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Jazzzeitung
2004/09 ::: seite 13
portrait
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Gebhard Ullmann ist vor allem eines: Schwer zu fassen, vielseitig, nirgends
einzuordnen. Er lebt in Berlin und New York. Spielt und arbeitet regelmäßig
in den Vereinigten Staaten und in Europa. Hat Medizin studiert und in
Musik abgeschlossen. Spielt Flöte, Saxophon, Bassklarinette. Komponiert
für Jazzensemble, Bigband und neue Musik für Kammerensemble.
Er schreibt Filmmusiken, hat unterrichtet. Seine über 20-jährige
Künstlerkarriere erhört man sich als gigantische Brücke,
die von eingängigem, man kann auch sagen einschmeichelndem „Ohrwurmjazz“
mit dem „Silent Jazz Ensemble“ bis zu komplexer komponierter
Musik mit „Ta Lam“ und seinen Quartetten tiefe Gräben
überspannt. Seit Jahren arbeitet er in Europa vorwiegend mit Holzbläsern
– Klarinettentrio mit Michael Thieke und Jürgen Kupke und Ta
Lam-Projekte – in Amerika mit herkömmlicheren Besetzungen in
Quartett oder Quintettstärke. Dazu zählen Conference Call und
Basement Research, mit dem Ullmann im Oktober in Deutschland und anderen
europäischen Ländern gastiert. Michael Scheiner unterhielt sich
mit dem Tausendsassa.
Jazzzeitung: Nach fünf Jahren bist du im Herbst erstmals
wieder mit deiner amerikanischen working band Basement Research in Europa.
Gibt es dafür genügend Auftritte und mit wem bist du unterwegs?
Gebhard Ullmann: Voraussichtlich werde ich mit Steve Swell, Tony
Malaby, Drew Gress und Hamid Drake touren. Ich bin in der glücklichen
Lage, dass ich außerhalb von Deutschland mittlerweile viel Interesse
an meiner Musik finde. Daher lassen sich solche Tourneen organisieren.
Einfach ist es nie. In Deutschland selbst ist es sicher in den letzten
Jahren erheblich schwieriger geworden, so dass ein Quintett eigentlich
schon nicht mehr geht.
Jazzzeitung: Weshalb…?
Ullmann: Ich habe den Eindruck, dass hierzulande ein massiver Kulturabbau
stattfindet. Kultur wird zunehmend nach Kosten-Nutzen-Aspekten beurteilt.
Das, in Verbindung mit dem Sparzwang (und mal ehrlich wie groß sind
die Kulturbudgets, dass man da realistisch einen Haushalt sanieren könnte),
der permanenten Jammerei und dann noch der „Geiz-ist-Geil“-Mentalität
ist eine fatale Kombination. Gleichzeitig ist die Qualität des öffentlichen
Rundfunks durch die Kopie der privaten Spartensender unglaublich gesunken,
was dazu führt, dass das potenzielle Publikum viele Musikarten —
nicht nur Jazz — gar nicht mehr hören kann.
Jazzzeitung: Basement Research ist ursprüngich ein New Yorker
Ensemble. Wie passt der chicagoan Drake da hinein?
Ullmann: Mit Steve Swell habe ich im vergangenen Jahr in Berlin
gespielt, Hamid (Drake) habe ich in Portugal auf dem Festival kennengelernt
und ihn dann in Lissabon wiedergetroffen. Wir haben uns auf Anhieb fantastisch
verstanden und beschlossen etwas zusammen zu machen. Dazu kam es dann
im Oktober 2002, als ich in Chicago war und mit Hamid und Darius Savage
am Bass gespielt habe. Meine damalige Agentin in Chicago hatte mir ein
kleines Festival organisiert, in dessen Verlauf ich an sieben Tagen acht
Konzerte mit Musikern aus der AACM gegeben habe. Drew ist von Anfang an
dabei und Tony Malaby ersetzte 1999 Ellery Eskelin.
Jazzzeitung: Seit wann existiert das BR-Projekt und was bedeutet
es für dich?
Ullmann: Die Band ist für mich ein zentrales Projekt. Damit
wurde ich von Soul Note unter Vertrag genommen und nach New York zu Aufnahmen
eingeladen. Das war damals ein großer Schritt für mich. Soul
Note hat mir in Nordamerika viele Türen geöffnet. Außerdem
war es mein erstes Projekt mit New Yorker Musikern, für das ich alle
Kompositionen schrieb und auch ansonsten bis hin zum Cover alles selbst
gestalten konnte. Ausgelöst hat dies übrigens Paul Bley: Nach
einem Gespräch im Berliner Quasimodo und nachdem er am nächsten
Tag mit Giovanni Bonandrini zusammengetroffen ist, kam aus Mailand ein
Fax mit der Frage nach Projektvorschlägen. Das war 1993.
Jazzzeitung: Seit Jahren bist jeweils mehrere Monate in Berlin
und New York. Kann man die Städte kulturell vergleichen?
Ullmann: Eigentlich sind sie sich recht ähnlich. Die Kraft
und musikalische Intensität, die mir persönlich New York gibt,
vermisse ich wenn ich lange nicht dort war. Umgekehrt vermisse ich den
europäischen Lebensstil nach etwa sechs Wochen. Ich war und bin in
der glücklichen Position, dass ich in New York viel Interesse an
meinen Ideen vorgefunden habe und vorfinde. Vieles hätte ich so in
Berlin zweifelsohne nicht umsetzen können.
Jazzzeitung: Weshalb – gibt es hier besondere Hindernisse?
Ullmann: Es gibt dort einfach mehr Musiker, für ein bestimmtes
Projekt kann man eine optimale Besetzung zusammenstellen. Außerdem
ist meine Musik über New York, also von außerhalb Deutschlands,
bekannt geworden. Dort gibt es eine größere Offenheit Ideen
von anderen optimal umzusetzen. Und nicht zuletzt ist die Spiel-Ästhetik
eine andere. Insbesondere bei Rhythmusgruppen wird dies für mich
deutlich.
Jazzzeitung: Dein erstes Instrument war die Flöte, erst
später kam die Bassklarinette dazu. Welche Rolle spielt sie heute?
Ullmann: Also die Bassklarinette war Liebe auf den ersten Blick.
Auf Platz eins stehen aber auch Tenor- und Sopransaxophon und mit Einschränkungen
die Bassflöte. Ich habe lange daran gearbeitet auf allen Instrumenten
ein vergleichbares Spielgefühl zu entwickeln, teilweise war das mit
dem Umbau oder der Neukonstruktion von Mundstücken verbunden. Auf
der im Herbst erscheinenden CD „bassX3“ habe ich – seit
langer Zeit – wieder einmal viel Bassflöte gespielt.
Jazzzeitung: Bei deinen europäischen Projekten, allen voran
bei Ta Lam, arbeitest du viel mit anderen Holzbläsern. Was macht
den besonderen Reiz?
Ullmann: Ta Lam begann 1990 als overdub Projekt, in dem ich bis
zu 16 Holzblasinstrumente übereinandergelegt habe.
Da ich damals alle Instrumente selbst gespielt habe und mir ein orchestraler
Klang vorschwebte, konnte ich erforschen was den speziellen Reiz von Holzblas-Kombinationen
ausmacht. Es ist außerdem spannend, Formate wie dieses mit neun
Holzbläsern und Akkordeon (Tá Lam Zehn) zum Klingen zu bringen.
Ich mag unerforschten Grund und wenn „Fachleute“ prophezeien,
das wird live nie klappen, dann erst recht.
Jazzzeitung: Neben deinen Bandprojekten hast du auch Filmmusik
komponiert.
Ullmann: Wenn ich Filmmusiken geschrieben habe, dann für Regisseure,
die meine Musik kannten. Ich lasse mich natürlich von den Bildern
inspirieren, aber die Musik wirkt in diesem Umfeld immer anders. Die Erfahrung,
die sich nach knapp 25 Jahren zwangsläufig einstellt, hilft mir bei
der parallelen Realisation verschiedener Projekte. Immer suche ich aber
auch nach neuen Wegen. Wenn etwas zur Routine zu werden droht, beende
ich es.
Jazzzeitung: Routine kann auch hilfreich sein. Hast du Angst vor Erstarrung
und wie ziehst du eine Trennung zwischen Routine und Erfahrung?
Ullmann: Erfahrung ist eine gute Sache, da man schneller bestimmte Ziele
erreichen kann. Routine ist in der kreativen und improvisierten Musik
schnell Erstarrung. Ich versuche jedesmal auf der Bühne etwas Neues
zu finden, das kann nur gelingen, wenn ich ausgetretene Pfade verlasse
und meine Mitmusiker, das Publikum, aber auch mich selbst überrasche.
Jazzzeitung: Du reist viel. Spielt das Nomadische auch in deiner
Musik eine Rolle?
Ullmann: Bei allen meinen Reisen nehme ich musikalische und gesellschaftliche
Eindrücke, auch Geräusche in mich auf. Manchmal schreibe ich
auch speziell für eine Tournee und setze die Komposition der Metamorphose
aus, die dadurch entsteht, dass die beteiligten Musiker ja auch eigene
Eindrücke haben. Die Komposition „Oberschöneweide“,
ursprünglich ein Dokumentarfilm über den Berliner Stadtteil,
veränderte sich während einer Tournee durch Südostasien
völlig.
Jazzzeitung: Nach der Conference-Call-CD „Spirals“,
kommen heuer drei weitere CDs auf den Markt. Finden deine Platte überhaupt
noch Käufer?
Ullmann: Sobald ich die Grenzen überschreite, kommen Leute
zu Konzerten und kaufen gezielt CDs, die sie noch nicht haben. So etwas
gibt es hierzulande wenig. Außerdem sind die Alben so verschieden,
dass ich es einfach dokumentiert wissen möchte. Vieles erschließt
sich sowieso erst später. Die CD „Vancouver Concert“
des Tá Lam Projekts fängt erst jetzt an, immer mehr Fans zu
bekommen.
Jazzzeitung: Deine Musik erscheint auf verschiedenen, manchmal
wenig bekannten Labels. Wie kommt die Zusammenarbeit mit einem Label zustande?
Ullmann: Soul Note, wo ich regelmäßig veröffentliche,
gilt in den USA als eines der wichtigsten Labels. Zunehmend gibt es aber
auch kleine, an der Musik interessierte Labels, die mich ansprechen. Bei
Leo Records oder Soul Note verfolge ich eine bestimmte musikalische Linie.
482 Music (Spirals, Anm. MS) wiederum ist ein aufstrebendes Label in den
USA und der Gedanke war, einen Livemitschnitt aus Berlin eben dort zu
veröffentlichen. So etwas geht bei einer deutschen Firma gerne unter.
Das hat mit dem Selbstverständnis der hiesigen Szene zu tun. Zudem
ist abgesehen von Between The Lines (und früher Nabel) keine deutsche
Firma an meiner Musik übermäßig interessiert. Der kommerzielle
Aspekt steht manchmal arg im Vordergrund. Wenn hierzulande etwas versucht
wird, dann oft mit vordergründigen Verkaufsargumenten, die rein gar
nichts damit zu tun haben, ob die Musik wirklich gut ist.
Jazzzeitung: Wie wichtig ist das Internet für Jazzmusik?
Ullmann: Es wird immer wichtiger, je mehr sich die Läden vom
Vollsortiment verabschieden. Ich habe eine umfangreiche Website mit einer
mp3 Bibliothek zu allen Projekten, mit herunterladbaren Kompositionen
und natürlich Informationen über alle CDs, die man direkt bestellen
kann: www.gebhard-ullmann.com
Diskografische Auswahl
Spirals – The Berlin Concert, Conference Call, 2004 (482
Music)
The Big Band Project, mit der NDR Big Band, 2004 (Soul Note)
Clarinet Trio, 3, 2004 (Leo Records)
bassX3, G.U. mit Peter Herbert, Chris Dahlgren, 2004 (Drimala
Records)
Final Answer, Quartett mit Matt Wilson, Joe Fonda, Michael Jefry
Stevens, 2002 (Soul Note)
Essencia, Trio mit Carlos Bica, Jens Thomas, 2001 (Between The
Lines)
Vancouver Concert, Tá Lam Zehn, 2000 (Leo Records)
Kreuzberg Park East, mit Ellery Eskelin, Drew Gress, Phil Haynes
1999 (Soul Note)
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