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Natürlich spielt der Titel auf einen berühmten Film von Ingmar Bergman aus den 70er Jahren an. „Schreie und Flüstern“ erzählt von einem existenziellen Extrem: vom Verlust der Liebe und von einer tödlichen Krankheit; von Situationen, in denen die Kommunikation kollabiert; von Zuständen, in denen Verständigung nicht mehr möglich ist und nur noch „reiner“, d.h. desemantisierter, hysterisch zugespitzter Ausdruck bleibt. Höchste Intensität entsteht dort, wo jeder Sinn sich auflöst. Noch radikaler: Authentizität gibt es nur, wo Anomie herrscht. Das gilt auch für das avanciertere Theater, etwa das Luc Percevals. Und es ist keineswegs ein Zufall, dass im Zentrum seiner neuesten Shakespeare-Dekonstruktion, mit der jetzt die Münchner Kammerspiele wieder eröffnet wurden, ein Jazz-Musiker steht. Der Pianist und Sänger, oder vielleicht besser: Schreier und Flüsterer Jens Thomas „sagt“, was sonst in Feridun Zaimoglus „Othello“-Transkription sprachlos bliebe. Es gibt den Flow einer pervertierten und obszönen Sprache, die beschimpft und bedroht, die strategisch, als Waffe, als Verführungs- und Denunziationsmittel eingesetzt wird – und es gibt die Musik, die animalische Stimme, die in dieser zugleich coolen und hitzigen Lügen- und Maskenwelt, rein atmosphärisch, vor- oder nachsprachlich, für einen subsonischen, nie abreißenden Soundtrack der Stimmungen und Sentiments sorgt. Das ist nicht, wie die böseren Verrisse suggerieren, eine anämische Renaissance von „Jazz & Lyrik“, sondern ein roher, manchmal auch verwirrender Vorstoß in Regionen, wo es, scheinbar zumindest, noch keine Regeln gibt, wo Sprechweisen taumeln und ausfransen und selbst die Musik der Seele zum puren Geräusch wird: Schreie, Flüstern, Stille. Jens Thomas‘ freie und exzessive Kommentare vereinen, was ansonsten auseinander fiele: das selbstische Spiel aggressiver Autisten, die Parade all der Othellos, Jagos, Desdemonas und Rodrigos, die alle einer separaten Logik folgen und nur im Schreien und Flüstern der heftigsten Improvisation zusammen kommen. Jazz ist hier nicht Arabeske oder Ambiente, sondern Herz der Finsternis, Recherche im Abwegigen. Auch David Moufang, dessen „Source“-Label vor kurzem sein Dekaden-Jubiläum feierte, ist ein ästhetischer Borderliner, ein Grenzgänger und Genreüberschreiter. Seine musikalische Spurensuche treibt ihn zum neuen Hörstück, zur Geräusch-Collage und (miss)tönenden Phänomenologie des Alltags – und zur konsequenten Erweiterung der Semantik der neueren elektronischen Musik. Dass er für sein „Source“-Projekt „Conjoint“ den legendären Vibraphonisten Karl Berger, der seit den späten 50ern u. a. mit Don Cherry, Ornette Coleman und Lee Konitz zusammenarbeitete, und den Jazz-Guitarrero Gunther Ruit Kraus rekrutierte, ist nur das sichtbarste Zeichen für eine bewusste Kon-Fusion, die mit den bequemen Genre-Kooperationen der Vergangenheit nichts mehr zu tun hat. David Moufang alias Move D sucht den gemeinsamen Grund der diversen Musik-Ästhetiken, der „Source“-Sound ist prä-semantisch, aber anders als Bergmans und Percevals/Thomas‘ Schreie und Flüstern nicht von vornherein ins Extrem bzw. in Exzess und Ekstase verrutscht. Eher suchen die conjoint’schen „earprints“, so der Album-Titel, nach Sound-Modellen, nach Instruktionen, Deduktionen und „strange ideas“, wie nicht nur die Titel einzelner Tracks suggerieren. Modellhaft sind die Kooperationen, die David Moufang auf seinen diversen „OpenSource“-Kompilationen („Players“ bzw. „Code“) entwickelt. Moufang wird hier zum Entdecker. Sound-Quelle ist in vielen Fällen das Internet, es entsteht ein berückender Flow quer durch die Kontinente und Gattungen. Das Verblüffende an der „Source“-Ästhetik, man könnte auch sagen: -Politik: dass sie äußerst inklusiv ist, nicht ausschließt, sondern nach Verbindungen zwischen einzelnen Musikern, aber auch zwischen Genres und Musik-„Kulturen“ sucht und es dennoch schafft, einen konsequenten und konsistenten „Sound“ zu erzeugen. Montage ist bei Source nicht etwas, was Lüge oder zumindest Schein zur Folge hat. Zwar ist die neue elektronische Musik der Moufang-Schule nie „technoid“, sondern sehr fließend, aber die Schnittstellen sind sichtbar und offen, das Differente verklebt nicht sofort, sondern bleibt so verschieden und fremd, dass es zu Passagen, Übergängen. „Reibungen“ usw. kommen kann. Das Andere wird zur Quelle der eigenen Produktivität, es ist nicht
die Negation, sondern eher unentbehrliche „backside“ bzw. Fundus
dessen, was im Jazz immer gern „Authentizität“ hieß. Das
gilt selbst für die zahlreichen Zitate auf „Players“: Disco-Refrain-Schnipsel,
d.h. Reste erotischer „Funktions“-Musiken werden im Source-Sample
reine Sehnsuchts-Zeichen, deren Pathos ironisch gebrochen erscheint und die doch „Auslöser“ bleiben. Helmut Hein |
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