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Um die Jahreswende herum überschlagen sich die Neuigkeiten. Zählungen ergeben, dass in Berlin ganze 92 Veranstaltungsorte Jazz anbieten. „Die Jazz-Hochburg der Nation heißt Berlin: 8 Prozent der Hauptstadt-Einwohner lieben Jazz“, ermittelt EMNID für die TV-Zeitung „Auf einen Blick“. Auch der Wirtschaftssenat kann Positives verlautbaren. Dank des Zuzuges von Sony, Universal und weiterer Unternehmen liegt der Marktanteil der Berliner Musikwirtschaft am gesamtdeutschen Umsatz bei nun 60 Prozent! Als mit Till Brönner und Julia Hülsmann gleich zwei Berliner Künstler die Cover der Jazzillustrierten zieren, lädt Journalist Wolf Kampmann Berliner Jazzexperten in den SFB, um zu fragen, ob Berlin Jazzhauptstadt sei. Mannigfaltige Antworten inspirieren unseren Berlin-Korrespondenten Al Weckert zu einer Nachbetrachtung über Widersprüche in der ökonomischen und kulturellen Wahrnehmung. Erkenntnisgewinn durch Statistik: „Nichts. Oder sehr viel“Die Bedeutung Berlins für die deutsche Jazzlandschaft erschließt sich aus unterschiedlichen Statistiken, die sich wie verstreute Puzzle-Teile zu einem Gesamtbild zusammenfügen. Bei aller Ungenauigkeit bieten die folgenden Zahlen Anlass zur Nachdenklichkeit. Umberto Eco lässt seine Detektivfigur William von Baskerville auf die Frage „Was können wir nun mit unserem Wissen anfangen?“ antworten: „Nichts. Oder sehr viel.“
Die von Wolfram Knauer geleitete Forschungsstelle Jazzinstitut Darmstadt erhebt für alle deutschen Städte im Zweijahresrhythmus das Jazzangebot. Im Mai 2003 listet das Jazzinstitut für Berlin 35 Spielorte, 5 Vereine, 9 Festivals, 4 Workshopveranstalter, 3 Lehrinstitute und 1 Wettbewerb. Die zweitgrößte deutsche Stadt Hamburg wird an gleicher Stelle mit 30 Spielorten, 8 Vereinen, 5 Festivals und zwei Lehrinstituten geführt. München bietet 28 Spielstätten, 5 Vereine, 8 Festivals und 5 Lehrinstitute. Oberflächlich betrachtet liegen Berlin, Hamburg und München relativ nahe beieinander. Das tatsächliche Konzertangebot unterscheidet sich allerdings stark. Eine Internetrecherche für Januar 2003 basierend auf den Einträgen des Jazzinstituts führt zu folgenden Ergebnissen: Berlin führt die Liste der Konzertveranstaltungen mit 200 Terminen deutlich an vor München (123), Hamburg (102), Köln (70), Frankfurt/Main (41), Dresden (43) und Leipzig (16). Die Differenz wird noch deutlicher, wenn wir den Fokus auf echte Jazzclubs beschränken. Für das Jahr 2001 ermittelte Wolfram Knauer in Band 7 der Darmstädter Beiträge zur Jazzforschung (Wolke Verlag 2002) eine Statistik der Anbieter von 3-4 Terminen pro Woche: 10x Berlin, 3x München, 2x Hamburg, 1x Bremen. Die Lupenansicht der Berliner Jazzszene verändert das Bild noch einmal. Stadtzeitungen und Jazzportale verzeichnen mindestens 92 Berliner Spielorte, die Monat für Monat Jazz anbieten: Aktuell 13 Jazzclubs (Atalante, A-trane, Badenscher Hof, BeBop Bar, B-flat, Jazz Food Kantine, Kleine Weltlaterne, Lush Life, Mingus Jazzclub, Rickenbackers Music Inn, Kunstfabrik Schlot, Soultrane, Yorckschlösschen), 15 Clubs mit Jazzangebot (ABC-Jazzbar, Acud Café, Café Harlem, Flöz, Forum Tertianum, Friends Club, Grüner Salon, Harlem, Junction Bar, Knorre, Quasimodo, Regenbogenfabrik, Wasserturm, Werkstatt der Kulturen, Zimmer 16), 26 Konzertreihen (Alluttirps, ARD Hauptstadtstudio, August, Ausland, Café Bilderbuch, Cafe Uebereck, DeutschlandRadio Berlin Studio 10, Englischer Garten, Galerie Stil und Bruch, Jazztreff Karlshorst, Kulturhaus Mitte, Mosquito Bar, Preußisches Landwirtshaus, Prinzipium, Pulse Percussion, Rathaus Tempelhof, Ratskeller Schmargendorf, Raumschiff Zitrone/Echtzeitmusik, RAW-Tempel, SFB-Sendesaal, Steps Biergarten, Taubenschlag, Vollmond, Waati/Jazzkeller 69, Wabe/Jazz Units, Zosch), 19 gastronomische Jazzanbieter (Café K, Delicious Doughnuts, Store House Hotel Berlin Excelsior, Jubinal, Mangiapane, Mississippi, Nocti Vagus, Zur letzten Runde, Alte Meierei, Blisse 14, Deponie No. 3, Die Eins, Eierschale im Haus Zenner, Kaiserhof, Neu-Helgoland, Grand Hyatt Hotel Vox Bar, Hilton Hotel, Adams, Café Pangea), 9 Festivals (BKA Zelt/Jazz & Blues Award [Jazzinitiative], Botschaften/Jazz in den Ministergärten, Clubs/Fringe Festival [Jazzradio], Haus der Berliner Festspiele/Jazzfest, Haus der Kulturen der Welt/Backroom, Landesmusikakademie/Jazztreff [Landesmusikrat], Podewil/Total Music Meeting [Free Music Productions], Ratskeller Köpenick/Jazz in Town, Ufa Fabrik/Jazz Meeting, Wabe/Jazz Fokus [Jazzfront]) und 9 weitere Veranstaltungsorte (Arena, Audi Forum, Columbiafritz, Kalkscheune, Passionskirche, Philharmonie, Tempodrom, Tränenpalast, Universität der Künste). Auf Grund dieser neuen Einsicht muss die Zahl der Berliner Jazzkonzerte in einem durchschnittlichen Monat weit über 200 angesetzt werden. Clubs & Co: Schluss mit der GravitationDie Wirtschaftswissenschaft lehrt uns, dass der Markt ähnlich wie die Natur Gleichgewichtszustände anstrebt (durch die Analogie zur Physik begründet die Wirtschaftslehre ihre Konstitution als wissenschaftliche Disziplin). Ein Angebot (Jazzclub) findet Nachfrage (Publikum), wenn sich ein Bedürfnis (Hören) zu einem Bedarf (Kartenkauf) konkretisiert. Die Höhe der Nachfrage und des Angebots in einem einzelnen Markt pendeln sich durch das Regulativ der Preise ein. Laut Theorie entscheiden die Schnittstellen der Angebots- und Nachfragekurven in Abhängigkeit von Preisen und Mengen über die tatsächlichen Verkäufe. (Räuspern).
Der Berliner Musikmarkt passt demzufolge das Angebot von Avantgarde, Dixieland und Mainstream so lange über Bierpreise und Eintrittsgelder an die Publikumsnachfrage an, bis ein stabiler Gleichgewichtszustand erreicht ist. Anbieter und Nachfrager von Jazz verhalten sich in diesem Modell streng rational. Sie bieten nur an, was sich mindestens zu sogenannten Grenzkosten (Preisuntergrenze) veranstalten lässt, sie fragen nur nach, was einen maximalen Nutzen (gesellschaftliches Erlebnis, Hörerlebnis etc.) für sie bringt. Die Wirtschaftstheorie unterstellt, dass Clubbetreiber und deren Kundschaft über den Gesamtmarkt mit all seinen Charakteristika, Einzelpreisen oder Nutzenpotentialen vollständig informiert sind. Sie richten ihr Verhalten streng nach diesen Erkenntnissen. Nehmen wir Musikerhonorare als Beispiel für Marktpreise. 1977 vereinbarte eine Initiative aus Jazzmusikern, Clubbetreibern und Journalisten eine für Berlin gültige Mindestgage von 70 bis 80 Mark. Die durchschnittliche Abendgage eines Berliner Jazzmusikers im Jahr 2003 beträgt 30-50 Euro, falls nicht sowieso gegen Eintritt oder Prozente davon gespielt wird. Dr. Oliver Holtemoeller vom Sonderforschungsbereich Statistik der Humboldt-Universität Berlin rechnet für die Jazzzeitung die Relation aus. „Die Verbraucherpreise sind von 1977 bis 2002 um den Faktor 1,93 gestiegen. 75 Mark von 1977 entsprechen demnach 75 Mark * 1,93 = 144,82 Mark im Jahr 2002. Das sind umgerechnet 74 Euro. Die durchschnittliche Inflationsrate betrug 2,67 Prozent. Inflationiert man die 75 Mark von 1977 statt mit dem Lebenshaltungsindex mit dem Index für Dienstleistungen, so ergibt sich ein heutiger Wert von 78 Euro.“ Folglich sind die Gagen in Berlin in den letzten 25 Jahren um ein Drittel oder sogar um die Hälfte abgestürzt, sofern überhaupt eine Gage gezahlt wird. Wer in Berlin als Musiker überleben will, muss immer mehr arbeiten für immer weniger Geld. Sind 92 Jazzveranstalter, Musikergagen unter 50 Euro und mehrere hundert Konzerte monatlich das Marktgleichgewicht für Berlin? Sind die Lokalitäten ausgelastet, mindestens zu Grenzpreisen? Können die Musiker von ihren Gagen leben (ökonomisch gesprochen: sich gesellschaftlich reproduzieren)? Was wissen die Veranstalter über ihr Publikum, was weiß das Publikum über Veranstaltungsalternativen? Handelt es sich bei diesen Erklärungen vielleicht um wissenschaftlich begründeten Nonsens, den „Nirwana-Approach“? Enden an der Stadtgrenze die Gesetze der Gravitation? Berliner Musikerwitz: „Bitte hinterlassen Sie keine Nachricht“Die Handy-Mailbox eines bekannten Berliner Schlagzeugers ist mit folgender hintersinniger Ansage versehen: „Ich bin nicht zu Hause (sic!). Bitte hinterlassen Sie keine Nachricht für mich.“ Gespräche mit dem Handybesitzer ergeben folgendes Bild: Er mietet eine trendy gelegene Altbauwohnung mit Kohleofen, die Mietkosten liegen bei 200 Euro. Er fährt eine gebrauchte Schwalbe mit Anhänger und übt in einem vollsaniertem Proberaum mit Fenstern und Aufzug für 300 EUR Komplettmiete (geteilt durch 4 Mieter). Seinen Jazz spielt er in Kinos, Kneipen und Bürgerhäusern, sogar beim JazzFest. Während Konzertreihen aus dem Boden schießen, stürzt sich unser Mann von einem musikalischen Projekt ins nächste. Wenn die ganze Stadt privatisiert und dereguliert wird, dann lebt der Wildwuchs. Die Hauptstädter warten auf das böse Ende, wenn das Leben der einfachen Leute sich in eine unbezahlbare Zwangslage verwandelt. Aber Lebensmittel, Mieten und sonstige Kosten bleiben bislang im nationalen und internationalen Vergleich ein Witz. Entgegen aller Kassandrarufe kann man in Berlin weiter leben, spielen, träumen. Für die Szene tun sich neue Winkel auf und obwohl Berlin keinen außerordentlichen Ruf als Hochschulstandort genießt, ist die Stadt in Deutschland und Europa zu einer der ersten Adressen für alle Formen der improvisierten Musik aufgestiegen. Eine Szene ist eine Szene ist eine SzeneEigentlich ist der Begriff Jazzszene irreführend. Im Interview mit Wolf Kampmann präzisiert der Schweizer Schlagzeuger Michael Werthmüller: „Ich habe immer Jazz gespielt, aber Berlin ist für mich als Jazzstadt überhaupt nicht spannend. Obschon es hier wahnsinnig viele tolle Musiker gibt, aber dieses Wort Jazz finde ich heutzutage sowieso schon komisch. In meiner Begrifflichkeit von Musik geht es überhaupt nicht mehr um Jazz, da ist alles aufgelöst (lacht). Mir ist egal ob das jetzt Jazz ist oder Neue Musik. Da geht was weiter in Berlin, habe ich das Gefühl. Ich bin vielmehr in dieser komponierenden Musikszene, wo aber die wirklich guten Jazzer heute auch drinstecken. Deshalb finde ich Berlin interessant, weil dort die Neue Musik zusammenkommt mit Leuten, die etwas vom Jazz verstehen und sich nicht mehr auf Standards berufen.“ Das Wort Jazz wird inzwischen verwendet, um den Anforderungen der Erlebnisgesellschaft gerecht zu werden. Jazz wird vermarktet, das Wort selbst ist eine Marke. Kulturtypische Handlungsroutinen werden erzeugt, die für Elektrofreaks oder Oldtimer Struktur in den sozialen Alltag bringt. Die Kategorien beeinflussen massiv Ausgeh- und Kaufverhalten. Im Extremfall grenzen sich Studenten einer Hochschule gegenüber der nur Kilometer entfernten Konkurrenz ab und glauben fest an die Unterschiede. Die Ausführungen Werthmüllers sind bemerkenswert, weil keine Einzelströmung, sondern Vielfalt die Bedeutung Berlins als Musikstadt ausmacht. Um in der Informationsmasse nur annähernd den Überblick zu behalten, braucht es Zeit, Energie und ein gemäßigtes Ego. Siggi Busch, mitverantwortlich für den Bereich Jazz der Universität der Künste, kritisiert: „Der ehemalige Chef von FMP wohnt direkt neben unserer Hochschule, der ist aber nicht einmal bei uns gewesen.“ Freimütig ergänzt er: „In der Clubszene bin ich mit meinen 59 Jahren verhältnismäßig wenig vertreten.“ „Steigerungsrate in der Woche über 50 Prozent“Große Teile der Jazzszene haben ihre Rolle als Erlebnisproduzenten fest verinnerlicht. Sedal Sardans Soultrane bedient die Upper Class, das Raumschiff Zitrone die Sonderlinge. Die Schlacht um das Publikum führt dazu, dass jede Nische von der Angebotsseite doppelt und dreifach besetzt wird. „Musikveranstaltungen sind riskant wie nie zuvor,“ schreibt Mirko Heinemann in der Berliner Stadtzeitung Zitty. „Während in einer durchschnittlichen Woche im Mai 1993 insgesamt 264 Popkonzerte in Berlin stattfanden, waren es fünf Jahre später schon 317. Vor allem macht sich die Diskrepanz in der Woche bemerkbar. Am Wochenende stieg die Zahl der Konzerte um rund 5 Prozent, dagegen beträgt die Steigerungsrate in der Woche über 50 Prozent – ein Hinweis auf die gestiegene Auslastung der vorhandenen Veranstaltungsorte.“ Mut macht demgegenüber der Januarbericht 2002 des Deutschen Instituts für Wirtschaft. Eine Langzeitstudie (Sozio-oekonomischer Panel, SOEP) beweist, dass die Kulturnachfrage in der Hauptstadt in allen Bereichen wächst. Insbesondere im Feld der Populärkultur wurde zwischen 1995 und 1998 ein Wachstum von 18 Prozent verzeichnet. Weil sich aber auch die Medien weiter spezialisieren, wird den PR-Verantwortlichen immer mulmiger zu Mute. Giorgio Carioti, Betreiber des legendären Musikclubs Quasimodo, beklagt gegenüber Wolf Kampmann: „Das Hauptproblem in Berlin scheint mir, über die Medien an das Publikum ranzukommen. Irgendwie muss man die Leute informieren. Heutzutage ist ein Tagestipp in Zitty, Tip und Tagesspiegel ein reiner Zufallstreffer. Es gibt Publikum in Berlin das interessiert wäre. Aber wenn man die Leute nicht informieren kann, dann kommen sie auch nicht.“ Nur konsequent, dass Internetmagazine in der Hauptstadt boomen. Doch längst nicht alle Beteiligten wollen sich mit neuen Medien auseinandersetzen. Carioti reagiert gereizt auf den Vorschlag von Christian Kellersmann – seines Zeichens immerhin Jazzchef bei Universal – Direktwerbung mit Email-Verteilern zu betreiben: „Jazz ist vom finanziellen her eine ultra uninteressante Geschichte für Veranstalter. Wenn Du jetzt noch von mir erwartest, dass ich nicht nur Geld verliere, sondern mich noch den ganzen Tag an den Computer setze, um irgendwelche Werbesendungen zu machen, dann hätte ich gar nicht die Zeit dazu.“ Ob Universals eigenes Online-Projekt Gewinn abwirft, kann Kellersmann auch nicht vorweisen. „Wenn wir einen Xavier Naidoo des Jazz hätten“Oft hat es sich in der Musikwelt ausgezahlt, wenn Zusammenhänge von Musikern unter einem Etikett propagiert wurden. Auf Wolf Kampmanns Frage „Was müsste in Berlin passieren, damit die Stadt als Jazzstandort für eine Firma wie Universal interessant wird?“ antwortete Christian Kellersmann: „Wenn wir in Berlin fünf interessante Musiker mit einem Berlin-Sound hätten, den man verkaufen könnte, so wie es einen Philly-Sound gab, natürlich würde das unseren Job sehr viel einfacher machen. Ich glaube im Mannheimer, Heidelberger Raum gibt es eine recht aktive Szene. Wenn wir einen Xavier Naidoo des Jazz hätten...“ Die wutentbrannte Entgegnung des Musikers Michael Werthmüllers lässt auf tiefer sitzenden Frust schließen: „Das ist doch wohl Kommerz. Wo bleibt die Qualität? Die Erneuerung? Das Weitergehen? Das ist doch eine wichtige Frage.“ Woraufhin Kellersmann unschuldig entgegnet: „Ja, klar. Mein Reden.“ Christian Kellersmann findet, dass Till Brönners CD „Blue Eyed Soul“ das beste und innovativste Jazz-Produkt seit vielen Jahren ist. Ausgerechnet „Blue Eyed Soul“? Ein Tonträger, der in der Frankfurter Rundschau als „Musik für den Obststand im Supermarkt“ verspottet wurde?! „Jammern ist der Gruß des Berliner Jazzmusikers“Die Erfolgsgeschichte des Jungen vom Dorf, der in Berlin sein Glück macht, ist längst Klassenziel. Doch Brönner hat den meisten Konkurrenten alles an Durchsetzungsvermögen voraus. Reihenweise stürzen um ihn herum Projekte ab, die ähnlich risikoarm, aber weitaus schlechter gemacht sind. Voller Ironie berichtet Siggi Busch: „Die haben alle den Anspruch, dass die was besonderes machen.“ Ähnliches gilt für viele Veranstaltungslokale. Welcher ist denn nun der Berliner In-Laden für Jazz? Und: Wie entsteht denn überhaupt ein Kult? Vor zehn Jahren werkelten sechs DJs mit Hornbrillen am Rande der Doughnuts-Tanzfläche, nicht ahnend, dass sich der Wert ihrer Arbeit in nur kurzer Zeit verhundertfachen würde. Sie hatten das Ohr bei den Vertrieben, lebten mitten in ihrer Zielgruppe, testeten ihre Songs auf der Tanzfläche, arbeiteten mit bezahlbaren Technologien, suchten sich ein passendes Ambiente, waren geil auf das Feedback zu ihrer Musik. Kein Groove quer genug, kein Groove zwingend genug. Das Jazzanova-Kollektiv ging ständig in fremden Ländern auf Wanderschaft und holte sich Input von Experten und Exoten. Heute ist das größte Problem von Jazzanova die Vereinnahmung. Mittlerweile will jeder an ihrem Erfolg partizipieren. Das Phänomen Jazzanova zeigt, wie wenige Menschen willens und fähig sind, ihre eigene Vibration mit ähnlicher Kraft strahlen zu lassen. Clubchefs erwarten von Musikern, dass sie ihr Publikum mitbringen, Musiker erwarten von Clubchefs, dass sie ihnen die Hütte voll machen. Die Gäste in der vollen Hütte erwarten Unterhaltung und Service, die Musiker erwarten von den Gästen Musikverständnis und die Clubchefs Trinkfreudigkeit. Weil die Taschen leer und die Seelen gestresst sind, verwandeln sich Erwartungen in Frustration und Frust in Aggression. „Jammern ist der Gruß des Berliner Jazzmusikers“, so zitiert Wolf Kampmann Professor Busch. „Nur weil Berlin aus Zufall zur Hauptstadt erklärt wird…”Pauschalisiert haben wir es mit drei Verhaltensextremen zu tun. Das eine repräsentiert Till Brönner, dessen ungeschminktes, zweckbezogenes Anbieten von Hörerlebnissen den Eindruck unternehmerischer Optimierung vermittelt. Künstlerische Ambition tritt hier bestenfalls noch als Kompromiss auf. Das zweite verkörpern Musiker wie Antonio Palesano, für den die Freiheit von institutionalisierten Sachzwängen die Vorbedingung seiner Arbeit ist. Ein Großteil des eigenen Schaffens bleibt verbannt in Schubladen, oft reduziert sich die Öffentlichkeit auf halb private Zirkel. Die dritte Teilgruppe bringt weder für den einen noch den anderen Weg die notwendige Radikalität auf und verzweifelt. Auch für die Musikindustrie ist die Situation zweischneidig. Die Berliner Musikwirtschaft wächst sprunghaft. Zwischen 1998 und 2000 ist das Umsatzvolumen nach Angaben des Wirtschaftssenats (Rundbrief 1/2003) um die 50 Prozent angestiegen auf über 517 Millionen Euro. Seit dem Jahr 2000 stieg der Marktanteil der Berliner Musikwirtschaft am gesamtdeutschen Umsatz von etwa 8 auf etwa 60 Prozent, was sich maßgeblich aus der Ansiedlung von Sony-Music, Universal und weiteren Unternehmen erklärt. Im Jahr 2003 werden auch die Musikverbände ihren Hauptsitz nach Berlin verlegen. Anfang 2004 folgt dann MTV der Musikkarawane in die deutsche Hauptstadt. JazzThing berichtet, dass sich der Jazz-Marktanteil der deutschen Musikwirtschaft nach Angaben des Bundesverband der Phonographischen Wirtschaft zuletzt von 1,4 Prozent auf 1,8 Prozent gesteigert hat. „Dabei machten die Jazz-Plattenfirmen einen Gesamtumsatz von 38 Millionen Euro Umsatz, eine Steigerung von 14,7 Prozent gegenüber 2001.“ Was Berlin fehlt, ist der Mittelstand. Kaum zu begreifen, dass sich die dicken Fische unter den unabhängigen Jazzlabels in Nord-, West- und Süddeutschland tummeln, weil sie dort über „gewachsene Kontakte“, „Lebensqualität“ oder einen „attraktiven ländlichen Mittelpunkt“ verfügen. Bei einer direkten Befragung führen eine Großzahl der Jazzunternehmer an, dass es im digitalen Zeitalter egal ist, wo das Unternehmen angesiedelt ist. Peter Cronemeyer von Laika-Records behauptet: „Nur weil Berlin aus Zufall zur Hauptstadt erklärt wird, ändern sich die wirtschaftlichen Aspekte eines Jazzlabels nicht.“ „Auf Qualität zu achten, zahlt sich aus“Berlin bietet den mittelständigen Jazzlabels eine substanzielle Chance. Ein Beitrag der Wirtschaftsillustrierten Brand Eins im August vergangenen Jahres stellt fest, dass die Krise der Musikindustrie in erster Linie die Großkonzerne betrifft, die dem Teufelkreis der Schnelldreher und den Maßgaben des Profit-Centers unterliegen. Zitiert wird der Berliner Konzertunternehmer Berthold Selinger, der Brand Eins-Autor Peter Lau zu Protokoll gibt: „Langfristig zu arbeiten und dabei auf Qualität zu achten, zahlt sich aus.“ Insbesondere die Möglichkeit, hochinteressante Künstler täglich live gemäß ihrer Ausstrahlung und der Publikumsreaktion beurteilen zu können, sollte Musikunternehmer reizen nach Berlin zu kommen. Manfred Fischer, Referatsleiter im Bereich Künstlerförderung der Senatsverwaltung für Wissenschaft, Forschung und Kultur in Berlin-Mitte würde das Wachstum gerne gezielt stimulieren. Tatsächlich kämpft er heute praktisch nur noch Abwehrschlachten. Berlin war die erste deutsche Metropole, die Ende der 70er Jahre die Förderung der Off-Szene zur Chefsache erhob. Im Verlaufe der letzten zehn Jahre hat sich der Etat bereits wieder halbiert. Für 2003 sollen dem Jazz 130.000 Euro (gegenüber 150.000 Euro im Vorjahr) zu Gute kommen, wie viel davon effektiv ausgeschüttet wird, ist unklar (im vergangenen Jahr überlebten 98.000 Euro die zusätzlichen Kürzungen). Dennoch macht Fischer einen wichtigen und guten Job, wenn sein Haus die Förderung flexibel an aktuelle Brennpunkte verschiebt, darüber hinaus Gelder an Künstler und erfolgreiche Konzertreihen vergibt. Schon jetzt verteilt sich die Berliner Jazz-Szene über fast alle deutschen Jazzlabels, so beschäftigt „Acoustik Musik“ Volker Schlott, ACT Julia Hülsmann, Frank Möbus, Gerard Presencer und Bert Wrede, BMG Manfred Krug und Andrej Hermlin, „Compost“ Paul Kleber und Micatone, ECM das Berlin Contemporary Jazz Orchestra, Ed Schuller und The 12 Cellists of the Berlin Philharmonic Orchestra, Edel Jocelyn B. Smith, Enja (Horst Weber) Rudi Mahall, Larry Porter, Alexander von Schlippenbach und Aki Takase, Enja (Winckelmann) Carlos Bica, Ferenc Snétberger, Sandra Weckert und Andreas Willers, FMP Konrad Bauer, Axel Dörner, Ulrich Gumpert, Walter Gauchel, Sven Ake Johansson, Uli Jenneßen, Jörg Huke und Ernst Ludwig Petrowsky, „Grob“ Die Enttäuschung und Olaf Rupp, Jazz4Ever Daniel Erdmann und Felix Wahnschaffe,Jazz Hausmusik Franz Bauer, Dirk Berger, Jan von Klewitz, Nickendes Perlgras und Eric Schäfer, Intuition Jerry Granelli, „Klangräume“ Siggi Busch, Fun Horns, Tritorn und Willekes Wille, Laika Hans Hartmann, Metarecords Günter Adler, Johannes Fink, Kalle Kalima und Adam Pieronczyk, Minor Music Lisa Bassenge, Sonja Kandels und Nico Thärichen, „Mons“ die RIAS Big Band, Mood John Schröder, Nabel Gebhard Ullmann, Nagel-Heyer Lyambiko und Karl Schlotz, Sony Judy Niemack, Timescraper Ernst Bier und Christian Kögel, Traumton Tilmann Dehnhard, David Friedmann, Martin Koller, Michael Schiefel und Yakou Tribe, Tzadik (John Zorn) Paul Brody sowie Universal Till Brönner. Ein reales Feld für TalentjägerIn Berlin erleben wir trotz niedriger Gagen hervorragende Künstler und internationale Gäste bei der täglichen Arbeit. Gebhard Ullmann verdeutlicht im Gespräch mit Wolf Kampmann: „Das führt dazu, dass man die Projekte dort in der Aufbauphase vorstellt. Wenn die Projekte dann fertig sind, dann will man natürlich auch eine Gage dafür kriegen und dann sieht man auch dort die Projekte relativ wenig oder nur unter bestimmten Bedingungen.“ Zu den Profis gesellen sich 3.400 Musikstudenten und 40.000 Musikschüler, die Berlin zum realen, nicht virtuellen Feld für Talentjäger machen. In gewissem Sinn beflügelt der ökonomische Absturz des Landes Berlin den Jazz. Wer die Möglichkeiten erkennt und sich nicht von mittelmäßigen Leistungen und unterentwickeltem Sozialverhalten, egal von welcher Seite, herunterziehen lässt, wird schnell Gefallen an der Sache finden. Wer darüber hinaus die eigene Idee – sei es ein Club, ein Musikprojekt, eine Jazzfirma – mit Geist, Originalität und Kommunikationsbereitschaft ausstattet, der kann in Berlin sogar die Zukunft des Jazz mitgestalten. Diejenigen also, die an sich den Anspruch stellen, die Jazzwelt bewegen zu können, die sollen sich mit dickem Fell im Gepäck auf in die Hauptstadt machen. Kein Telefongespräch und kein Musik-File wird jemals den Augenschein ersetzen, den die Berliner Szene aktuell bietet! Albert Weckert |
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