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Deutschland hat den Blues. Gründe gibt es ja genug: Hitler-Filme und Holocaust-Mahnmale, hohe Arbeitslosenzahlen und schlechte Wirtschaftsdaten, ein verregnetes Frühjahr und Schalke wieder nur Vizemeister. Die bläuliche Stimmung braucht in Deutschland allerdings gar keinen Grund: Melancholie, Unzufriedenheit und ein zielloser Fernblick haben hier Tradition. Schon die Romantiker suchten in blauen Stunden blauäugig die blaue Blume im blauen Dunst. Auf die Erfindung des Blues hatte man in Deutschland daher geradezu blausüchtig gewartet. Ein blauwangiger Jazzkritiker übersetzte 1927 den „St. Louis Blues“ prompt in den Volkston der „Winterreise“: „Jeden Abend Sonn’ geht heim. Häng’ ich’s Haupt und wein’.“ Heutige Romantiker nennen ihre Bücher „Eifel-Blues“, „Reihenhaus-Blues“, „Babysitter-Blues“ oder „Mainhattan Blues“. Bei Übersetzungen helfen die blaudeutschen Verlage ein bisschen nach und machen „Trumbull Park“ zu „Chicago Blues“, „Tumbling“ zu „Philadelphia Blues“, „RL’s Dream“ zu „Mississippi Blues“ oder „Coming Through Slaughter“ zu „Buddy Boldens Blues“. Goethe schriebe heute „Werthers Blues“ und Shakespeares „Othello“ würde als „Venice Blues“ übersetzt. Übrigens sind B.B. and the Blues Shacks gerade zu Europas bester Bluesband gewählt worden. Natürlich kommen sie aus Hildesheim, der Stadt mit der bekannten Dichterschule für junge Romantiker. Logisch. Auch Blueskäse ist in Deutschland beliebt. Blauschimmelkäse heißen hierzulande „Blue Note“ oder „Bavaria Blu“, und „blu“ ist durchaus kein bayerisches Dialektwort. Der musikalische Hersteller nennt sein Schimmelprodukt vielmehr eine „Komposition für Kenner“. Musikliebhaber mit Gallenproblemen kriegen bei zart-cremiger Doppelrahmstufe in der Tat schnell den Käseblues. Rainer Wein |
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