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Die Globalisierung begann früh. Selbst die Entdeckung Amerikas um 1500 war keine Premiere. Und immer gab es sofort Transfers, lebensdienliche und zerstörerische. Aus Amerika kamen die Syphilis und die Kartoffeln. Aus Europa die Grippe, der Alkohol und die Pferde. Und woher kam der Jazz? Der kam immer schon von überall her. Ein typischer Bastard, mit der Tendenz, immer weitere Bastarde zu erzeugen. Sein Metier war dabei stets das Leben und der Tod. Und für seine Zwecke war ihm alles recht. In New Orleans zum Beispiel begann er marschierend, begleitete Hochzeiten, Beerdigungen und Feste aller Art. Er war mitten im Leben, aber nicht unbedingt sozialverträglich. Zu viel Schmerz, Wut, auch Wissen steckte in ihm. „Race-music“, das war in Amerika lange Zeit der gebräuchliche
Name für schwarze Musik. „Race-music“, das hieß:
Musik der Unterschichten, der Erniedrigten und Beleidigten, und es klang
in dieser Bezeichnung immer auch die Furcht der Privilegierten mit. Seine Abneigung galt nicht „dem“ Jazz, sondern dieser bastardisierten Form. Dem Entertainment, das nur eins war: Lebenslüge, Kompensation. Und damit natürlich: die grinsende Maske, welche die Leere und Gewalt der verwalteten Welt verbarg. Bastardisierung kann immer beides bedeuten: Verharmlosung, Neutralisierung, Sterilisierung eines Stils, also die Verwandlung eines produktiven Impulses in Kulturindustrie. Oder aber: Ausweitung der Kampfzone, noch eine Wildnis des Herzens, wo das Unberechenbare sich ereignet. Manchmal fällt die Unterscheidung gar nicht leicht: Anfang der 60er-Jahre
etwa, als es zur großen Fusion des kühl gewordenen Jazz der
Erstwelt-Metropolen mit der heißen, mal ungeniert sexuellen, mal
todtraurig-melancholischen Volksmusik Lateinamerikas, speziell: Brasiliens,
kam. Was ereignete sich da im weiten Terrain zwischen Stan Getz und Astrud
Gilberto? Ein knappes halbes Jahrhundert später ist Jazz überall da, wo es brodelt. Der Latin-Sound der frühen 60er-Jahre war noch eine Weltmusik-Mode, die man bedienen und dadurch kontrollieren konnte. Im Jahr 2006 mutiert der Bastard-Jazz schneller als ein Vogelgrippe-Virus. Man könnte sagen: Er ist überall, Teil von allem. Und er erzählt, was für den nicht domestizierten Jazz immer schon das Wichtigste war, soziale Geschichten und handelt von der Politik des Tages. Wenn es sein muss, in festlicher, ausgelassener Form. Trinidad & Tobago oder Barbados, das sind karibische Hexenkessel. Orte, wo vieles geschieht und sich noch mehr vermischt. Der Kampf nimmt dort andere Formen an als im kalten Europa. Auf diesen tropischen Inseln sind Feste das Zentrum, aber die Ausgelassenheit des Lebens ist nicht harmlos und vor allem nicht blind und taub. Wer dem tropischen Karneval zuhört, erfährt etwas über die Geschichte der Globalisierung. Was „die Menschen“ umtreibt. Und was sie mitnehmen. Antrieb zum Tanzen ist nämlich nicht nur Samba und Soca. Auf den westindischen Inseln taucht plötzlich auf, was Kolumbus schon immer dort vermutet hatte: Das wirkliche Indien. Nicht als Glanz und Reichtum, nicht das Maharadscha- und Taj-Mahal-Indien, sondern das Indien der Wanderarbeiter, die auf den westindischen Inseln als Konkurrenten auftauchten, als die Schwarzen keine Sklaven mehr waren. Bei kapitalistischen, vertragsfreien Bilanzen geht es immer um Soll und Haben. Der Käufer bestimmt den Preis. Und angestammte Rechte – noch
dazu der Rechtlosen – zählen nicht. Die indischen Wanderarbeiter
brachten ihre Musik mit. Und wie im alten New Orleans war es vor allem
Hochzeits- und Begräbnismusik, Musik des Lebens und des Todes, kurz:
Banghra. So wie Banghra aber auf Barbados praktiziert wird, ist Banghra
Bastard-Jazz, eine unheimlich bewegliche Weltmusik, der aber lokale Erfahrungen
eingeschrieben bleiben. Helmut Hein |
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