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Jazzzeitung

2011/02  ::: seite 10-11

Pianisten aus dem Osten

 

Inhalt 2011/02

Inhaltsverzeichnis

STANDARDS

Editorial / break / Nachrichten aus der Jazzszene / kurz, aber wichtig Jazzlexikon: Charlie Mariano Farewell: George Shearing


TITEL - Basar der Perspektiven
Über den Jazz in der arabischen Welt

DOSSIER Im Osten viel Neues
Die Pianisten Djangirov, Hamasyan und Neselovskyi


Berichte

Lisa Bassenge entdeckt ihre Muttersprache // Bujazzo: Frühjahr-Arbeitsphase // Das Festival Women in Jazz // Armin Mueller-Stahl veröffentlicht mit 80 Jahren sein Debüt-Album


Portraits

Brigitte Angerhausen // Nguyên Lê // Vokalquartett „Niniwe“ // Magnus Öström // Klaus Treuheit // Neuer Deutscher Jazzpreis 2011 // Neue CDs von Acoustic Music


Jazz heute und Education
Jazz e.V. Dachau ist umgezogen // Zwölf CDs mit Schätzen der „Free Music Production“ // jazzahead! 2011: ein Interview mit Ulrich Beckerhoff // Südtirol Jazzfestival 2011 // Jazz-Workshop für Studenten und Amateure im Münchner Gasteig // Abgehört: Zum 85. Geburtstag von Miles Davis
Miles Davis’ Solo über „Sweet Pea“

Rezensionen und mehr im Inhaltsverzeichnis

Im Osten viel Neues

Die Pianisten Djangirov, Hamasyan und Neselovskyi

Selbst die kundigsten unter den Jazzexperten kommen schnell ins Stottern, wenn sie gebeten werden, doch mal ein paar Musiker aufzuzählen, die aus dem Staatenbund der einstigen Sowjetunion stammen. Derzeit aber drängen gleich drei junge, hochvirtuose Jazz-Pianisten mit Macht ins internationale Geschäft, die alle auf dem Hoheitsgebiet des einstigen Riesenreichs zur Welt kamen: Eldar Djangirov aus Kirgistan, Tigran Hamasyan aus Armenien und Vadim Neselovskyi aus der Ukraine. Diese drei haben vieles gemein: Alle galten als Wunderkinder, sind vielfach prämiert, genossen eine gründliche klassische Ausbildung, die eine entsprechende Spiel-Technik förderte und alle drei leben sie im Exil: in New York, der Stadt, die niemals schläft.

Auf der Suche nach der Schönheit: Vadim Neselovsky. Foto: privat

Bild vergrößernAuf der Suche nach der Schönheit: Vadim Neselovsky. Foto: privat

Freiheit? Wenn es die überhaupt irgendwo gab in der alten Sowjetunion, dann vielleicht im Bereich Jazz (der erste Jazzclub des Warschauer Pakts entstand übrigens 1958 in Leningrad). Die russische Deutungsart dieses einst uramerikanischen Musikstils tendierte stark in eine Richtung, die gerne mit den üblichen Parametern brach. Als der elfjährige Vadim Nesekovskyi im heimischen Odessa ein Konzert des Pianisten Jurij Kusnezow besuchte, war er so verstört wie fasziniert, denn was er da hörte, war lupenreiner Free Jazz. „Damals hatte ich mich sehr für Komposition interessiert und seit meinem achten Lebensjahr auch schon Kompositionsunterricht genossen. Als ich Jurij zum ersten Mal hörte, verband sich plötzlich Komposition mit Improvisation.“ Die Beziehung zwischen Ausnotiertem und spontan Musiziertem hat den 33-Jährigen, der später etwa an der Seite des Vibraphonisten Gary Burton auf sich aufmerksam machte, seither nicht mehr losgelassen.

Neselovskyi, der als Teenager mit seiner Familie nach Deutschland zog, später an der Folkwangschule in Essen sowie in Dortmund studierte und sogar zwei Jahre am Thelonious Monk Institute in New Orleans verbrachte, fühlt sich in seiner eigenen Musik aber weniger den alles außer Freiheit missachtenden Prinzipien der Sowjet-Avantgarde verpflichtet. Wenn sein selbst veröffentlichtes Album „Spring Song“ ein Maßstab für sein Schaffen ist, dann könnte man sagen, dass er in seinen vielfarbig gestalteten Kompositionen gekonnt zwischen Verspieltheit und Strenge vermittelt. Eines drängt sich noch auf: Ist er vielleicht ein hoffnungsloser Romantiker?

„Ach“, seufzt­ der Wahl-New Yorker, der derzeit privat beim Pianisten Fred Hersch studiert und selbst als Professor am Berklee College in Boston unterrichtet. „Ich suche einfach nach der Schönheit. Ich bin auf jeden Fall ein lyrischer Schreiber. Wenn ich komponiere, frage ich mich immer, ob ich das eigentlich selbst gern hören würde und ob das angenehm für mich klingt.“ Und wie viel schwere ukrainische Seele steckt in seiner Musik? „Ich identifiziere mich viel mehr mit der russischen als der ukrainischen Kultur – Komponisten wie Tschaikowsky, Rachmaninow, Prokofieff und Schostakovich sind besonders wichtig für mich. Ich bin mit dieser Musik, aber auch mit russischer Literatur und Gedichten aufgewachsen. Die Jahre, die ich in Deutschland verbrachte, waren auch prägend. Ich bin mir sicher, dass alle Länder und Orte, in denen ich länger gelebt habe, sich letztendlich in meiner Musik widerspiegeln.“ Befragt man den 24-jährigen Eldar Djangirov nach Heimatgefühlen, antwortet er seltsam ausweichend. Bei einem fast privaten Besuch in der Wohnung des Autors dieser Zeilen gibt er, der sonst so gern verbal lossprudelt, sich ziemlich maulfaul. „Ich war sehr jung, es war ein Teil meiner Kindheit. Was ich im Laufe der Zeit alles erlebt und gesehen habe, fließt alles irgendwie in meine Persönlichkeit ein“, sagt er, leicht nachdenklich an einem Keks knabbernd. Eldar stammt aus Kirgistan. „Meine Mutter entsprach dem Klischee der russischen Klavierlehrerin. Sie war wahnsinnig streng, brachte aber auch die nötige Geduld mit. Und mein Vater hatte hunderte von Jazzplatten zuhause, die meine Mutter übrigens auch sehr mochte.

Von der Welt der Klassik zur Liebe zum Jazz: Eldar Djangirov. Foto: Ssirus W. Pakzad

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Es gab da Alben von Oscar Peterson, Bill Evans und Chick Corea. Dad, der eigentlich Ingenieur ist, transkribierte oft bestimmte Stellen von den Platten herunter und spielte sie nach. Was mich letztendlich zum Jazz brachte, war, dass er sich mit mir ans Klavier setzte und mir Stück für Stück auseinander setzte, was er da transkribiert hatte. Danach legte er das Original auf. Damals war ich drei oder vier Jahre alt.“ Jedenfalls machte der Sprössling der Djangirovs selbst eine rasante Entwicklung am Klavier durch, die von eifrigem, streng überwachten Klassik-Unterricht und der Liebe zum Jazz befeuert wurde.

Als Neunjähriger wurde Eldar auf einem Festival im sibirischen Novosibirsk vom amerikanischen Jazz-Förderer Charles McWhorther entdeckt, der der Familie des Wunderkinds darauf die Umsiedlung in die USA ermöglichte. Die Djangirovs begannen zunächst in Kansas City ein neues Leben, und Eldar gewann die Amis mit seinen Klavierküns­ten gleich im Sturm. Als 13-Jähriger trat er sogar unter dem Motto „Young Musical Prodigy Kids“ zusammen mit Julian Lage, Matt Brewer und Tony Royster bei der Grammy-Verleihung auf (wovon es auf Youtube ein süßes Video gibt). Später wurde er selbst für diesen wichtigen Musikpreis nominiert.

Von der Welt der Klassik zur Liebe zum Jazz: Tigran Hamasyan. Foto: Ssirus W. Pakzad

Bild vergrößernVon der Welt der Klassik zur Liebe zum Jazz: Tigran Hamasyan. Foto: Ssirus W. Pakzad

Dave Brubeck hält den äußerlich immer noch sehr jungenhaften Pianisten für „ein Genie“. Und als ich neulich den Auftrag erhielt, den legendären George Duke bei einem Besuch der Plattenabteilung im Münchner Kaufhaus Beck zu begleiten, raunte er durch die Zähne: „Mann, technisch gesehen ist das derzeit der beste Jazz-Pianist der Welt“, als er vor Eldars Fach stehenblieb. In der Tat hat es lange keinen Klavierspieler gegeben, der mit derartigen Fertigkeiten auftrumpfen konnte. Zu hören sind sie auch auf einem neuen Solo-Album, das Stücke von Bach, Scrjabin und Gershwin, Standards und Eigenkompositionen enthält. „Alle Stücke basieren auf Formen, die ähnlich aufgebaut sind. Selbst die klassischen Stücke sind in AABA-Form angelegt, wie Standards, nur etwas luxuriöser ausgestattet.“

Während man bei Neselovskyis und Djangirovs Musik die Herkunft der Ausführenden nur erahnen kann, gibt Tigran Hamasyans Klangwelt viel deutlichere Hinweise auf die Abstammung ihres Schöpfers, der mit 16 von Eriwan nach Los Angeles zog und seine Zelte dann im Big Apple aufschlug.

Dabei hat der heute 23-jährige Virtuose erst nach seinen Wurzeln gebuddelt, als er mit der Welt der Klassik und des Jazz lange vertraut war. „Als ich mich aus den Grenzen des Bebop herauswagte, also so mit dreizehn oder vierzehn“, sagt er und bringt damit seinen Interviewpartner zum Lachen, „da entdeckte ich die heimische, armenische Folklore endlich für mich. Aber in der Zeit lebte auch meine Passion für Rock, Pop und Hip Hop wieder auf. Was die Folklore betrifft: Es ist sehr kompliziert, sich ihrer anzunehmen. Es ist ein Wagnis. Man berührt da etwas Heiliges. Man muss diese Musik schon ganz tief verstehen, begreifen, wo sie herkommt, wenn man sie in irgendeiner Form verwenden will. Die meisten Arrangements von Volksmusik berühren bes­tenfalls die Oberfläche.“

Die seinen nicht. Die verzierungsreichen, üppig ornamentierten Melodien und die komplexen Rhythmen armenischen Liedguts gehen ganz organisch in einer Musik auf, die der Gewinner der 2006 abgehaltenen „Thelonious Monk Piano Competition“ mit vielen anderen Einflüssen speist. Nachzuhören ist das auf vier Alben – das jüngste ist ein faszinierendes Solo-Werk, das sich der Welt armenischer Fabeln aus dem Mittelalter widmet. „Das Schöne an Fabeln ist, dass man sich seinen Teil denken muss und sie für sich selbst interpretiert. Es ist eine Lektion fürs Leben.“

Ssirus W. Pakzad

Aktuelle Veröffentlichungen

  • Eldar Djangirov: Three Stories/Solo Piano
    Sony Classical
  • Tigran Hamasyan: A Fable
    Verve/Universal
  • Vadim Neselovskyi Group: Spring Song
    Vadim Neselovskyi Music

 

 

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