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Von Anfang bis Mitte Juli befindet sich Kopenhagen im Ausnahmezustand. In dieser Zeit hält der Jazz die einwohnerreichste skandinavische Stadt mit einem ausufernden Festival gefangen. An jedem Bauzaun, jeder Litfasssäule, jedem billboard prangen Plakate, die das four-letter-word Jazz tragen. Wer sich durch die Innenstadt bewegt, dem schallt alle paar Meter ein anderer Sound entgegen, von Bop bis Free, von morgens bis spät in die Nacht.
Die ganze klangliche Pracht des Jazz, seine ganze stilistische Vielfalt ist überall so präsent, dass man Swingendes, Treibendes, Groovendes aus jedem Gullideckel zu vernehmen meint. Und es kann auch schon mal passieren, dass einem auf der anderen Straßenseite eine Marching Band entgegen kommt. „Das Festival“, sagt Christian Lassen, Chef der „Danish Jazz Federation („Dansk Jazz Forbund“), „ist die größte Touristen-Attraktion des Sommers. Jeder lebt und atmet in dieser Zeit den Jazz.“ Selbst Clubs, die sonst nur dem Punk ein Forum bieten, setzen Anfang Juli voll auf Jazz. Der wird während der zehntägigen Veranstaltung auch auf diversen Plätzen, in Parks, Innenhöfen, Theatern, Museen, Antiquariaten, im Studentenhaus, in diversen Instituten, ja sogar in einem Polizeirevier gespielt. Natürlich fehlt auch beim Copenhagen Jazz Festival die Prominenz der A-Kategorie nicht: im weltberühmten Vergnügungspark Tivoli oder im Det Kongelige Teater kann man sich anhören, wie sich Keith Jarrett, Michael Brecker, Dianne Reeves, Stanley Clarke, Dee Dee Bridewater, EST, Milton Nascimento, Ahmad Jamal oder Herbie Hancock mit Wayne Shorter, Dave Holland und Brian Blade im Vergleich zur nationalen Konkurrenz schlagen. Und die ist groß, sehr groß. 850 (!) Konzerte umfasst das Copenhagen Jazz Festival und 80% davon werden von einheimischen Künstlern bestritten. Hierzulande und vermutlich auch anderswo in Europa wäre ein ähnliches Konzept undenkbar. Noch einmal Christian Lassen: „Das Festival ist vom Umfang her dynamisch angewachsen und machte zum 25-jährigen Jubiläum im letzten Jahr den großen Sprung von 700 zu 800 Konzerten. Da hieß es schon: so, jetzt ist das Limit definitiv erreicht. Aber es wollen immer mehr teilnehmen. Zwischen 80 und 100 Konzerte veranstaltet die Festival-Leitung selbst, der Rest wird von den Clubs und anderen Veranstaltungsorten organisiert. Letztendlich werden aber alle Konzerte unter einem Schirm zusammen gefasst.“ Sieht er den Umfang des Festivals nicht auch ein wenig kritisch? Er nickt. „Ich persönlich würde das Programm etwas zusammen stutzen. Von einem demokratischen Standpunkt aus ist es natürlich gut, dass so viele Musiker so oft wie möglich spielen und dass sich so viele Auftrittsorte profilieren können. Der negative Aspekt dieser Vielfalt aber ist, dass manche Musiker fünf Gigs am Tag haben und dadurch beim letzten Konzert vielleicht nicht mehr ganz so inspiriert spielen, als wenn sie nur einen Auftritt gehabt hätten.“ Als Christian Lassen das erzählt, fällt mir ein Witz ein, der sich mit der Reisewut unseres ehemaligen, permanent globetrottenden Außenminister befasste. Er ist kurz und bündig: Sind in der Luft zwei Flugzeuge zusammen gestoßen. In beiden saß Hanns Dietrich Genscher. Derselbe Joke ließe sich auch als dänischer Jazz-Insider-Joke erzählen: Sind zwei Taxen in Kopenhagen zusammen gestoßen. In beiden saß Jakob Dinesen. Der Saxophonist hielt den Rekord beim 26. Copenhagen Jazz Festival. Er war bei 36 (!) der 850 angesetzten Konzerte zu hören. Andere eiferten ihm mächtig nach. Der letzte Klavierakkord im Musikwissenschaftlichen Institut war noch nicht verklungen, als der Bassist des Jacob Anderskov Trios sein Instrument entstöpselte und sich im Eilschritt, die Oma über dem Kopf balancierend, gen Ausgang bewegte. „Ich hoffe, es macht ihnen nichts aus, wenn wir die Zugabe im Duo spielen. Unser Bassist muss zum nächsten Gig“, entschuldigte sich Anderskov. Der lange Kerl mit dem Intellektuellen-Kinnbart gilt als einflussreichster unter den jungen Pianisten in Kopenhagen. Mit seinem Trio macht er eine ungeheuer intensive Musik, die die Struktur liebt, aber auch genauso gern aus der Form strebt. Kunstvoll hält der flotte Dreier die Balance zwischen klar Gegliedertem und freiem Ausbruch. Anderskov spielte einen Tag zuvor mit der Gruppe Toxikum im Konsistoriegarden, dem Innenhofs eines Universitätsgebäudes, das genau neben der Kirche steht, in der die australische Mary ihren dänischen Kronprinzen ehelichte. Apropos Hochzeit: Toxikum steht für eine gelungene Vermählung aus Jazz-Elementen, deftigen Rock-Attacken und Sample-Wahnsinn. Die dicht notierten kompositorischen Anteile brach die Gruppe immer wieder durch wilde Improvisationen auf, in denen auch der dazu geladene französische Gitarrist Marc Ducret glänzte. Gäste haben sich viele der dänischen Jazzmusiker zum Festival eingeladen. Manche Auswärtige aber drehten die Situation um und umgaben sich als Leader mit einheimischen Rhythmusgruppen, so, wie es schon berühmte Vorbilder in Kopenhagen getan haben, die dann sogar hier ansässig wurden, etwa Dexter Gordon, Ben Webster oder Kenny Drew. Der ehemalige Lounge Lizards-Saxophonist Michael Blake, der auch zur Führungsetage der New Yorker Jazz Composers Collective gehört, jedenfalls legte mit „Blake Tartare“ einen Wahnsinns-Set im Konsistoriegarden hin und zeigte eindrucksvoll, dass straight ahead Jazz auch in anderen Bahnen verlaufen kann. Während Blake Tartare und Toxikum bei ihrem Open-Air-Gig-Dusel mit dem Wetter hatten, erwischte andere die nasse Pracht von oben voll. Der Gitarrist Pierre Doerge trat mit seinem New Jungle Orchestra und dem Chor Ars Nova im Innenhof des Polizei-Prädiums auf (wo es übrigens Alkoholausschank gab). Zum Schluss strebten die Musiker von der Bühne und jeder der Bläser wusste dabei einen eigenen Schirmträger hinter sich. Problematisch war bei dem Konzert nicht nur das Wetter, sondern auch die Musik. Einige eindrucksvolle Passagen konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass Doerge zwischen mittelalterlichen Gesängen, Worldmusik-Elementen, Ellington- und Sun Ra-Anspielungen keine rechte Linie fand. Sehr konsequent hingegen war, was der dänische Saxophonstar Hans Ulrik mit seinem Quartett im Park Cafe´s Gardhave musizierte. Schöne, klare Melodien liefen über zwingende, aber sehr locker dargebotene Grooves, und das Wurlitzer-Piano brachte eine angenehme Klangfarbe ins Spiel. Sehr viel komplexer liebt es das Quartett „Mold“, bei dem der Kölner Trompeter Stephan Meinberg ein gewichtiges Viertel ausmacht. Im oberen Stockwerk des Huset umspielten sich die zwei Bläser kunstvoll, während die Gitarre vertrackte Figuren unterlegte und der Keyboarder mit Sample-Attacken, Geräuschmanövern und warmen Vintage-Synthesizer-Sounds ins Geschehen einfiel. Mold war nur ein Beispiel dafür, was sich in der dänischen Szene alles entdecken lässt. Da sich bei einem so umfassenden Festival wie dem in Kopenhagen naturgemäß nur kleine Klang-Kostproben nehmen lassen, wird einem wohl nichts weiter übrig bleiben, als in den nächsten Jahren wieder hinzufahren, um eine der spannendsten Szenen Europas gründlich zu erkunden. Ssirus W. Pakzad radio-tipp
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