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Das direkteste Ausdrucksmittel der Musik ist die menschliche Stimme. Im Jazz der letzten Jahre feiert sie eine ganz erstaunliche Renaissance. Im Windschatten von Sängerinnen wie Norah Jones, Diana Krall oder Cassandra Wilson ist eine Epigonenarmee aufmarschiert, die täglich ins nahezu Unüberschaubare wächst. Es lag jedoch ganz und gar nicht in der Absicht des kleinen Festivals „voices“, das an drei Februartagen in der gut gefüllten Leipziger naTo über die Bühne ging, einen Reigen von Trittbrettfahrern zu präsentieren. Vielmehr war man unter der künstlerischen Leitung von Bert Noglik auf Stimmenfang in den Randbereichen.
Die aufgebotenen vokalen Acts sollten sich zum Kontrapunkt zu den gängigen Publikumsfestivals addieren. Und sie taten es, denn auch im achten Durchlauf des schon traditionellen Musikzeit-Unternehmens hatte man sein Thema gewählt, um es von der ungesicherten Peripherie her einzukreisen, um avantgardistische Ansätze in jeweiliger Konzertlänge durchzuspielen. Im eher fahrigen Eröffnungskonzert brachte das Ernst-Ludwig Petrowsky, Altvorderer des hiesigen Jazz, auf eine schöne Formel: „Das ist so lange her, das ist schon wieder Zukunft.“ Also war er wie eh der antrittsschnelle Saxophonist und mit seiner Frau Uschi Brüning „ein zweiköpfiges Kollektiv“. Es ist immer noch und immer wieder beeindruckend, wie sich beide unisono in den vertrackten Linien von Ornette Coleman-Themen verstehen, wie sie zwingend swingend darin schwelgen oder auch in Balladen wie „My Funny Valentine“ hinein vollbremsen können. Drum herum aber machte der inzwischen 72-Jährige gar zuviel den Kalauer, zitierte Biermann zur Sängerin U. und wollte so sehr den Schwitters geben, dass es dann doch mehr „lange her“ denn „Zukunft“ war. Anders ein anderer aus dem Zentralquartett des Ostjazz. Ulrich Gumpert traf sich mit Lauren Newton. Die hat ihre Stimme auf einer Höhe wie kaum eine sonst jenseits der Worte zu einem Instrument individualisiert, mit dem sie technisch perfekt improvisieren kann in kleinen Arabesken ebenso wie in großen Eruptionen. Mit dem Pianisten ergab das eine Art sehr modernen Liederabend, ein unaufgeregt transparentes, klirrendes, klingendes Tasten, das voller Nuancen war und wie ein Spielen mit Glasfiguren. Und es hatte eine Dramaturgie, deren Fehlen das Konzert des großartig expressiven Engländers Phil Minton etwas enttäuschend verlaufen ließ. Sein Gesang, der vor Jahrzehnten noch ein vieldiskutierter Schock war, weil er bis dorthin führt, wo es weh tut, fügte sich in hochsensiblen mikrolosen Interaktionen ohne Netz und doppelten Boden mit Schlagzeuger Roger Turner in ein etwas zu gleichförmiges abstraktes Bild. Wieder anders und das in berückender Intensität über alle Genregrenzen hinweg war der Auftrag des Extremsängers David Moss, der in traumwandlerischer Nähe zum Kölner Klanginstallateur Frank Schulte ein sensationell dichtes Programm zwischen Vokaleskapaden und Performance entwarf. Ein Stimmengeistern wie im Äthersalat, ein Chor in einer Person, vom Spieltisch her ins Klanglabor geschickt und zurück empfangen. Eine Bilderflut aus Sprachengewirr, intensiv, hochpräsent, verstörend, humorvoll und doch existentiell ernst: grandiose Assoziationsfelder und der Vorgang des am Atmen Bleibens inmitten der Kakophonie rundum. War Moss der König dieser facettenprallen Tage, war Erika Stucky die Prinzessin. Nicht nur, weil ihr Programm so hieß, sondern weil sie vom Krötenküssen bis zum Riesenkulleraugenrollen bei nach innen gestellten Füßen hin zu diversen Ausbruchsversuchen die Rolle komplett füllte, wobei sie eben deswegen mittendrin stand, weil sie so erfrischend daneben war. Schön vom tiefen Blech ihrer Sekundanten Sass (Tuba) und Mütter (Posaune) eingerahmt, war sie Britney, Queen-Mum, Tipsy, Domina, Unberührbare, Boxluder, Zicke oder Girlie und tanzte auf einem zwischen Manhattan und Matterhorn gespannten Seil, dabei den Popfundus plündernd von Prince, Michael Jackson, Police bis Elvis. Und das war dann tatsächlich ein in die Zukunft weisendes Erinnern, das durchtrieben, witzig, verrucht und verrutscht dem ganzen Rest den Marsch blies. Ulrich Steinmetzger |
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