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            Jazzzeitung
               2008/05  ::: seite 1, 19
              titelstory
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       Wie wird man zu dem Künstler, der man ist? Wie entwickelt sich
        Persönlichkeit? Welchen Einfluss hat die persönliche Biografie,
        das Studium, der Professor auf die Entwicklung eines Personalstils? Im
        Jazz erhält man auf diese Fragen nach wie vor so viele individuelle
        Antworten wie es Musiker gibt. Der Pianist Ron Cherian, der seit vielen
        Jahren für die jazzzeitungs-Kolumne „abgehört“ zuständig
        ist, beschäftigt sich in einem Interview mit seinem ehemaligen Lehrer,
        dem englischen Pianisten John Taylor, mit solchen Fragen. 2007 beendete
        dieser seine 14 Jahre währende Unterrichtstätigkeit als Professor
        für Jazzklavier an der Hochschule für Musik Köln. Ron
        Cherian hatte die Gelegenheit, mit Taylor aus diesem Anlass ein ausführliches
      Interview zu führen.  
            jazzzeitung: John, darf ich mit ein paar persönlichen und biografischen
        Fragen beginnen, für die im Unterricht oft die Zeit fehlte? Ich
        nehme an, du bist sehr früh mit Musik in Berührung gekommen,
        erinnerst du dich? 
        John Taylor: Meine 15 Jahre ältere Schwester Catherine war Pianistin.
        Sie spielte Chopin, Bach und Schubert, was mich auf wunderbare Weise
        in den Schlaf wiegte. Es machte einen so großen Eindruck auf mich,
        dass ich später wie selbstverständlich zum Klavier ging und
        versuchte zu spielen. Mein Vater, der sich das Klavierspiel selbst beigebracht
        hatte, erklärte mir schließlich das Notensystem, denn ich
        spielte natürlich alles nach Gehör. Als ich etwa zehn Jahre
        alt war, ermutigten mich meine Eltern, eine Klavierlehrerin in Hastings
        aufzusuchen – eine sehr nette ältere Dame namens Ethel Pepper.
        Sie spornte mich an, ließ mich Tonleitern und Übungen spielen,
        während sie dabei strickte. Ich ging für etwa ein Jahr jede
        Woche zu ihr, das war der einzige formale Unterricht in meinem Leben.
        Ich begann, mich auch für die neue Art von Popmusik zu interessieren,
        die in den 50er-Jahren aufkam. Mit meiner ersten Band trat ich regelmäßig
        in einem Jugendzentrum auf. Das Publikum tanzte meist zu unserer Musik,
        während wir das Zusammenspiel lernten. Gelegenheit zu improvisieren
        gab es auch ein wenig. 
              jazzzeitung: Was hat schließlich dein Interesse am Jazz geweckt? 
        Taylor: Dazu habe ich unterschiedliche Erinnerungen,
        aber ich weiß,
        dass ich damals ein Stück von Humphrey Lyttelton gerne hörte,
        einem britischen Jazztrompeter: „Bad Penny Blues“. Es war
        sogar ein Hit in den Pop Charts. Das Klavier spielte eine Boogie-Woogie-Basslinie,
        das Schlagzeug dazu im Double Time Feel. Rhythmisch war das Stück
        recht ungewöhnlich für mich, was mich besonders begeistert
        hat. 
              jazzzeitung: Wie nahm dein musikalischer Weg
        Gestalt an? Welche Jazzmusiker haben dich zu Beginn beeinflusst? 
        Taylor: Zunächst war das insbesondere Oscar Peterson. Bei einem
        Wochenend-Jazz-Seminar empfahl mir dann ein anderer Teilnehmer, unbedingt
        Bill Evans zu hören, so kaufte ich mir das Album „Explorations“,
        das einen tiefgreifenden Einfluss auf mich hatte. Ich hörte dann
        Chick Corea und Herbie Hancock und viel später Keith Jarrett. 
        Als ich 22 Jahre alt war, nahm ich für etwa sechs Jahre einen Bürojob
        in London an. Dort hatte ich die Gelegenheit, viele andere Musiker zu
        treffen und bekam Lust, mehr zu spielen. 
        Im alten Club von Ronnie Scott gab es viele Jamsessions. Jeder spielte
        dort, es war eine großartige Zeit. Ich traf damals auf John Surman,
        Alan Skidmore, Mike Gibbs, Kenny Wheeler, Tony Oxley, Dave Holland und
        heiratete sogar eine Musikerin, die Sängerin Norma Winstone.  
        Es war eine umwälzende, fruchtbare Phase für die Musik. Post-Bebop
        machte freieren Elementen Platz. 
        Als ich mich entschied, Profimusiker zu werden, folgte daraus natürlich
        auch Musik zu spielen, die nicht unbedingt Jazz war. Ich hatte die Gelegenheit,
        ungefähr zweieinhalb Jahre mit John Dankworth und Cleo Laine zusammenzuarbeiten,
        die bereits sehr bekannt waren. In der Zeit lernte ich sehr viel. 
              jazzzeitung: Es folgte 1970 deine erste Plattenaufnahme,
        mit John Surman … 
        Taylor: … für sein Album „How Many
        Clouds Can You See”.
        Es wurde gerade auf CD wiederveröffentlicht. Mit kleiner Bigband
        und Arrangements von John Warren, sowie einem Quartett mit John Surman,
        Barre Philips, Tony Oxley und mir. 
              jazzzeitung: Du hast in der Zeit bereits eigene Musik
        geschrieben, wie verläuft der Prozess des Komponierens bei dir? Ist die Melodie stets
        der Ausgangspunkt? 
        Taylor: (überlegt) Ich denke, die Melodie ist wirklich wichtig.
        Manchmal gehe ich von einem harmonischen Gerüst aus, über das
        ich dann die Melodie höre. Oder aber das Stück entwickelt sich
        aus einem rhythmischen Muster, über dem sich dann Melodie und Harmonie
        formen lassen. Ich versuche hauptsächlich innerhalb einer Songform
        zu komponieren. Das Komponieren kam in Gang, indem ich für bestimmte
        Musiker schreiben musste, ein wichtiger Faktor. 
        1971 ermöglichte mir John Surman eine Sextett-Aufnahme, „Pause
        And Think Again“, für die ich Kenny Wheeler, Stan Sulzman,
        Chris Pyne, Chris Laurence und Tony Levin engagierte.  
        Es machte mir viel Spaß, die Musik für sie zu schreiben, und
        ich tat dies auch fortlaufend für einige Jahre. Bei „Azimuth“,
        dem Trio mit Kenny Wheeler und Norma Winstone, bestand die Herausforderung
        darin, Musik zu schreiben und zu spielen, die ohne Rhythmusgruppe auskommt. 
              jazzzeitung: Aufgaben wie diese führten ja auch dazu, dass du sehr
        nach Dir klingst und stets wieder erkennbar bist, was wohl die größte
        Verwirklichung für einen Jazzmusiker darstellt. 
        Taylor: Vielen Dank! Nun ja, wenn ich mir die Anfänge jetzt anhöre,
        gibt es da recht eindeutige Querverbindungen, wie ich finde. Vieles klingt
        von anderen abgeleitet. 
        Ich weiß nicht, an welchem Punkt man selbst wahrnimmt, dass man
        mehr ist als ein Bündel von Einflüssen und beginnt, mit dem
        eigenen Spiel einen Hinweis darauf zu geben, wer man selbst ist. Ich
        bin beeinflusst von all den Kollegen, mit denen ich zusammengearbeitet
        habe und die ich bewundere … 
      jazzzeitung: … und andersherum! 
        Taylor: Vielleicht, ja. Ich hoffe …(lacht). Wir sind alle inspiriert
        und beeinflusst voneinander. Das trägt dazu bei, dass die Musik
        voranschreitet. Die Studenten, mit denen ich hier in Köln während
        der letzten Jahre gearbeitet habe, begannen damit, ihre eigene Stimme
        auszubilden. Das war auch zwangsläufig ein Einfluss auf mich, da
        bin ich sicher. Genau das habe ich am Unterrichten immer genossen: Dieser
        Prozess des Austauschs von Können und Wissen. Es sollte nämlich
      nicht so sein: Hier ist der Lehrer, dort der Student.  
      jazzzeitung: 14 Jahre warst du Professor für Jazzklavier an der
        Kölner Hochschule für Musik. Während der Unterrichtsstunden
        wurde viel gemeinsam gespielt! 
        Taylor: Ja, mit meinen Studenten in der Hochschule auf
        zwei Flügeln
        zusammen zu spielen war immer eine große Freude und ein Privileg!
        Man kann über die musikalischen Dinge reden, sie betrachten oder
        anhören, aber nur durch das gemeinsame Spielen befindet man sich
        unmittelbar im Prozess des Erschaffens. 
        Im Laufe der Jahre habe ich viel Material gesammelt, das ich im Unterricht
        verwenden konnte. Ich ging nicht so sehr nur die technischen Details
        durch, die allgemeine musikalische Sprache, sondern konnte die Musik
        vermitteln, mit der ich selbst lange gearbeitet hatte. Meine Arbeit,
        die ich mein Leben lang verfolgt habe, setzte sich gewissermaßen
        im Unterrichtsraum fort. 
        Ich behaupte, man kann viel erreichen, wenn man den nötigen Enthusiasmus
        mitbringt, eine Vision, und wenn man ein ehrliches und dringendes Bedürfnis
        hat die Herausforderung anzugehen. Doch jeder ist anders, es gibt verschiedene
        Beweggründe Musik zu machen.  
        Der Prozess besteht darin, nicht nur herauszufinden, wie man die Musik
        spielt, sondern zu lernen, was man mit dem machen möchte, was man
      selbst mitbringt. 
              jazzzeitung: Was auch dazu führen kann, dass junge Menschen mitunter
        mehr Zeit benötigen, um sich zu entwickeln, so sehe ich es bei mir
        selbst … 
        Taylor: … oh ja, da geht jeder einen unterschiedlichen Weg. Nicht
        jeder springt sofort auf die Bühne und ruft: „Hallo, da bin
        ich! Ihr habt doch nur auf mich gewartet!“ (lacht). Manche sind
      sehr zurückhaltend, so dass sie etwas mehr Ermutigung brauchen. 
              jazzzeitung: Was würdest du einem jungen Musiker für seinen
        eigenen Weg raten? 
        Taylor: Ich denke, besonders das Zuhören ist eine der wichtigsten
        Fähigkeiten, die es zu entwickeln gilt. Sich darauf zu konzentrieren,
        den Klang wahrzunehmen, den man selbst hervorbringt. 
        Offen zu sein hinsichtlich der vielen Aspekte der Musik(-schöpfung).
        Wichtig ist, seine eigene musikalische Sprache zu erweitern um seine
        eigenen Ideen klar ausdrücken zu können.  
        Geduld ist dabei ein wichtiger Aspekt, denn Fortschritt braucht Zeit. 
        Als ich zu spielen begann, fand ich es sehr hilfreich mit Musikern zu
      spielen, die viel erfahrener waren als ich. 
              jazzzeitung: In einer BBC-Kritik zu deinem
        Solo-Album „Insight“ las
        ich: „Dies ist ein wunderschönes Statement eines bescheidenen
        Stars“. Außerdem beklagte sich die BBC: „Heutzutage
        wird die Jazzwelt mehr und mehr dominiert von Spielern, die mehr Erfahrung
        darin besitzen sich zu vermarkten als in der Musik selbst.“ Wie
        denkst du darüber? 
        Taylor: Es wird immer Jazzmusiker geben, die wirklich
        daran interessiert sind, ihre Musik zu spielen und zu entwickeln. Und
        es wird dafür
        immer Zuhörer geben. Jazz ist heutzutage ja eine sehr vielseitige
        Musik-Form. Einiges kann sehr anspruchsvoll sein und einiges fast schon „Easy
        Listening“.  
        Irgendwie soll ja alles sein Publikum erreichen und einige Musiker sind
        talentierter als andere ihre Musik zu vermarkten. Ich bin heute glücklich,
        einen Manager zu haben der genau weiß was ich tue und mir ermöglicht
        vor Publikum zu spielen, das meine Musik wirklich hören möchte.  
        Vor dieser Zusammenarbeit erinnere ich mich an ein Jazz Festival in Sardinien,
        bei dem ich mit einer kleinen Jazzband eröffnen sollte. Doch der
        Headliner für den Abend war dann Jerry Lee Lewis! Das war gewiss
      ein musikalisch sehr abwechslungsreicher Abend! (lacht) 
              jazzzeitung: Wenn man sich auf Jazzfestivals
        wie Montreux oder Den Haag umhört, so treten dort immer häufiger Bands auf, die nicht
        dem Genre Jazz zuzuordnen sind. Wie ist das Verhältnis von Jazz
        zur Pop-Musik heute aus deiner Sicht? 
        Taylor: Aus meiner Sicht ist Popmusik in melodischer
        und rhythmischer Hinsicht immer uninteressanter geworden und austauschbar,
        mit ein paar
        Ausnahmen. Und wirklich interessante Harmonik gibt es kaum noch. Die
        Pop-Industrie scheint sich tatsächlich hauptsächlich um Image
      und leichte Wiederverwertbarkeit zu sorgen. 
              jazzzeitung: Gibt es eine Berechtigung für die oft vorgenommene
        Abgrenzung von „Europäischem Jazz“ gegenüber „Amerikanischem
        Jazz“? ECM versus Blue Note? du spielst sowohl mit Dave Holland,
        der als Brite in die USA gezogen ist und mit Kenny Wheeler, der sich
      als Kanadier in England niedergelassen hat. 
              Taylor: Nun ja, ich bin sehr froh, dass ich
        die Möglichkeit habe
        mit ihnen zu spielen und sie bereits so lange kenne. Keine Frage, beide
        sind großartige Jazzmusiker – so kraftvoll und eigen in ihrem
        Spiel und ihrem Umgang mit der Musik. 
        Wir wissen, dass Jazz in den USA entstanden ist und heute von Musikern überall
        auf der Welt gespielt wird. Jazz hat so viele andere Musikstile beeinflusst
        und selbst so viel von anderen Musikformen absorbiert.  
        Ich denke, die Bezeichnungen „Europäischer Jazz“, „Amerikanischer
        Jazz“ etc. dienen lediglich als bequemes Mittel dazu, die Musik
        in Kategorien einzuteilen. Doch wie man sie auch immer nennt, ihre Hauptcharakteristik
        bleibt, ob sie von Jan Garbarek, Mike Nock, John Surman, Brad Mehldau,
        Ralph Towner oder anderen gespielt wird: Sie haben alle ihre eigene,
        einzigartige Weise entwickelt zu spielen, zu improvisieren. 
        Wir alle verarbeiten unsere Herkunft und die Eindrücke, die wir
        in unserem Leben erfahren haben, um auszudrücken wer wir sind, was
        wir tun.  
        Ich wurde während des Krieges in England geboren, in meinen frühen
        Tagen war ich sehr beeinflusst von der klassischen Musik, die meine Schwester
        spielte und später von der Musik, die ich auf BBC Radio hörte.  
        Wenn man nur mal auf die Hunderte Künstler schaut, die von überall
        herkommen und für das europäische Label ECM über die Jahre
        aufgenommen haben, sieht man diese unglaubliche Vielfalt an musikalischen
      Persönlichkeiten und individuellen Stilen. 
              jazzzeitung: Nehmen Glaube oder Religiosität eine Rolle in deinem
        Leben ein? 
        Taylor: Man muss selbst nicht religiös sein, um dennoch würdigen
        zu können, dass andere ihren Glauben und ihre Spiritualität
        dazu nutzen können um großartige Musik zu schöpfen. Ich
        denke da an Johann Sebastian Bach und Olivier Messiaen. Um die Frage
      zu beantworten: Nein, aber ich glaube ganz fest an das Gute im Menschen!        Der englische Pianist John Taylor, geboren 1942 in Manchester, verbindet
        lyrische Spielart mit hoher Anschlagskultur, komplexe Harmonik und Rhythmik.
        Taylor zeichnet außerdem ein tiefes Verständnis von Melodien,
        Klang und Raum aus. Neben seinem eigenen Sextett gründete Taylor
        1977 mit der Sängerin Norma Winstone und dem kanadischen Trompeter
        und Flügelhornisten Kenny Wheeler das Trio Azimuth, das große
        Anerkennung und den Eingang in den Katalog von Manfred Eichers ECM-Label
        fand. Als langjähriger musikalischer Partner von Kenny Wheeler arbeitete
        Taylor an vielen seiner Aufnahmen in großer und kleiner Besetzung
        mit, etwa Double, Double You (1983, ECM) mit Michael Brecker, Dave Holland,
        Jack DeJohnette und What now? (2005, CAM Jazz) mit Chris Potter und Dave
        Holland. Taylors derzeitigem Trio gehören Bassist Palle Danielsson
        und Schlagzeuger Martin France an (Angel of the Presence 2005, Whirlpool
        2007, beide CAM Jazz). Weitere Weggefährten seines musikalischen
        Schaffens waren unter anderem Joey Baron, Peter Erskine, Gil Evans, Jan
        Garbarek, Charlie Haden, Marc Johnson, Lee Konitz, Charlie Mariano, Chris
        Potter, Enrico Rava, Ralph Towner, Miroslav Vitous. Für seine Komposition
        The Green Man Suite, die er mit dem Creative Jazz Orchestra aufführte,
        wurde ihm 2002 der BBC-Preis in der Kategorie „Best New Work“ verliehen. 
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