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Jazzzeitung

2011/04 ::: seite 22

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Inhalt 2011/04

Inhaltsverzeichnis

STANDARDS

Editorial / break / Nachrichten aus der Jazzszene / kurz, aber wichtig Jazzlexikon: Edward „Kid“ Ory Farewell: Kurt Maas / Ray Bryant Geschichte: Vor zwanzig Jahren verstarb der Trompeter Miles Davis no chaser: Jazz schlägt Shakespeare


TITEL -
Ein bisschen leise...
Scofield & Metheny und ihre neuen Alben


Berichte

German Jazz Trophy 2011 für Dave Holland // 40. Moers Festival für Improvisierte Musik // Die dritte Auflage von „Sounds No Walls“ // 29. Südtirol Jazz Festival Alto Adige // 30. Bayerischen Jazzweekend 2011 // Sonny Simmons – in Dankbarkeit // George Gruntz Concert Jazz Band in Neuburg


Portraits

Mo’ Blow // Sabine Müller // Der Schlagzeuger Jochen Rückert // Caroline Thon


Jazz heute und Education
Bert Noglik übernimmt künstlerische Leitung des Jazzfestes Berlin // Das neue Jazz-Label Egolaut in Leipzig // Abgehört: Weite dynamische Sprünge
Ein Live-Solo des Posaunisten Eddie Bert

Rezensionen und mehr im Inhaltsverzeichnis

 

I Remember Miles

Vor zwanzig Jahren verstarb der Trompeter Miles Davis

Wohin?

Ich kann mich an den Tag erinnern, als wäre es gestern. Der Jazz hatte 1991 bereits eine Schar von Saxophonisten verloren (Bud Freeman, Stan Getz und Charlie Barnet) als ich auf einer Zeitung eine seltsame Schlagzeile sah, die sich, wie ich auf den zweiten Blick erkannte, darauf bezog, dass Miles Davis am 28. September verstorben war. Vermutlich war es überhaupt das einzige Mal in meinem Leben, dass ich den Namen eines Jazzmusikers auf der Titelseite einer Tageszeitung erblickte. Es mag ja daran liegen, dass dieser Platz gerne für Gewalttäter oder Gewaltherrscher reserviert wird, aber die Zeitung titelte: „Der Fürst der Finsternis ist tot“.

Das liest sich, als sei der Leibhaftige für ewig zur Hölle gefahren. Als einer der letzten Jazzer, die auch dem Mann von der Straße als Star namentlich bekannt waren, wurde er geliebt, bisweilen auch gehasst, doch stets respektiert. Unser Nachbar (kein Jazzfan, sondern vom Gesangsverein Biedersinn) überbrachte mir die Nachricht: „Der König des Jazz ist tot“.

Foto: Ssirus W. Pakzad

Bild vergrößernFoto: Ssirus W. Pakzad

Doch sein langer Schatten regiert noch, während die Erben sich nach der Krone recken und strecken, ohne dass wirklich jemand in Sicht wäre den man mit Fug und Recht König des Jazz nennen könnte. Was sich über eine Handvoll auserwählter Jazzmusiker wie Louis Armstrong oder Charlie Parker sagen lässt, gilt auch für ihn: Es gibt kaum Musik, die nicht direkt oder indirekt von ihm beeinflusst ist: Wer im Bop, Cool Jazz, modalen Jazz, Jazzrock oder in der Fusion beheimatet ist, kann nicht umhin auf seinen Spuren zu wandeln. Selbst wer Jazz mit allerneusten Pop-Tendenzen amalgamiert, tut dies. Ganz egal worum es geht, der Name Miles Davis wird von Promotern und Kritikern wie der eines Schutzheiligen angerufen. Wenn etwa das Weilheimer Tied & Tickled Trio Jazz und Electronica, Dub, Loops, Rock, Reggae verschmilzt, dann wird sie beschrieben als Musik, wie sie Miles Davis heute machen würde. Selbstverständlich entsteht eine Fülle guter, neuer Musik jenseits des Jazz. Dass aber Musik, die mit Jazz wenig oder nichts zu tun hat, heute als Jazz vermarktet wird, ja in den Jazz-Charts auf höchste Ränge gelangt, hat auch mit Davis’ Nachwirkung zu tun. „Wenn er durfte, dann muss ich“, scheint manch einer zu denken. Mit seinen letzten Alben schuf Davis einen Präzedenzfall. Dies musste freilich eine Reaktion der sittenstrengen Bewacher des Reinheitsgebots auf den Plan rufen, die schon zu seinen Lebzeiten einsetzte. Wynton Marsalis lobte zwar den „jungen“ Miles, wagte es jedoch, den alternden Meister, letztlich einen seiner wichtigsten Lehrer, ob seiner jüngsten Entwicklungen zu tadeln. Eine Schar junger Trompeter der Young-Lions-Riege macht seither bis heute Musik, die jener von Miles ähnelt, als sie selbst noch Babys waren. Einige Vertreter dieses Miles-Davis-Klassizismus sind stilistisch so weit an ihr Urbild herangerückt, dass sie daraus einen Beruf machen und zugleich unter den ewigen Vergleichen leiden: Unheimliche Doubles wie Wallace Roney etwa, der nach Bedarf wie Miles um 1950, 1965 oder 1990 klingt. Solche Davisianer gab es schon immer, auch in der älteren Generation etwa den Japaner Terumasa Hino, dessen Entwicklung im Laufe der Jahrzehnte in etwa die seines Vorbildes nachzeichnete. Am interessantesten sind wohl jene Trompeter, die von Miles Davis einen Zug, nicht aber die ganze Konzeption teilen. So ist der montenegrinische Trompeter Dusko Goykovich, als Balladenspezialist Miles wesensverwandt, als Bigband-Spezialist und Komponist mit balkanischen roots nicht. Geschieht die Integration Davisscher Stilsmen auf solch hohem Niveau, lässt sich nichts einwenden. Daneben gibt es anonyme „Davis-Klone“, jdie glauben, es genüge einen Dämpfer in die Trompete zu stecken und einige melancholische Linien in die Luft zu blasen, um selbst ein zweiter Miles zu sein. Aber genau damit sind sie meilenweit entfernt von ihrem Ziel: miles away!

Wer?

20 Jahre nach seinem Tod ist Miles Davis wohl immer noch der meistimitierte Trompeter, vielleicht sogar der meistgehörte Jazzmusiker – er, dessen Spiel die Negation all dessen schien, was die Trompete im Jazz ausmachte: Die Dominanz der Hot-Intonation, die (abgesehen von Ausnahmeerscheinungen wie Bix Beiderbecke) seit der Entstehung des Jazz das Ideal aller Kornettisten und Trompeter war, brach er mit seinem weichen, leisen, coolen Sound. Die seit Louis Armstrong so beliebten hohen Lagen beherrschte er anfangs gar nicht, die Mittellage war sein liebster Aufenthaltsort. Seit Roy Eldridge und erst recht seit Dizzy Gillespie war das Trompetenspiel immer schneller, die Abfolge der Noten immer dichter und die dafür nötige technische Brillanz zur Norm geworden. Dass der Solist dabei immer mehr auf vorgefertigte „licks“ zurückgreifen musste, liegt auf der Hand. Miles Davis stellte dem eine ökonomische Konzeption entgegen, bei der die Pausen ein ebenso wichtiges Gestaltungsmittel waren wie die sparsam erklingenden Töne. Indem er mittlere und langsame Tempi bevorzugte, stand ihm genügend Zeit zur Verfügung, melodische Linien zu erfinden, die fernab aller Klischees waren. Boshafte Zungen behaupten zwar, seine mangelhafte Technik sei die Ursache dieser Spielweise. Zugegeben, es gab größere Virtuosen als Miles Davis, doch wer ihn als schlechten Techniker einstuft, vergisst, dass er (ebenso wie der Pianist Thelonious Monk) über genau die richtige Technik verfügte, die er benötigte, um jene Musik zu schaffen, die technisch wesentlich Versiertere vergeblich zu kopieren trachten. Mit seinem trompeterischen Stil befand sich Miles Davis anfangs auf einem persönlichen Sonderweg, der nur im Nachhinein wie ein Hauptstrom aussieht. Davis hatte nicht nur, wie viele Jazzgrößen, Mut zur eigenen Handschrift, er lieferte, wie Armstrong, Reinhardt, Parker oder Coltrane, gleich auch musikalische Gebäude mit, in die sich Andere bequem einrichten konnten.

Ob aber je ein so ausgeprägter Kult um ihn entstanden wäre, hätte seine Persönlichkeit nicht so widersprüchliche Eigenschaften vereint? Der Mann mit der Leidenschaft fürs Boxen und das verbale Austeilen pflegte das Image des Unnahbaren, ja Dämonischen. Zunächst brauchte er es als Schutz, und dann, um seinen kommerziellen Erfolg noch zu vergrößern. Doch hinter der rauen Schale muss (ähnlich wie bei Charles Mingus) ein sehr weicher Kern gesteckt haben. Der Sound seiner Trompete offenbart ihn. Mag der Mensch auch schwer verträglich gewesen sein, als Musiker nahm er stets für sich ein: Sobald Miles Davis mit dem harmon mute in seiner Trompete eine Ballade anstimmte, berührte er damit selbst unzählige Hörer, die mit Jazz sonst nichts im Sinn hatten, versöhnte er selbst frustrierte Menschen wieder mit der Welt. Dieser anrührende, bisweilen ätherische Sound seiner Trompete, der mit zum Feinsten, ja Preziösestem im Jazz gehört, kontrastierte wiederum mit dem Sound seiner Stimme, deren Heiserkeit die Rauheit seiner Kraftausdrücke unterstrich. Er war zeitweise Junkie und Zuhälter gewesen, aber auch Juilliard-Student und Maler. Ebenso schonungslos offen wie rätselhaft verschwiegen war er. So war er ein genialer Bandleader, der autoritär und streng wirkte, von seinen Musikern immer das Resultat bekam, das er wollte, aber ihnen kaum je erklärte, was das war und ihnen damit große Freiheit gewährte. Der Mann, dem die Kritiker nicht verzeihen wollten, dass er mit dem Rücken zum Publikum spielte oder dass er im Laufe seiner Karriere mehr Trends einleitete, als sie verdauen konnten, war selbst der strengste Kritiker seiner Kollegen und hat doch mehr Musiker gefördert als sonst einer. Der Künstler, der im Laufe seiner Karriere unterschiedlichste Stile durchlaufen hat, blieb sich dabei selbst immer treu.

Wie kein zweiter hat es der am 25. Mai 1926 in Alton/Illinois geborene Zahnarztsohn verstanden, den Lauf der Jazzgeschichte über Jahrzehnte hinweg zu beeinflussen. Schon 1945, mitten im Bebop, spielte er bei Charlie Parker Cool Jazz ante litteram. Ab 1948 ebnete er mit seinem Nonett dem Cool Jazz den Weg. Mit Gil Evans, dem geistigen Vater dieses Nonetts entstanden in den 50ern einige der legendären großorchestralen Alben, wie „Sketches Of Spain“ und „Porgy and Bess“. Ab 1954 verhalf Davis dem Bop mit Aufnahmen wie „Walkin’“ zu mehr Gewicht. Ende der fünfziger Jahre trug er mit Alben wie Kind Of Blue entscheidend zur Entwicklung des modalen Jazz bei. Ende der sechziger Jahre gab er mit „Bitches Brew“ den entscheidenden Anstoß zum Jazzrock. In seiner letzten Schaffensphase war er wegweisend für die Jazz-Pop-Verbindungen der Gegenwart.

All diese Entwicklungen hätte Davis nicht anstoßen können, hätte er nicht einen so genialen Spürsinn für ideale musikalische Partner gehabt: Davis, der selbst dem weitsichtigen Bebopper Charlie Parker seinen Durchbruch verdankte, hat ähnliches für eine ganze Schar geleistet. Seine Musiker der 50er Jahre – etwa John Coltrane, Red Garland, Paul Chambers, Philly Joe Jones und Cannonball Adderley verdanken Davis vielleicht nicht ihre Entdeckung, aber doch gewaltige Entwicklungsschübe. Ähnliches gilt für Bill Evans, Wayne Shorter, Tony Williams, Herbie Hancock, John McLaughlin, Keith Jarrett, Dave Holland und viele andere.

Woher?

Sein vielkopierter einsam-verhangener Trompetenklang scheint – wie seine Töne aus den Pausen – aus dem Nichts zu kommen. Aber ohne Vorbilder, ohne Tradition fiel der Meister auch nicht vom Himmel. In seiner Biographie nennt Miles Davis eine ganze Reihe von älteren Kollegen aus seiner Heimatstadt St.Louis, die damals eine Hochburg des Trompetenspiels war. Die meisten von ihnen sind heute so gut wie vergessen; über das Ausmaß ihres Einflusses kann allenfalls gemutmaßt werden. Einer unter ihnen freilich genießt hohes Ansehen: Clark Terry, der ebenso wie der St.-Louis-Trompeter Shorty Baker lange bei Dunke Ellington wirkte. „Wenn Du aus St.Louis stammst“, so Clark Terry, „dann erwarten die Leute, dass du zumindest keinen schlechten Sound hast.“ Und an ihrem urpersönlichen Sound sind die großen Trompeter aus St. Louis auch zu erkennen: Terry hat Miles Davis schon in den frühen 40er Jahren in St. Louis inspiriert, als er noch gar nicht bekannt war. Terry selbst geriet dann, wie der nur sechs Jahre Jüngere Davis, unter den Einfluss des genialen Dizzy Gillespie, der Miles, ebenso wie es Terry zuvor tat, unter seine persönlichen Fittiche nahm. Natürlich setzt Davis’ Beitrag zum Jazz die harmonischen, rhythmischen und melodischen Innovationen des Bebop-Mitbegründers voraus. Aber schon bei seinen frühen Aufnahmen mit Charlie Parker, an denen Dizzy Gillespie einmal als Pianist(!) mitwirkte, besticht Davis durch sein stilistisches Abweichen von seinem beweglicheren, virtuoseren, feurigeren Mentor.

Sieht man vom großen Fats Navarro ab, legten die jungen Trompeter ihre Talentprobe ab, indem sie erst einmal zeigten, dass sie Dizzys ABC beherrschten. An dieser Stelle ist von einem Trompeter zu sprechen, den Miles Davis als Vorbild herausgestellt hat und dessen Konzeption eben jene frühen Miles-Davis-Soli bei Parker geprägt haben soll: der ebenso legendäre wie obskure Freddie Webster. Auch Dizzy Gillespie sagte über ihn: „Freddie Webster hatte vermutlich den besten Sound auf der Trompete, seit sie erfunden wurde.“ Leider hat der schon 1947 an seinem Drogenkonsum verstorbene Webster fast keine Aufnahmen hinterlassen, die es uns ermöglichen, seine Bedeutung richtig einzuschätzen. Sie zeigen einen lyrischen Trompeter, der sich bei der Wahl der Töne, darin Miles ähnelnd, auf die wichtigsten beschränkt. Wie Davis griff Webster gerne zum Dämpfer. Doch sein Sound ist wesentlich kraftvoller als der von Davis und sein Vibrato verrät noch die Verwurzelung in der Swing-Tradition. Vermutlich hat er auch Fats Navarro beeinflusst. Freddie Webster ist eine Warnung, die Jazzgeschichte nicht immer mit der Jazzplattengeschichte gleichzusetzen. Der Jazz verdankt ihm vielleicht mehr als wir ahnen, zumindest ein Stückchen Miles.
Dass aber Jazzgeschichte leicht als Geschichte der Jazzplatte aufgefasst werden kann, liegt nicht zuletzt am Schaffen des „dark magus“ Miles Davis. Die Schallplatte als Kunstwerk, das weit mehr ist als eine Dokumentation des Gespielten, ja als etwas, das so nie im Studio erklang, das kam weitgehend durch ihn in den Jazz. Die an den Einspielungen von „Bitches Brew“ beteiligte Musiker sollen das durch Schnitte völlig veränderte Material kaum wiedererkannt haben. Für „Tutu“ wurden die Stimmen der Musiker, wie in der Popmusik, einzeln aufgenommen. Vor Miles Davis und zum Teil bis heute war eine Langspielplatte kaum mehr als eine beliebige Ansammlung von Musikstücken. Ein Album von Miles Davis ist aber in der Regel ein durchgestaltetes Werk, vom ersten bis zum letzten Ton, sei es die orchestrale Suite „Miles Ahead“, das die akustische Ära abschließende „In A Silent Way“ oder „Amanda“, das poppige, letzte Album mit seiner working band. Paradoxerweise trifft dies sogar auf ein Album wie „The Birth Of The Cool“ zu, das „nur“ Schellack-Aufnahmen der Jahre 1948-1950 zusammenstellt, die nie als LP konzipiert wurden. Auch Live-Alben wie „My funny Valentine“ hört man als geschlossenes Ganzes, und man hört sie daher auch gerne ganz. Hierin ist Miles Davis immer noch zu wenig Vorbild.

Marcus A. Woelfle

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