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Vernon Reid
* 22. August 1958 in London, England
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Reid ist der Jimi Hendrix unserer Zeit, der hochexplosive Gitarrenvirtuose mit dem stets spürbaren Stallgeruch des Blues, der die Obsoletheit von Genregrenzen am mühelosesten demonstriert. Seine Idole und Weggefährten, Größen wie B.B. King und Santana, wissen, dass es Dinge gibt, die man auf der Gitarre nicht spielen kann, aber sie haben vergessen, es ihrem Schützling mitzuteilen. Nicht nur in puncto prestissimo, sondern hinsichtlich Sound! Über oft schlichten Grooves wird ein dichter Klangwald errichtet, jeder einzelne Baum ein Nachweis, was verzerrte E-Gitarre zwischen Blues und Black Rock, Hard Rock und Hard Bop alles sein kann: jaulend, maulend, kreischend, beißend, kratzend, platzend, schwatzend... Die folgende Passage stammt aus einem Interview vom Juli 2004.
JazzZeitung: Sie sind in den 60er-Jahren aufgewachsen, der Zeit der ersten großen Blues-Festivals, die vor allem in Europa stattfanden.
Vernon Reid: Da war ich wirklich noch jung. Ich wuchs in den 60er-, 70er-, 80er- und 90er-Jahren auf und tue das heute noch. (lacht) Ich warte immer noch auf das Wachsen. Wann wird das wohl stattfinden?
JazzZeitung: Sie wurden in London geboren, wuchsen aber in den Staaten auf. Was bedeutete das musikalisch? Vorprogrammierte Vielfalt?
Reid: Meine Mutter war sehr jung, stand auf die sogenannten British Invasion Bands wie Dave Clark Five. Ich hörte amerikanische und meiner Herkunft entsprechend karibische Musik, eben alles.
JazzZeitung: Sie wuchsen doch sicher anders mit Blues auf als gebürtige Amerikaner?
Reid: Meine Eltern wollten das Amerikanische kennenlernen und kauften Platten aller Art. Jazz von Sarah Vaughan und Nat King Cole ebenso wie Blues. Die ersten Blues, die ich hörte, waren von B.B. King!
JazzZeitung: Eine gute Initialzündung!
Reid: Und dann B.B. oder Hendrix im Fernsehen zu sehen. Überhaupt einen Schwarzen im TV zu sehen war damals schon ein großes Ereignis!
JazzZeitung: Blues bedeutet für jeden etwas völlig anderes. Wie sieht das bei Ihnen aus?
Reid: Er ist sehr abstrakt und sehr konkret. Er dringt tief bis zum Kern unserer kollektiven Angst um die menschliche Existenz. Er wendet sich dem Elend einer Person zu und damit einer Wahrheit für viele: Auch der reichste Mann der Welt weiß (auch wenn er die besten Ärzte hat), dass seine Zeit begrenzt ist. Im Blues geht es auch um Tod, um Liebe, die außer Rand und Band gerät, um Schmerz, Schuldgefühle. Mir fällt ein Satz aus einem Theaterstück von James Baldwin ein: „Es ist schrecklich, dass Liebe nie stirbt.“
Die Blues können sehr abstrakt sein, wie etwa bei meinem Liebling Howlin’ Wolf, und in sehr komprimierter Form vielfältigste Anspielungen enthalten – eine Ausdrucksform von irreführender Schlichte. In dieser Einfachheit ist alles enthalten.
JazzZeitung: Die ganze menschliche Natur, auch die von Ihnen nicht erwähnten glücklichen Seiten.
Reid: Aber sicher! Alles! Die Menschen suchen im Blues die Authentizität des Erlebten – John Lee Hooker singt zum Beispiel davon, wie er auf die Straße geworfen wird, fürwahr eine tiefe Erfahrung. Es ist ja heute so leicht, vollständig unauthentisch zu sein! Das Publikum kommt ja schon mit der Haltung, bereits alles zu kennen. Man hört, ohne zu hören. Und als Musiker kann man den lebendigen Teil der Sache ersetzen. Es ist leider leicht, ein Zombie zu sein, der für Zombies spielt.
Marcus A. Woelfle |