Nicht wahr? Skandinavische Kultur, darunter die Musik, ist einigermaßen
unverdächtig, was globale Interessen des Kulturimperialismus betrifft.
Der Sündenfall „Abba“ ist längst verziehen, wenn
auch noch nicht durchstanden. Um so berührter hört man finnischen
Tango und ist seit ein paar Jahren durch die Überraschungen aus der
norwegischen Jazz-Szene elektrisiert. Zu ihr gehört sogar die programmatische
Reihe „new conception of jazz“ von Bugge Wesseltoft. Einen
Avantgardisten des norwegischen Jazz, der seine Anregungen in aller Welt
sucht, traf die Jazzzeitung bei einem Deutschlandkonzert: den Trompeter
Nils Petter Molvaer – globales Denken und Musizieren von der angenehmen
Seite.
Jazzzeitung: Nils Petter Molvaer, gibt es für Dich
Grenzen zwischen Klassik, Pop oder Jazz?
Nils Petter Molvaer: Ein angenehmes Problem: Für
mich gibt es diese Grenzen eigentlich nicht, wenn etwas gut ist. Ob es
Neal Young, Bach oder Tayler ist, es kommt auf das Gute an, auf die Extreme.
Jazzzeitung: Nur Eingeweihte in Deutschland wissen
etwas über Deine musikalische Sozialisation, über Deine Herkunft.
Magst Du ein wenig erzählen?
Molvaer: Ich wurde in einer Musikerfamilie geboren, mein
Vater ist Schulmusiker, mein Großvater war Organist in der Kirche.
Ich habe sehr früh begonnen, Trompete zu spielen, später dann
Gitarre und Basstrommel, alles was man als Jugendlicher eben so spielt.
Mit 18 Jahren begann ich an der Musikhochschule Trondheim mit dem Studium.
Ich lernte damals gleich einen großartigen Trompetenlehrer kennen
und studierte zunächst klassische Trompete. Nach zwei Jahren habe
ich aufgegeben, um nach Oslo zu gehen, wo ich an einem Theater arbeitete
und in ein Milieu kam, in dem ich wie eine Eule verkleidet, mein Instrument
spielte. Im Herbst 1982 gründeten wir die Band „Masqualero“
und spielten Post-Miles-Davis-Musik mit dem Feeling für 1969. Nach
und nach entwickelte sich das zur After-Miles-Davis-Musik (lacht), also
zu einer eigenen Richtung.
Jazzzeitung: War Miles Davis ein Fixstern?
Molvaer: Nicht unbedingt, aber die Art seiner Musikauffassung
hat mich sehr positiv berührt und interessiert.
Jazzzeitung: Deine Stücke sind viel stringenter
komponiert, mit viel mehr Kalkül „gebaut“. Welchen Raum
misst Du der Improvisation zu? Wie genau komponierst Du Deine Musik?
Molvaer: Es gibt kompositorische Ansätze und zunächst
keine festen Strukturen. Es kann mit einem Rhythmus oder mit einer Melodie
beginnen, doch stets gibt es eine offene Ebene, auf der man seine Fühler
ausstreckt und anderer Musik, anderen Komponisten begegnet.
Jazzzeitung: Welchen Anteil hat das Computerprogramm,
welchen die Improvisation, also auch das Fühlen?
Molvaer: Das unterscheidet sich von Komposition zu Komposition.
Jazzzeitung: Bis in Konzept-Alben wie „Khmer“
hinein?
Molvaer: „Khmer“ ist tatsächlich das
Konzeptionellste, was ich gemacht habe. Das war ein Auftragswerk für
ein Jazz-Festival in Norwegen in einer kleinen Stadt. Ich habe sehr intensiv
daran gearbeitet, auch mit Technikern, die ab und zu mir kamen, um mir
zu helfen.
Jazzzeitung: Dennoch habe ich den Eindruck, dass alle
Deine Stücke dramaturgisch sehr streng durchkomponiert sind. Hören
wir immer nur das vielfach geschliffene Ende von Prozessen? Festigen sich
diese Prozesse, sind die Stücke anfänglich offener, improvisierter?
Molvaer: Wenn ich im Studio arbeite, habe ich natürlich
einen Plan, in welche Richtung ich mich bewege. Wenn ich auf der Bühne
stehe, drehe ich die Verhältnisse um – ohne festen Plan.
Jazzzeitung: Deine Themen und Motive begegnen einem
immer wieder. Sie werden variiert, modifiziert. Sind sie so etwas wie
Rückversicherungen?
Molvaer: Das geschieht nicht sehr bewusst, sondern aus
dem Gefühl heraus, einen Organismus zu finden. Ich versuche, auf
Kontraste zu stoßen, die nach und nach zusammengeschmolzen werden.
Das wirst Du als Struktur empfinden, denke ich.
Jazzzeitung: Zurück zur Ebene: Erleben wir einen
Weg zur Improvisation, zur Erkundung, oder zur Suche nach Pfaden, zu einem
kontrollierten Gang? Es gibt zum Beispiel bei „Khmer“ Sexstolen,
die rhythmisch so dominant sind, dass sie keine Erkundungen mehr zulassen.
Molvaer: Der Beginn ist die Improvisation. Ich beginne
zu spielen, bis ich etwas entdecke, was ich mag. Manchmal, wie in dem
von Dir erwähnten Beispiel, ist der Rhythmus der Grund, aus dem heraus
ich arbeite.
Jazzzeitung: Wird Jazz heute stark von der World-Musik
geprägt? Zumindest Deine Kompositionen wirken sehr liedhaft, gleichzeitig
sehr polyrhythmisch und sehr in diese Richtung forschend.
Molvaer: Jazz kommt, wie man weiß, aus dem Afro-amerikanischen,
also ist Jazz davon rhythmisch auch sehr geprägt. Für mich ist
diese ursprüngliche Musik 40.000 Jahre älter als die nordamerikanische
Musik. Man stößt auf Einflüsse aus dem arabischen Raum
und aus dem indischen. Ich würde meine Musik gar nicht als Jazz bezeichnen.
Für mich ist bei der Improvisation das freie Aufnehmen zum Beispiel
nordafrikanischer Musikalität wichtig, Instrumente wie der „Nay“-Flöte.
Gleichbedeutend ist für mich die nordische Musik, die Volksmusik.
Jazzzeitung: Jazz ist demnach ein schlechtes Label?
Molvaer: Man kann nicht sagen (und Molvaer spricht hier
deutsch), das ist schwarz, weiß, gelb oder rosa: Hauptsache das
Kind ist gesund.
Jazzzeitung: Hat „das Kind“ viele Gene skandinavischer
Vorfahren?
Molvaer: Wenn ich es mir ansehe, dann hat es starke Wurzeln
im Irak, Iran, Tunesien, also im nordafrikanischen Raum. Aber ich habe
viel mit norwegischen Folksängern zusammengearbeitet, besonders mit
einem, der Kirchenmusik aus der Zeit wiederbelebte, bevor es die Orgel
gab. Diese Musik hatte tonal sehr viel mit der arabischen zu tun.
Jazzzeitung: Gibt es für Dich musikalische Antipoden?
Vielleicht den polnischen Trompeter Tomasz Stanko oder den Amerikaner
John Zorn?
Molvaer: Nein. Tomasz ist ein enger Freund. Musik ist,
was die Persönlichkeit ist, ich sehe sie aus der Person heraus. Deshalb
haben die Musiker meiner Band auch sehr viel Freiraum.
Jazzzeitung: Kannst Du erklären, warum die Skandinavier,
besonders die Norweger, seit geraumer Zeit mit ihrer Musik so stark beachtet
werden?
Molvaer: Von Norwegen ausgehend, sind wir eine kleine
Gruppe, deren Mitglieder sehr offen miteinander umgehen. Unsere Zusammenarbeit
ist deshalb sehr transparent und ohne Konkurrenzgehabe. Auch suchen wir
uns für verschiedene Projekte innerhalb der Szene Verbündete,
da ist nichts Starres. Ich habe zum Beispiel auch an Bugge Wesseltrofts
Album „sharing“ mitgewirkt. Wir beziehen uns nicht auf ein
Genre, sondern arbeiten über den Tellerrand hinaus.
Jazzzeitung: Auch über den eigenen Tellerrand?
Es gibt eine Molvaer-CD mit dem Titel „Remixed“ – die
mit veränderten, eigenen Stücken neu aufgenommen wurden. Hängst
Du an diesem Material? Mir erscheint „Remixed“ als eine starke
Hinwendung zu tanzbarer Musik mit sehr viel härteren Rhythmen.
Molvaer: Ja, eine Rückkehr zum Kern, um erneut loszugehen.
Das ist wie eine Neuübersetzung. Alte Elemente sind mit neuen wie
Hip-Hop überarbeitet und überprüft worden. Das ist kein
Stillstand. Auch „Streamer“, eine Live-Platte, bringt Neubearbeitungen.
Nach einer Tournee aufgenommen, sind das praktisch neue Stücke. Sie
sind zum Teil auch notiert, zum Beispiel Bass-Linien. Es gibt reine Kompositionen,
und ich gebe Anleitungen, denn es soll Sauerstoff in meiner Musik sein.
Deshalb interessiere ich mich gerade auch sehr für die menschliche
Stimme.
Das Gespräch führten Burkhard Baltzer und Ingo Lie, der auch
aus dem Norwegischen übersetzte
CD-Tipps
Molvaers „Khmer“ erschien 1997 bei ECM-Records, München;
„Streamer“ 2004 auf Sula
Aktuelle Neuerscheinung
Nils Petter Molvaer: Remakes
Universal
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