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Kennen Sie den Anblick einer Tanne, bei der man vor lauter Zapfen kein grün mehr sieht? Berliner Jazzbands veröffentlichen Platten so wie Tannen Zapfen bilden, die Angst um ihren Fortbestand haben. Unglaublich! Alle Sprechen von der Mega-Plattenkrise, aber im Biotop der Hauptstadt scheint das niemanden zu kratzen. Aufnahmen werden gemacht, Rohlinge bespielt, dann wird zur Feier des Tages eine große Party veranstaltet und für Promotion gesorgt. Die Band „Olaf Ton“ beispielsweise bewirbt ihre Neuerscheinung „Das Vermächtnis der goldenen Kuh“ (2ndfloor) nicht nur am Anfang und Ende des Konzerts, sondern exakt vor jedem einzelnen Song, eine Art Dauerwerbesendung mit Musikunterbrechung. Ist das notwendig?
Es scheint so, denn „Olaf Ton“ zwingt sich selbst zu diesem Programm. Schon nächste Woche geht die Band erneut ins Plattenstudio und nimmt die nächste CD auf. Die Musiker tragen Fußballhemden und wahrscheinlich ist die Produktionsweise sportlich zu verstehen. Fast wie ein gegenteiliges Konzept (oder ist das dann Konzeptlosigkeit?) mutet die Record Release Party von „Nickendes Perlgras“ zu ihrer Neuerscheinung „Meat Hat“ (Konnex) an, denn die Band hat nicht einmal genug CDs für den Verkauf dabei. Sogar die Presseexemplare wandern zurück zur Band und von dort in die Tasche der Fans. Aber wie eine Party richtig komisch wird, das zeigt das Quartett „Baby Bonk“ beim Begießen ihrer neuen Scheibe „Baby Bonk sagt die Wahrheit“ (Konnex). Wie es der Zufall will, füllt an diesem Abend der komplette Jahrgang einer italienischen Oberstufe das Quasimodo. Kein Mensch versteht die ausgefeilten Ansagen. Die Wahrheit bleibt ungehört. Die gute Nachricht: Alle drei Konzertpartys finden vor vollen Häusern statt, trotz der mutigen Ansetzung an Dienstag- und Mittwochabenden. Die Clubs geben es her, sowohl im Osten (Aufsturz), wie auch im Westen (Quasimodo) kann man während des Konzertbesuchs qualmen und lachen, man sieht gut, hört gut und man trinkt zu viel. „Olaf Ton“ legen auf Einladung des Jazzkellers 69 mit rockigen Schlagzeugbeats im Aufsturz los. Bassist Michael Haves setzt mit seiner witzigen Gummiarmtechnik ein. Bass und Drums sind sich einig, die Bläser schieben eine mediumabstrakte Line über den Groove und irgendwann bricht der Trompeter die Stimmung mit einem inspirierten Interlude ohne Noten. Ansonsten wird das Programm fast komplett vom Blatt abgelesen, die Hochschulabschlussprüfung lässt grüßen. „Nickendes Perlgras“ wiederum ist äußerst dreieckig.
Klarinettist Michael Thieke und Trompeter Michael Anderson stehen sich
– dem Publikum seitlich zugewandt – wie zwei Duellanten gegenüber.
Die übrigen Schenkel bildet Schlagzeuger Eric Schaefer mit seinen
Armen, maximal gegenwärtig mit der Kraft der zwei Herzen. Die Bläserlinien
neigen zur Freiheit, meistens wird improvisiert, wobei Anderson mit der
Trompete lange eigenwillige Melodiebögen in Thiekes Töne webt.
Auffällig: Das Publikum raucht viel mehr Pfeife als bei „Olaf
Ton“ und es sind nicht so viele hübsch gestylte weibliche Twens
unter den Zuschauern. Das rechnet sich an der Kasse. Die Künstler
haben tatsächlich nicht genug CDs mitgebracht, um die Nachfrage zu
bedienen. Fazit: Auch die, die dem Trend („Plattenkrise“)
trotzen, fallen auf dessen Propaganda rein. Endlich mal was für die
Klatschseite: Bei „Baby Bonk“ taucht Martin Klingenbergs Gattin
auf, die während Ihrer Babypause lange im Publikum vermisst wurde.
Auch Clubchef Giorgio Carioti lauscht gemeinsam mit JazzFest-Manager Ihno
von Hasselt der „Wahrheit“, die auf dem Plattencover angekündigt
steht. Sie besteht aus einzelnen Untergruppen wie Car-Bonk, Underwater-Bonk,
Science-Bonk und so weiter und kreuzt Jazz mit Humor, obwohl sich hinter
den Stücktiteln schwerwiegende Inhalte wie die Amerikanische Außenpolitik
oder die Hundehaufenplage verbergen. Die hormonell aufgeladenen Bildungsurlauber
vom italienischen Stiefel bilden einen breiten Kordon um die Bühne
und isolieren die Verkünder der Wahrheit von potentiellen Jüngern.
Bereits zur Pause wird auf italienisch die Zugabe gefordert und, als der
Irrtum aufgeklärt ist und das Konzert nach Wiederanpfiff einmal besonders
abgeht, beginnen die gemischtgeschlechtlichen jungen Erwachsenen eine
Polonaise um die speckigen Tische des Quasimodos. Verblüffend! Al Weckert |
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