Anzeige |
||
Anzeige |
|
Früher mal war ich ein richtiger Theater-Freak. Keine Reise in eine größere Stadt ohne einen Theaterabend dort: Anouilh in Berlin-West und Brecht in Berlin-Ost (so lange ist das schon her!), Ionesco in Paris, Beckett in München, Shakespeare in Frankfurt und Shakespeare in Wien... Was faszinierte mich am Theater? Vermutlich das Greifbar-Werden von Ideen. Dass Positionen, Gefühle, Konflikte, Gedanken zu echten Menschen wurden: Verzweiflung, Liebe und Politik als körperliche Wirklichkeit. Auch die Stille, die Pause, das Lyrische wirken im Theater anfassbar und fokussiert. In schwachen Stunden habe ich früher sogar Theaterstücke geschrieben, notfalls geschauspielert (völlig talentfrei) und Regie geführt. Aber: Wiederholungen langweilten mich. Bei der zweiten Probe fing ich immer schon an zu improvisieren und alles umzuschmeißen. Ich hatte das dumpfe Gefühl: Textbuch und Regiekonzept nehmen dem Theater die Wahrheit. Zum Glück entdeckte ich auf dem Höhepunkt meiner Theaterbegeisterung dann den Jazz, vor allem den Live-Jazz. Von da an spielte das Theater kaum mehr eine Rolle, denn Jazz besitzt alles, was das Theater hat, und mehr. Auf der Jazzbühne werden Positionen bezogen, werden Liebe und Verzweiflung greifbar, auch die Pause und das Lyrische wirken nirgends so tief. Keine Argumentation bei Lessing ist komplexer als ein Jazzsolo. Keine Dialogführung bei Shakespeare erreicht die Dichte einer interagierenden Jazzband. Und Jazz bleibt immer wahr, solange man improvisiert. Textbücher gibt es keine. Nur ganz selten gehe ich noch ins Theater – und verlasse es immer ein wenig enttäuscht: Das Erlebnis hat nichts von der intensiven Begeisterung, die ein Jazzkonzert bei mir auslöst. Theater bleibt Inszenierung. Das Jazz-Drama aber geschieht wirklich: Da ist keine Schwelle, du bist dabei, nicht einfach nur davor. Es ist dein Leben. Rainer Wein
rainer.wein@gmx.net |
|