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Soll ich Ihnen die schreckliche Wahrheit über meine Nachbarin verraten? Sie ist unmusikalisch. Das erkennt man ganz klar daran, dass sie sich ständig mit einer Geräuschkulisse umgibt. In der Küche dudelt, bumst und quasselt ihr Top-Forty-Radio, im Wohnzimmer glissandiert ein grässlich-grüner Wellensittich durch drei Oktaven, nebenbei tröten quäkende Stimmen vom AB, auf dem Handy meldet sich ständig eine Bach-Badinerie in Piepso Presto, der Computer grüßt mit einer verstimmten kleingroßen Terz viermal hintereinander und sogar die Mikrowelle und der Küchen-Boiler gehören zu ihrem Hausorchester. Ich mag meine Nachbarin wirklich. Sie ist hübsch, Single und spricht kaum Dialekt. Außerdem nimmt sie meine Promo-Päckchen an, wenn ich noch schlafe, und hat sich noch nie beschwert, wenn ich gegen elf endlich versuche, mit meiner Lieblingsplatte wach zu werden, Charles Gayle Meets David S. Ware. Ich besuche die Nachbarin manchmal, aber ich bleibe nie lange. Irgendwann nehme ich nämlich nicht mehr wahr, was sie sagt, sondern lausche nur noch auf Geräusche, und das in alle Richtungen. Duettiert der Kühlschrank neuerdings mit dem Vogel? Haben sich Handy und Türklingel etwa auf Cis-Dur geeinigt? Woher kenne ich nur diese Melodie aus dem Radio? Einer wie ich hört aus allen Tonfolgen Geschichten, Botschaften, Entwicklungen, Gespräche. Und das Geplapper der netten Nachbarin wird dann zum Hintergrundgeräusch. Fast hätte ich es überhört, als sie sagte: „Ich habe ein kleines Geschenk für Sie.“ Ich freute mich nur vorsichtig, und tatsächlich kam es, wie es kommen musste. Auf der Packung stand: „Ein funkelnder Blickfang. Das 2er-Set Klangspiele ,Melody’ mit Rundbogen aus Metall, 2 Klangstäben + Spiegeln inkl. Aufhängung. In Blau & Flieder. Je ca. 45 cm lang.“ Ich war fassungslos. „Für mich?“ – „Sie müssen es unbedingt am Balkonfenster aufhängen, da funkelt es am besten.“ Das Funkeln wäre kein Problem. „Ein quengelnder Hörfang“ müsste es heißen. Hätten die sich nicht wenigstens etwas anderes ausdenken können als einen zweifach oktavierten C-Dur-Akkord? Wie wäre es mit einem 16-stimmigen Ligeti-Cluster? Oder wenigstens einem F#9dim13 wie am Anfang von diesem Quincy-Jones-Blues? Nach zwei Tagen begann ich, die Klangspiele „Melody“ mit meinem Heimwerker-Set zu bearbeiten. Vielleicht kriege ich wenigstens einen Quintsextakkord hin. Damit die nette Nachbarin es nicht merkt, lege ich beim Hämmern immer meine Lieblingsplatte auf. Charles Gayle Meets David S. Ware. Eine Wohltat. Rainer Wein |
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