven
Über den Jazz in der arabischen Welt

DOSSIER Im Osten viel Neues
Die Pianisten Djangirov, Hamasyan und Neselovskyi


Berichte

Lisa Bassenge entdeckt ihre Muttersprache // Bujazzo: Frühjahr-Arbeitsphase // Das Festival Women in Jazz // Armin Mueller-Stahl veröffentlicht mit 80 Jahren sein Debüt-Album


Portraits

Brigitte Angerhausen // Nguyên Lê // Vokalquartett „Niniwe“ // Magnus Öström // Klaus Treuheit // Neuer Deutscher Jazzpreis 2011 // Neue CDs von Acoustic Music


Jazz heute und Education
Jazz e.V. Dachau ist umgezogen // Zwölf CDs mit Schätzen der „Free Music Production“ // jazzahead! 2011: ein Interview mit Ulrich Beckerhoff // Südtirol Jazzfestival 2011 // Jazz-Workshop für Studenten und Amateure im Münchner Gasteig // Abgehört: Zum 85. Geburtstag von Miles Davis
Miles Davis’ Solo über „Sweet Pea“

Rezensionen und mehr im Inhaltsverzeichnis

Der Klangzauberer

Abschied vom Pianisten, Komponisten, Arrangeur und Bandleader George Shearing

Virtuose Jazzpianisten mit einem unverkennbar eigenen Stil sind nicht gerade eine Seltenheit. Aber wenige haben auch als Bandleader einen erst unverwechselbaren, dann viel imitierten Gruppensound geschaffen. Unter diesen wiederum war noch wenigeren eine kommerziell sehr erfolgreiche Karriere ohne Aufgabe des hohen künstlerischen Niveaus möglich, ein langes Leben vergönnt und schon zu Lebzeiten dank eines Hits die Unsterblichkeit sicher.

George Shearing. Foto: Thomas J. Krebs

Bild vergrößernGeorge Shearing. Foto: Thomas J. Krebs

Sir George Shearing, der am 14. Februar für immer aufgehört hat zu spielen, ward dies nicht in den Schoß gelegt. Er kam am 13. August 1919 als eines von neun Kindern in London blind und in bescheidenen Verhältnissen auf die Welt. Sein Vater sei „not the Cole Porter, but a coal porter“ gewesen, beliebte er später gerne zu scherzen. Sein Vater verkaufte nämlich Kohlen, seine Mutter, die tagsüber auf die Kinder aufpasste, putzte nachts Züge. Seine ersten Versuche, Musik zu machen, bestanden angeblich darin, Flaschen aus dem Fens-ter zu werfen: Milch-Flaschen für einen klassischen Sound, Bierflaschen für Jazz. Im Alter von drei Jahren machte er sich über das Klavier der Familie her, obgleich einige Tasten kaputt waren. Als Kind spielt er auch schon vorzüglich Akkordeon. Mit Jazz kam er durch Platten von Meade Lux Lewis, Earl Hines, Art Tatum und Fats Waller in Berührung. Von zwölf bis sechzehn erhielt er vier Jahre lang an der Linden Lodge School for the Blind erstmals Klavierstunden und schulte sich an Bach – dieses Studium der klassischen Musik ist die einzige Ausbildung, die er je erhielt. Schon mit 16 spielte er regelmäßig in einem Pub, um seine Familie zu unterstützen. Professionelle Erfahrungen erwarb er sich auch mit der aus blinden Musikern bestehenden Big Band von Claude Bampton, deren Repertoire sich an Ellington und Lunceford orientierte. Der später so bekannte Jazzkritiker Leonard Feather, selbst Jazzpianist, entdeckte ihn 1937 bei einer Jam Session und verhalf ihm zu einer regelmäßigen 15-minütigen Show bei der BBC. Er tritt zunächst mit Dixieland und Boogie in Erscheinung. Seine ersten Aufnahmen spielte George Shearing 1938 ein (seine letzten 2004!) und galt bald als „Englands Antwort auf Teddy Wilson“.

Ohne Sidemen

Schon ab 1939 machte er Soloaufnahmen und bis Mitte der 40er-Jahre spielte er die allermeisten Schellacks unter eigenem Namen ohne Sidemen ein. Solo! Es sind geschmackvolle, rundum gelungenen Platten, bei denen Shearing, der sich überwiegend über Standards hermacht, vor allem bei Boogie-Woogies (ja, Boogies) als witziger Komponist in Erscheinung tritt. Mit den Aufnahmen der großen Solisten jener Tage, Tatum, Hines, Wilson, Waller (vor allem die beiden letzteren haben sich seinem Spiel eingeprägt), lassen sich seine frühen Platten nicht messen, aber als Einstand eines gerade mal volljährig gewordenen Europäers sind sie eine kleine Sensation. Eines ist von Anfang an klar: Shearing ist vor allem ein Solopianist – und er wird es ein Leben lang bleiben, obgleich er, fast eine Ironie des Schicksals, eher für alles andere bekannt ist, für „Lullaby of Birdland“, für den charakteristischen Sound seines Quintetts oder gar für den streichergesättigten Rosa-Plüsch-Kuschel-Jazz. Vor allem die großen Solo-Alben der späten Jahre, etwa „My Ship“ (MPS, 1974), belegen seine Statur als Gigant des Solo-Klaviers: Ein phantasiebegabter Musiker mit einer formidablen Anschlags- und Pedal-Kultur, der jeden Ton (auch der Nebenstimmen!) zum Singen bringt, ein Klangzauberer, dessen feiner, an der europäischen Klavierliteratur der Romantik und des Impressionismus geschulter Sinn für Klangfarben und raffinierte Akkorde bei reharmonisierten Standards verblüfft, ein Gentleman der mit Bedacht gewählten Tonfolgen, dessen Formsinn seine Liebe für Bach verrät – so jemand braucht im Prinzip keine Begleitung, um sein Publikum stundenlang in seinen Bann zu schlagen. Andererseits: Bei aller Intuition, Hellhörigkeit, Improvisationsgabe und technischer Bravour – seine zart, aber oft in rasendem Tempo gerollten Blockakkord-Improvisationen verlangen ein Nonplusultra an Virtuosität – war er doch kein Peterson oder Garner an swing. Damit wir uns recht verstehen: die meisten Pianisten würden einiges darum geben, ihre Mitmenschen so leicht und elegant zum Wippen und Fingerschnippen zu bewegen. Shearing hatte ein ausgezeichnetes time feeling und er swingte vorzüglich, doch eben einen Tick weniger als die Konkurrenz. Dies und die Vorliebe, in netter Gesellschaft zu sein, mag einen geborenen Solopianisten dazu bewogen haben, meist in der höchst swingenden Gesellschaft anderer aufzutreten, und sei es nur ein einzelner Bassist, wie Brian Torff, mit dem er um 1980 viel zu hören war und gute Alben aufgenommen hat. Er selbst definiert sich nicht als Jazzpianist, sondern als Pianist, der gerne Jazz spielt. Und in der Tat trat er ab den 60er-Jahren sogar gelegentlich mit klassischem Repertoire auf, sogar mit Sinfonieorchestern.

Der Swingmusiker

Doch wir haben vorgegriffen. Von 1940 bis 1945 war Shearing viel für die Truppenbetreuung tätig und spielte auch viel mit dem großen Jazzgeiger Stéphane Grappelli, der während des Zweiten Weltkrieges in London weilte, während sein Gefährte Django Reinhardt in Paris geblieben war. George Shearing hatte sich also schon in England einen Namen als geschmackvoller Swing-Musiker gemacht, als er 1946 zu Besuch in die Staaten kam. „I expected to slay everyone when I got here, because I could play in the style of Art Tatum, Fats Waller, Teddy Wilson and Bob Zurke“, erinnerte sich Shearing. „Well, the people started to say ‚Oh, that‘s nice. What else can you do?‘ My wife at the time was kind of annoyed and she‘d say: ‚What do you want him to do, stand on his head?‘“ 1947 spielte er im Trio erstmals in den USA Aufnahmen ein. Nach dem USA-Besuch ging Shearing für einige Monate nach England zurück, um noch im gleichen Jahr mit seiner Familie in die USA überzusiedeln, ein mutiger Entschluss, obgleich ihm vor Jahren Fats Waller, Coleman Hawkins, Glenn Miller, Mel Powell und Leonard Feather dazu geraten hatten. In England, wo er sieben Jahre hintereinander vom Melody Maker zum populärsten Jazzpianisten gewählt worden war, galt er als die Nummer 1, in den USA war er zunächst einer von vielen guten Pianisten. Nun musste der von Teddy Wilson, Art Tatum, Nat King Cole und Erroll Garner beeinflusste Pianist, der gerade ins Lager der Modernisten wechselte, einen eigenen Stil finden. Seine Devise lautete zunächst, wie eine seiner Aufnahmen hieß, „To Be Or Not To Bop“. Viele Pianisten mischten damals ähnliche Einflüsse, denn entgegen anderslautenden Gerüchten hieß boppig Klavier zu spielen in den 40er-Jahren nicht zwangsläufig, Bud Powell nachzueifern. Interessanterweise war Hank Jones, den er manchmal als Begleiter Ella Fitzgeralds ersetzte, eines seiner frühen Rollenmodelle unter den Generationsgefährten. Und auch der jüngst verstorbene Billy Taylor lag stilistisch nicht weit entfernt.

Innerhalb von zwei Jahren avancierte George Shearing in den Staaten bei Meinungsumfragen zu einem der führenden Pianisten. Weil er mit seiner verhaltenen Dynamik, seinem Formsinn, dem ebenmäßigem Fluss seiner Musik dem Cool Jazz nahestand, erwartete man wohl von ihm in jenen Tagen, dass er eine Art zweiter Lennie Tristano werde, der andere große blinde Pianist jener Jahre, der als eigentlicher Schöpfer des Cool Jazz gilt. Dessen kompromisslose Strenge konnte aber für einen an weichem Wohlklang und Publikumsnähe interessierten Musiker nicht vorbildlich sein. Je mehr sich der Erfolg einstellte, desto weniger intellektuellen Anstrich hatte Shearings Musik. Überhaupt wurde Shearing in den Staaten sehr bald klar, dass in Amerika kein Bedarf für „einen englischen Art Tatum, einen englischen Fats Waller, einen englischen Teddy Wilson bestand. Sie hatten die Originale!“ Die für ihn typische Spielweise fand er nach eigener Aussage, als er sich vom „locked Hands“-Stil Milt Buckners und dem Glenn Miller-Sound anregen ließ. Die Hände bewegen sich parallel, wobei die rechte einen Vierklang spielt. Die linke Hand fügt die Oktave zur mit dem kleinen Finger der rechten Hand gespielten Melodie hinzu.

Der Durchbruch kam 1949 als er sein legendäres Quintett gründete, das bereits Ende des Jahres von den Lesern der Fachzeitschrift Down Beat zur besten Combo gewählt wurde. Die von Leonard Feather vorgeschlagene Besetzung entsprach jener von Mary Lou Williams’ Girl Stars von 1946, deren Vibraphonistin Marjorie Hyams Shearing verpflichtete. Mit Hyams, dem Bassisten John Levy, dem Drummer Denzil Best und dem Gitarristen Chuck Wayne war diese kleine Gruppe aus Künstlerpersönlichkeiten nicht nur verschiedener Nationalitäten und Religionen, sondern vor allem auch verschiedener Rassen und Geschlechter, ein Mikrokosmos der Gesellschaft. Er schaffte sogar das Kunststück in Lokalen aufzutreten, in denen Schwarze nicht zugelassen waren. Da gab es schon Leute, die ihm nahelegten, nur Weiße zu engagieren. Shearing wies das natürlich von sich. Als Blinder konnte er Hautfarben nicht sehen und umso besser den Unsinn von Rassenvorurteilen durchschauen. Die Musiker beurteilte er ohnehin nur nach dem Gehör.

Geschärfte Sinne

Seine Kollegen bestätigen, dass er als Blinder ein unglaublich feines Gehör, überhaupt extrem geschärfte Sinne hatte. Sein Bassist John Levy erinnert sich, dass er Blindenhunde am unterschiedlichen Gehen erkannte oder entfernte Bäume orten und die Größe von Parklücken einschätzen konnte. „For George, it was all feel and hearing.“

„When the quintet came out on 1949, it was a very placid and peaceful sound, coming on the end of a very frantic and frenetic era known as Bebop”, erklärte Shearing 1995 einem Kritiker. Sein Streben zielte auf „a full block sound, which, if it was scored for saxophones, would sound like the Glenn Miller sound. And coming at the end of the frenetic bebop era, the timing seemed to be right.” Wer vom Shearing-Sound spricht, meint also nicht nur ein leicht und locker swingendes Zusammenspiel von Klavier, Vibraphon, Gitarre, Bass und Schlagzeug. Er besteht, wenn man es auf eine einfache Formel bringt, aus Shearings Blockakkord-Spiel und einer Übertragung von Glenn Millers Orchestrierweise auf die genannten Instrumente. Die Gitarre bewegt sich dabei auf der Höhe der linken Hand des Pianisten, das Vibraphon auf der Höhe der rechten. Die Melodielinie wird in Oktaven verdoppelt. Etwa ein halbes Jahrhundert war dieser Sound eine Erfolgsformel, obwohl sich Shearing in der Mitte seines Lebens davon löste, um endlich wieder in anderen Besetzungen zu spielen.

Keiner vermittelte in den frühen 50er-Jahren auf so einflussreiche Weise zwischen Modern Jazz und gepflegter Unterhaltungsmusik wie George Shearing. Shearing bewahrte sich die Publikumsnähe der großen Entertainer der Swing-Ära und verzichtete auf die Avantgarde-Attitude der anderen Modernisten. Es wäre aber verfehlt, die elegante, leichtfüßig swingende Musik des Quintetts Shearing einfach nur als Gegentendenz zum Bebop zu charakterisieren. Die Vehemenz des Bebop wurde gemildert, seine Ecken und Kanten abgerundet, seine Feuersbrünste auf die Wärme eines behaglichen Herdfeuers gemindert. Aber seine Innovationen lebten unterschwellig weiter.

Shearings Musik blieb, auch dann als sich der Erfolg einstellte, über weite Strecken cool boppender Modern Jazz, wurde schließlich dem Cool Jazz zugeordnet. Man darf Shearings Rolle für die Akzeptanz des modernen Jazz in den frühen 50er-Jahren nicht unterschätzen. Selbst Stücke, die vom Mainstream-Publikum letztlich nur als gepflegter Background wahrgenommen wurden, leugneten ihre Herkunft aus dem Bebop nicht.

Das zeigt „September in the Rain“, der fast eine Million Mal verkaufte Riesenhit von 1949, mit dem das George Shearing Quintet schlagartig berühmt wurde. Nachdem unser Brite den Hörer mit dem sanft einschmeichelnden, damalige Hörer wohl tatsächlich noch an Glenn Miller erinnernden Sound des Quintetts geködert hat, kann er sich fast alles erlauben: Schon in der Bridge brilliert er mit einem rasenden Lauf, der erste Chorus ist reiner Bebop, sein letzter Chorus enthält vertrackte Blockakkord-Passagen voller versteckter Dissonanzen, die sicherlich nicht jedermanns Sache gewesen wären, servierte sie Shearing nicht mit so viel zurückhaltender Noblesse, ruhigem Blut und sanftem Anschlag. Ganz klar: Durch Shearing (freilich nicht nur ihn) dringt Bebop-Melodik, -Harmonik und -Rhythmik unterschwellig ein, wo man die eben noch gefürchtete Revoluzzermusik am wenigsten erwartete: in jene Orte, wo sich Otto Normalbürger gepflegte Unterhaltungsmusik servieren lässt, wo, im weitesten Sinne des Wortes, Pop statt Avantgarde erwünscht ist, wo man sie selbst eigentlich nur als Untermalung eigener Unterhaltung konsumiert, wo der eben genossene Cocktail, der Flirt, der neueste Tratsch wichtiger ist als jede noch so vollkommene musikalische Anregung. Als Hintergrund für Schwätzchen war Shearings Musik sogar besser geeignet als das Modern Jazz Quartet oder das Dave Brubeck Quartet, deren rein intellektueller Anspruch höher schien. Letzteres sollte uns aber nicht dazu verleiten, das Niveau der Musik zu unterschätzen. Shearings subtiler Umgang mit Klangschattierungen, mit der Dynamik und mit der Time, ebenso die einfallsreiche Harmonik, all das machen ihn zu einem der wichtigsten Musiker jener Jahre.

Schon in den Anfangsjahren des Quintetts profiliert sich Shearing als Komponist, zunächst vor allem durch den Cool Jazz-Klassiker „Conception“. Eingespielt haben es unter anderem Miles Davis, der es übrigens häufiger als Shearing selbst aufnahm, Bud Powell, Clifford Brown und Bill Evans, für den George Shearing ein wichtiger Einfluss gewesen war.
Jazz-Komponist

George Shearing gilt als einer der erfolgreichsten Jazz-Komponisten, obgleich kein Stück so populär wurde wie eines, das er in zehn Minuten beim Abendessen komponiert hat. Gerne kündigte er es in Konzerten mit Worten wie den folgenden an: „I have been credited with writing 300 songs. Two hundred and ninety-nine enjoyed a bumpy ride from relative obscurity to total oblivion. Here is the other one.” Dabei ist das am 17.6. 1952 erstmals eingespielte „Lullaby Of Birdland“ weder formal noch harmonisch sein originellstes Stück. Der 32-taktige Song in AA’BA’-Form erinnert mit seinen typischen Wechseln zwischen Moll-Parallele und Tonika harmonisch stark an das gute alte „Love Me Or Leave Me“. Der Titel ist eine Anspielung auf Harry Warrens „Lullaby of Broadway“. Gewidmet wurde der Ohrwurm mit der zündenden Melodie dem 1949 eröffneten New Yorker Jazzclub „Birdland“, das nach Charlie „Bird“ Parker benannt wurde (der dort zeitweise sogar Auftrittsverbot hatte) und in den 50er-Jahren als „Jazz Corner Of The World“ bekannt wurde. Da der Song dort als Erkennungsmelodie diente, findet er sich auf unzähligen Live-Mitschnitten, die entweder im Birdland entstanden oder von als „Birdland All Stars“ tourenden Bands stammen. Joe Zawinul widmete dem legendären Lokal später seine Komposition „Birdland“ und heute noch ist „Birdland“ der Name der Wahl für einen Jazzclub.

Ella und Sarah

Maßgeblich am Erfolg des Songs beteiligt waren Vokalinterpretationen von Ella Fitzgerald und Sarah Vaughan. Schon während Fitzgeralds erster Europa-Tournee im Jahre 1952 wollte das Publikum den Song hören, den ihr Manager Norman Granz nicht ausstehen konnte. „Aber ich hatte mir fest vorgenommen, Lullaby zu singen. Ich betrat die Bühne, doch Norman folgte mir, setzte sich aufs Podium und verbot den Musikern weiterzuspielen.“ Aufgenommen hat sie den Song trotzdem. Sarah Vaughans Einspielung von 1954 ist ein Kleinod von berückender architektonischer Schönheit. Sie fügte dem Song eine bezaubernde, textlose Introduktion beziehungsweise Coda hinzu und scattet Viertakt-Phrasen im Wechsel mit Solisten ersten Kalibers, darunter der früh vollendete und verstorbene Trompeter Clifford Brown und der noch junge Flötist Herbie Mann, dessen unsaubere Intonation die zarte Harmonie nicht zu trüben vermag. Mitte der 50er war die Nachfrage nach Shearings Song so groß, dass die Plattenfirma RCA drei EPs mit insgesamt zwölf verschiedenen Versionen auf den Markt brachte. Obwohl sie im gleichen Zeitraum zwischen Herbst 1954 und Mitte 1955 entstanden, viele der Interpreten dem West Coast Jazz zuzurechnen sind oder ihm nahestehen, ja zum Teil die immer gleichen Musiker (z.B. der Tenorist Al Cohn) in unterschiedlichen Formationen zu hören sind, entstand eine beeindruckend abwechslungsreiche Dokumentation, die von der getragenen, an Bach angelehnten, kontrapunktischen Studie des Tony Scott Septetts zum fröhlich lärmenden Big-Band-Swing von Dick Collins and His Orchestra reicht. Auch Shearing hat gerade an diesem Song seine eigene Wandlungsfähigkeit demonstriert. Zeitlebens hat er es vermocht, seinen Hit immer wieder neu einzukleiden. So spielte er ihn 1985 als Gast Tito Puentes als Latin Stück ein, während seiner Laune sogar eine Dixie-Version des Jahres 1989 entspringt.

Der Erfolg blieb Shearing im Laufe der 50er- und 60er-Jahre treu. Als ab 1953 immer wieder live und auf Platten auch ein lateinamerikanischer Perkussionist sein Quintett gelegentlich zum Sextett erweiterte, war er mit Stücken wie „Mambo Inn“ so erfolgreich, dass man Shearing (und z.B. auch seinen Vibraphonisten Cal Tjader) bald allgemein mit Latin Jazz assoziierte. Die sehr erfolgreichen Latin-Platten der 50er- und 60er-Jahre, doch mehr noch die Kaufhaus- und Aufzug-tauglichen Scheiben, in denen das Quintett in Streichernebel gehüllt wurde und deren schönen Cover-Frauen romantische Schäferstunden zu hübschen Melodien verhießen, waren sicherlich nicht dazu angetan, Shearing zum Lieblingsmusiker der Kritiker zu machen. Sie übersahen einfach die Mehrgleisigkeit eines Musikers, der zu allen Zeiten auch Jazz machte, der puristischen Kriterien zu genügen vermochte, und zwar unentwegt live.

Siegeszug der LP

1955 war George Shearing von MGM zur Plattenfirma Capitol gewechselt. Da zu dieser Zeit auch die Langspielplatte ihren Siegeszug angetreten hatte, nahm Shearing nun sehr viele LPs auf, die auch recht erfolgreich waren. Unter ihnen ragen etliche Live-Alben heraus. Mit den Live-Alben konnte Capitol zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: die älteren Hits noch einmal einspielen, aber eben in Live-Atmosphäre. Auf dem ersten Live-Album, „Shearing On Stage!“ (1958) sowie späteren wie etwa „On The Sunny Side Of The Strip“ (1958), „San Francisco Scene” (1960) oder „Jazz Concert” (1963) boten Shearing und seine Sidemen, darunter später so berühmte Musiker wie Toots Thielemans oder Gary Burton, neben dem einen oder anderen Hit großartige Interpretationen von Stücken aus der Feder von Kollegen wie Charlie Parker, Clifford Brown, Randy Weston oder Horace Silver – sicherlich nicht das Repertoire eines Musikers, der den Jazz für schnöden Mammut verriet.

Gesangsbegleiter

Aus dieser Zeit stammen auch sehr gelungene Begegnungen mit Gesangsstars, darunter „Beauty and the Beat“ (1959), ein weltweit sehr erfolgreiches Live-Album, das vorgeblich den ersten gemeinsamen Auftritt von George Shearing und Peggy Lee dokumentiert, in Wirklichkeit aber aus Studioaufnahmen besteht. Unvergessene diskographische Treffen, die ihn als exzellenten Gesangsbegleiter ausweisen, fanden in der Capitol-Zeit beispielsweise mit Dakota Staton, Nancy Wilson, Nat King Cole und in späten Jahren mit Carmen McRae und vor allem Mel Tormé statt, mit dem ihn auch live eine auf vielen Alben dokumentierte, mehrfach preisgekrönte Partnerschaft verband. In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass seine ersten Jobs in Amerika die Begleitung von Ella Fitzgerald und Sarah Vaughan gewesen waren – wie er meinte, „eine Lehre, die mit Geld nicht zu bezahlen ist.“

Wie George Shearing 1957 mit Cannonball Adderley in Newport jammte oder mit welcher Freude an einem anderen Sound er 1961 mit dem genialen Gitarristen Wes Montgomery und seinen Brüdern zu Gange war, wir wüssten es nicht, hätte ihn nur Capitol aufgenommen. Und diese Firma scheint auf ihre Exklusivität geachtet zu haben, denn seltener als andere findet man ihn aushäusig. George Shearing ist ein gutes Beispiel dafür, dass wir einen Künstler nicht mit dem von seiner Plattenfirma aufgebauten Image verwechseln sollten.

Als DJ ins Wohnzimmer

Als er 1970 von Capitol schied, hörte man Shearing, der seit den 60er-Jahren auch als Discjockey und mit einer eigenen Fernsehshow in die Wohnzimmer kam, wieder überwiegend als reinen Jazzmusiker, zunächst bis 1973 auf seinem eigenen Label Sheba. Bis 1979 machte er beim audiophilen Schwarzwälder Label MPS Platten, auf denen sein Anschlag prachtvoll zur Geltung kommt. Bei diesem Label, das unter anderem gelungene Trio- oder Quintett-Alben herausbrachte, kam es zum Beispiel leider nur zur auf ein Album beschränkten Renunion mit Grappelli.

„I found I could put myself on autopilot in the quintet. I‘m now addressing myself more to being a complete pianist“. meinte Shearing, als er 1978 sein Quintett auflöste. „I needed a breath of fresh air and a chance to grow individually.“ Dass bei Shearing weniger oft mehr ist, sah wohl auch Concord, sein neues Label der 80er-Jahre, das den Pianisten in vielfältigsten Konstellationen präsentierte, meist allerdings im Solo und in kleinen Besetzungen. Sein opulenter und doch zarter Sound entfaltet auch ohne Zutaten einen Zauber wie eine Orchidee, die man auch nicht zwischen Sonnenblumen und Tulpen in eine Vase stellt, wo sie einfach untergeht. Zwei Orchideen aber, warum nicht? Concord präsentierte ihn oft in reizvollen Duos, etwa mit Bassisten, Vokalisten, dem Gitarristen Jim Hall und Marian McPartland, der ebenfalls nach dem Zweiten Weltkrieg in die Staaten emigrierten britischen Pianistin. Unter den vielen bemerkenswerten Duo-Alben herausgegriffen sei „The Spirit of 176“ mit Hank Jones. „Als ich erstmals in die Staaten kam“, erinnerte sich George Shearing, war Hank Jones vielleicht der erste Pianist, den ich hörte. Jeden Abend nahm ich eine Lektion Hank Jones in mich auf. Ich wusste, dass ich so spielen wollte.“ Als sich der Jazzjournalist Nat Hentoff bei Shearing erkundigte, was er an Jones schätze, kam als Antwort: „Sein sehr, sehr spezieller Anschlag und seine besondere Art der Entspanntheit.“ Als Hentoff bei Jones die Meinung über Shearing einholte, antwortete er, ohne zu ahnen, dass Shearing das gleiche über ihn gesagt hatte: „Für mich ist es Georges exquisiter Anschlag. Und seine entspannte Art zu spielen.“ Die Concord-Jahre brachten einen mächtigen Karriere-Schub, den man als Comeback bezeichnete, wäre Shearing je unpopulär gewesen. 1987 verriet er der Presse das Rezept für einen guten Auftritt: „a good audience, a good piano, and a good physical feeling, which is not available to every soul, every day of everyone‘s life. Your intent, then, is to speak to your audience in a language you know, to try to communicate in a way that will bring to them as good a feeling as you have yourself.“

„Großer Alter“

In den 90er-Jahren wechselte Shearing zum Label Telarc, einem Sammelbecken der „großen Alten“ des Jazz. „I‘m not sure that technique and improvisational qualities improve with age“, hat Shearing gemeint. „What improves is your sense of judgement, of maturity. I think you become a much better editor of your own material.“ Gegen Ende des Jahrzehnts kam es zu Neuauflagen seines Quintetts, das noch zu Beginn unseres Jahrhunderts zu hören war. Als er 2004 wegen eines Sturzes gehbehindert wurde, schränkte Shearing seine Auftritte stark ein. Sir George Shearing hat viel erreicht. Er hat Millionen mit seiner Musik erfreut. Um so mehr erstaunt, dass er in etlichen Jazznachschlagewerken stiefmütterlich behandelt wird. Es gibt puristische Kunstrichter, die es einem Jazzmusiker verdenken, wenn er auch populär ist und schon mal auch kommerziell erfolgreiche Musik macht. Es scheint auch, dass gerade britische Kollegen immer wieder den Teil über Shearing entweder knapp und betont sachlich halten (als würden sie sich schämen zuzugeben, dass sie seine Musik mögen) oder streng, gar abfällig über ihn urteilen (als würden sie ihm nicht verzeihen, dass er nach Amerika zog). Da ist es kein schlechter Ausgleich, dass ihn Königin Elisabeth II. zum Ritter geschlagen hat, für seinen Beitrag für die Musik und für die britisch-amerikanischen Beziehungen. Als man ihn fragte, wie er sich angesichts so einer Ehrung fühle, meinte er: „Ich denke zurück an meine Anfänge als ich als Pianist in einem Pub für fünf Pfund die Woche spielte. Was für eine Reise von diesem Pub zum Buckingham Palace. Eine Ehre wie die Ritterschaft mag auch jungen Leuten zeigen, was erreicht werden kann, wenn man sein Handwerk lernt und seinen Träumen folgt.“
Elder Statesman

Noch vor wenigen Jahren war die Jazz-Szene erstaunlich reich an noch aktiven, um 1920 geborenen Tastenkünstlern, die noch in der Swing-Ära debutierten. Nach dem Tod von Oscar Peterson, Hank Jones und Billy Taylor (am 28.12.2010) waren Sir George Shearing und Dave Brubeck (neben Marian McPartland und Sir Charles Thompson) die großen „Elder Statesmen“ unter den Jazzpianisten. „I’ve lost a dear friend“, sagte Dave Brubeck, als er vom Tode George Shearings hörte. „His photo is over my piano in the studio. Over the years, we‘ve played many concerts together. I consider him one of the greatest musical minds I‘ve ever been around. In the 50ies, George paved the way for me and the [Modern Jazz] Quartet, and even today jazz players, especially pianists, are indebted to him.“

Marcus A. Woelfle

 

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