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Jazzzeitung
2011/04 ::: seite 15
rezensionen
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Dave Brubeck Quartet with Paul Desmond: At the Free Trade Hall 1958
2 CDs: Solar Records
Ein bislang unveröffentlichtes Konzert des Dave Brubeck Quartetts
aus seiner Glanzzeit! Zugegeben, die Aufnahmequalität des, Februar
1958 zu Beginn einer längeren Tournee entstandenen Mitschnitts aus
Manchester ist mäßig und von fast allen Stücken gibt
es Brubeck-Aufnahmen in weit besserer Studio- oder Live-Qualität.
Und doch: Für den Brubeck-Fan und alle mit einem Interesse für
jazzgeschichtlich herausragende Momente ist die Veröffentlichung
schlicht unverzichtbar. Zum einen handelt es sich um die ersten Aufnahmen
in der klassischen Besetzung mit Paul Desmond (as), Dave Brubeck (p),
Joe Morello (dr) und Gene Wright (b), der sich erst einen Monat zuvor
der Gruppe angeschlossen hatte. Zum anderen ist die als „Good will“ Tour
bekannte Weltreise Brubecks, der als Kulturbotschafter in jenem Jahr
in Asien und (unter z. T. abenteuerlichen Umständen) hinter dem
eisernen Vorhang auftrat ein wichtiges Stück Kulturdiplomatie. Und
schließlich finden sich auf dieser Doppel-CD auch sehr selten eingespielte
Stücke wie das mitreissende dargebotene Morello-Feature „Watusi
Drums“. In „The Wright Groove“ zitiert der in die Welt
hinaus gehende Bassist (Joe = Hänschen!) in seinem Solo glatt „Hänschen
klein“! Immer wieder kommt es zu magischen Momenten, vor allem
in den inspirierten Soli von Paul Desmond, der ausgerechnet im „St.
Louis Blues“ zu erkennen gibt, dass er sich auf die Reise in den
Nahen Osten freut.
100 Years Of Jazz
12 CDs: Ludwig Beck
Wen der Titel dieser 12-CD-Box an “Hundert Jahre Einsamkeit“ erinnern
sollte, der kann sie ruhig einem Test unterziehen, sich damit etwa 14
Stunden lang von der übrigen Menschheit abschotten und ungestört
die Jazzgeschichte von afrikanischer Trommelmusik bis Chick Corea Revue
passieren lassen. Ich jedenfalls habe dabei weder Gespräche noch
Gesichter vermisst, mich dabei auch nicht einen Augenblick gelangweilt,
handelt es sich doch um ausgesprochene Klangjuwelen. Welchen starken
Eindruck muss die für jedermann verständlich kommentierte Anthologie
auf neugierige Jazz-Neulinge machen, denen sich damit eine ganze Welt
eröffnet? Liebevoll und kenntnisreich zusammengestellt hat sie der
Jazzzeitungs-Autor Manfred Scheffner, der lange Jahre die Jazzabteilung
des Münchner Kaufhauses Ludwig Beck geleitet und international bekannt
gemacht hat. Sie ist daher auch nur bei Ludwig Beck erhältlich.
So ein alter Hase ist natürlich für Überraschungen gut.
Wie ein phantasievoller Jazz-Solist erwartete Töne weglässt
und dafür unerwartete Wendungen einbaut, so macht es auch Scheffner,
der schon mal Berühmtheiten wie Sarah Vaughan weglässt, aber
für Vergessene wie Lil Green Platz findet. Solcher Individualismus
tut gut, denn Hits und Stars, denen man ohnehin oft begegnet, bilden
nur die Spitze des Eisbergs der Jazzgeschichte. Scheffner verweist auch
auf Nebenschauplätze, das ist mehr als man von einer guten Einführung
erwartet.
Bill Evans:
The Sesjun Radio Shows
2 CDs: Out of The Blue
Bill Evans ist heute noch wegweisendes Modell unzähliger Pianisten.
Als dürfe kein Ton, den er gespielt hat, verloren gehen, erscheinen
daher seit drei Jahrzehnten in schöner Regelmäßigkeit
posthume Fundstücke. Das Erstaunliche an all diesen Veröffentlichungen
ist, dass kaum eine überflüssig ist: Dieser hochsensible, selbstkritische
Künstler spielte eigentlich immer, ob es ihm nun persönlich
gut ging oder nicht, ob er gerade Drogen konsumiert hatte oder nicht,
zumindest sehr gut, meistens aber überragend, immer wieder aufs
Neue berührend. Das belegen auch diese holländischen Live-Mitschnitte,
die Erwartungen an Sternstunden gerecht werden und auch aufnahmetechnisch
tadellos sind. Sie präsentieren den lineare Melodik mit impressionistischer
Klangkultur verbindenden, Gefühlstiefe und überlegenen Intellekt
vereinenden Künstler in unterschiedlichen Spielsituationen: 1973
trat er im Duo mit seinem langjährigsten Bassisten Eddie Gomez auf.
1975 musizierten beide im Trio mit dem Drummer Eliot Zigmund. 1979 gehörten
Marc Johnson (b) und Joe LaBarbera (dr) zum Trio, das auf einigen Stücken
durch Toots Thie-lemans zum Quartett wird. Das vollendet dargebotene
Repertoire birgt kaum Überraschungen, doch beweisen sich Evans unbegrenzte
Erfindungsgabe, seine Fähigkeit, dem Klavier innigen Gesang zu entlocken,
feinste Klangschattierungen abzuringen, gerade auch in Stücken wie „Some
Other Time“ oder „My Romance“, die wir seit je mit
ihm verbinden.
„Satchmo“.
Louis Armstrong Ambassador Of Jazz
10 CDs (Universal)
Pops hat 110. Geburtstag und 40. Todestag, was Universal mit einem
speziellen Denkmal würdigt: einer Nachbildung seines Reisekoffers mit 10 CDs,
vorbildlichen biografischen Beiheften, großartigem Bildmaterial
und sogar noch faksimilierter alter Notenausgaben bekannter Repertoire-Stücke.
Dabei ist den Herausgebern das kleine Wunder geglückt, Cds einzupacken,
die sowohl als Einführung für den unbeleckten Laien als auch
für den ausgewiesenen Armstrong-Experten interessant sind. Die ersten
sieben CDs sind eine gelungene, chronologische Zusammenstellung aus Meisterwerken
und Hits von 1923 bis 1970. Die Jahre 1957 bis 1970, auf einer CD zusammengedrängt,
sind, wohl überwiegend aus veröffentlichungsrechtlichen Gründen,
vergleichsweise schlechter dokumentiert. Wer auf der Suche nach einem
Armstrong-Kanon ist, kann trotzdem keinen besseren Griff als zu dieser
Zusammenstellung tun. Der Clou für den Fan sind die drei letzten
CDs: Das bislang nur ausschnittsweise veröffentlichte „Hollywood
Bowl“-Konzert der All Stars von 1956, mit Ella Fitzgerald, und
eine CD mit einer Plauderei zwischen Armstrong und Dan Morgenstern bei
einer guten Flasche Sliwowitz. Eine Aufnahme mit Rarem und Unveröffentlichtem
stellt unbarmherzig bloß, dass er bei ungewohnten Songs oder unvertrauten
Mitmusikern bisweilen Unsicherheiten hatte. Das Genie war ein Mensch.
Auch das gehört zum Denkmal.
Peter Herbolzheimer
Sunshine and Bossa Nova
2 CDs: HGBS
Viel Herzblut steckte der vor einem Jahr verstorbene Herbolzheimer
in alle Unternehmungen. Der beliebte und beleibte Bandleader, Posaunist,
Arrangeuer, Komponist und Pädagoge schaffte es stets den Enthusiasmus
seiner musikalischen Mitstreiter zu wecken (sehr schön hört
man das auf dieser Veröffentlichung, wo viele wie um ihr Leben spielen)
und prägte sehr nachhaltig den Sound der letzten Jahrzehnte des
deutschen Jazz. „My Kind of Sunshine“, ein fast legendäres
Doppelalbum seiner hochexplosiven Rhythm Combination & Brass, die
auf dem Originalcover sogar „The MPS Rhythm Combination & Brass“ ist,
entstand 1970 und 1971, beide Male zu Weihnachten im unvergessenen Münchner
Jazzclub, dessen Wände bei diesem gelegentlich rockigen und latinofetzigen
Powerhouse Sound ordentlich gewackelt haben dürften. Das Staraufgebot
bestand, um als Beispiel einige Trompeter herauszugreifen, aus Größen
wie Dusko Goykovich, Art Farmer und Ack van Rooyen. Wiederöffentlicht
wurde es liebevoll und in vorbildlichem Remastering von HGBS, der Nachfolgefirma
des audiophilen Labels MPS. Trotz der auf die Reissue verwendeten Sorgfalt
wurde vergessen zu vermerken, welche Stücke von der 70er- und welche
von der 71er-Band zum Kochen gebracht wurden. Immerhin werden damit Ohren
und Unterscheidungsvermögen trainiert. Ergänzt wird die Doppel-CD
vom Programm „40 Years Bossa Nova“, das Herbolzheimer 2005
mit dem BuJazzO einspielte. |