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Spätestens nach sechs Minuten, wenn Christian Brückner mit seiner unverkennbaren Stimme verkündet: „Ich bin Odysseus, Laertes Sohn. Ithakas sonnige Höhen sind meine Heimat …“, ist der Zuhörer gefesselt – wenn er nicht schon in erhebliche Spannung versetzt worden wäre vom Schlachtenlärm, mit dem das Cologne Contemporary Jazz Orchestra, überstrahlt von der Solotrompete Frederik Kösters, den Kampf um Troja klanglich illustriert. Und was dann folgt an Rezitationen aus Homers gewaltigem Epos der „Odyssee“ und orchestralen Klangbildern, mit denen die einzelnen Kapitel der Irrfahrten und Abenteuer des Königs von Ithaka begleitet werden, hält in reizvollem Wechselspiel von Soli und Tutti, von lyrisch-leiser Melodik und kraftvoll sattem Big-Band-Sound, den Spannungsbogen bis zum glücklichen Ende der Heimkehr des Helden in die Arme seiner Gattin Penelope. Mit seiner „Odyssey“ ist dem in der Kölner Jazzszene heimischen Komponisten und Saxophonisten Heiner Schmitz ein beeindruckendes Gesamtkunstwerk gelungen, eine originelle Verbindung von Jazz und Lyrik, die es wohl in dieser Form noch nicht gegeben hat. Das älteste Werk der abendländischen Literatur einzubetten in die Klangwelt eines modernen Jazzorchesters, dazu gehört nicht nur musikalisches Können, sondern auch Mut. Aber wer Heiner Schmitz fragt, wie er auf die Idee gekommen sei, sich ausgerechnet dieses Riesenthemas anzunehmen, erhält die Gegenfrage: „Warum nicht?“ Griechische Mythologie habe ihn schon als kleiner Junge fasziniert, vor allem der Trojanische Krieg und die sich anschließende Odyssee. Doch waren es früher vor allem die schieren Abenteuer, die ihn beeindruckt hatten, bis hin auch zu wirklicher Angst etwa vor dem einäugigen Zyklopen oder der monströsen Scylla, so beschäftigt ihn heute viel mehr die Gestalt des Odys-seus selbst, sein Charakter, seine Widerstandskraft, sein Durchhaltewillen, auch seine Listen, mit denen er alle Gefahren gemeistert hat. „Mir geht es jetzt mehr um die Metaphorik, die Parallelen zu unserer heutigen Existenz, die ja ebenso bestimmt wird – für den einen mehr, den anderen weniger – von Kampf und Gefahren, Sehnsucht und Liebe, Versuchung und Treue, Fernweh und Heimweh, aber auch Wut und Rache.“ Warum also nicht, fragte sich Schmitz, „seine“ Odyssee in ein modernes Konzept übertragen, als ein Projekt für Big Band? Denn dass es die Jazz-Großformation sein sollte, stand für ihn von vornherein fest, einmal, weil Big Band „mein Homegrown“ ist, dann wegen der Klangbilder, die ihm vorschwebten, schließlich, weil er mit dem Cologne Contemporary Jazz Orchestra vertraut ist, jener 2002 gegründeten Band aus überwiegend jungen Musikern der Kölner Jazzszene, die er alle persönlich kennt. Hier muss kurz der Lebensweg des Musikers Heiner Schmitz referiert werden. Er wurde 1979 in Leipzig geboren, übersiedelte 1991 mit der Familie nach Erftstadt bei Köln, wo er heute – wieder – wohnt. Mit acht Jahren begann er Klavier, mit zehn Klarinette zu lernen. Mit sechzehn kam das Saxophon dazu. Er hatte dann nach dem Abitur die Möglichkeit, in Arnheim ein Saxophon-Studium zu beginnen, zog es aber vor, an der Musikhochschule Köln Komposition zu studieren, und das viereinhalb Jahre lang. Damit unterschied er sich von den meisten Jazz-Studierenden, die erst nach Abschluss oder während ihres Instrumenten-Studiengangs Komposition als Aufbaustudium wählen. „Ich habe das komplette Grundstudium wie alle anderen absolviert, aber eben mit dem Hauptfach Komposition. Ich hatte aber keinen Saxophon-Unterricht an der Hochschule, nur einige Privatstunden bei Claudius Valk. Manchmal denke ich darüber nach, dass mir etwas intensiverer Unterricht auf meinem Hauptinstrument ganz gut getan hätte, aber du musst halt sehen, dass das, was du überwiegend machst, auch zu dir passt.“ Diese Einstellung ist typisch für Heiner Schmitz, der – stets bescheiden und unprätentiös – den Einwand des Ohrenzeugen seiner Live-Auftritte, dass er doch ein fulminantes Horn blase, voller Spielfreude und übersprudelnden Improvisationseinfällen, lächelnd abwehrt, um wieder auf sein derzeitiges Hauptprojekt zurückzukommen. Da war einmal die Frage: Welche von den 24 Gesängen sollte er auswählen? Schmitz hatte sich recht bald für den zentralen Teil des gewaltigen Epos entschieden, vom neunten bis zum zwölften Gesang, in denen Odysseus auf der seiner Heimat Ithaka benachbarten Insel Scheria am Hofe des Königs der Phaiaken rückblickend von seinen Irrfahrten und Abenteuern berichtet. Dort genoss er Gastrecht, nachdem er als Schiffbrüchiger von Nausikaa, der Tochter des Königs, aufgefunden worden war. Für die Heimkehr des Helden von Troja nach zwanzigjähriger Abwesenheit greift Schmitz dann auf die letzten Gesänge zurück. Aber auch diese ausgewählten Kapitel bedurften der Kürzung und der Bearbeitung. Dass Heiner Schmitz dabei auf die älteste deutsche Übertragung von Johann Heinrich Voß (1751–1826) und nicht auf eine der modernen Versionen zurückgriff, weil sie ihm einfach von Jugend auf vertrauter war, sollte sich als Glücksfall erweisen, aus zwei Gründen: Einmal unterstreicht die Spannung zwischen der altertümlichen, sehr poetischen Sprache und der modernen Musik die Zeitlosigkeit der existenziellen Fragen der Menschheit. Zum zweiten hat Schmitz selbst beim unvermeidlichen Kürzen, Umschreiben und Zusammenfassen des alten Textes so kongenial gearbeitet, „dass Christian Brückner mich nach dem fünften oder sechsten Konzert einmal gefragt hat: ‚Wo hast du denn eigentlich den Text her? Wer hat das denn so bearbeitet?’ Und als ich mich dazu bekannte, hat er mich erst total erstaunt angeschaut und gar nichts gesagt und dann gemeint, er hätte sich das nicht getraut, aber es sei eine runde und schlüssige Version daraus entstanden. Dieses Kompliment von einer solchen Autorität hat mich natürlich mit Stolz erfüllt.“ Nicht zu erwarten war aber auch, dass der viel gefragte Star-Sprecher auf nur eine e-mail-Anfrage spontan seine Mitwirkung zugesagt hatte, so sehr war er wohl von dem Projekt überzeugt. Die Gesamtkomposition beginnt mit dem Prolog „Kampf um Troja“, an den sich acht der in Musik gefassten „Gesänge“ reihen, darunter die besonders dramatischen und emotionalen wie das Duell des Odysseus mit dem einäugigen Zyklop Polyphemos, die Versuchung durch die Zauberin Circe („die schön gelockte, die hehre melodische Göttin“), die Verlockungen durch die süßen Gesänge der Verderben bringenden Sirenen, die Durchfahrt durch eine von den – heute noch sprichwörtlichen – Ungeheuern Scylla und Charybdis beherrschte Meerenge, die letzte Station auf der Insel der Nymphe Kalypso, die den Gestrandeten aufnimmt, sich in ihn verliebt und sieben Jahre bei sich behält, die Heimkehr nach Ithaka und Odysseus’ Rache an den Freiern, die sich auf seinem Hof eingenis-tet hatten, um Penelope bedrängend zu umwerben (Brückners letzter dräuender Satz als Odysseus: „Nun ist über euch alle die Stunde des Todes verhänget!“). Der lyrisch-melodiöse Schlussteil „Behind the Curtain“ verheißt: Odysseus und Penelope sind wieder vereint. Wie ging Heiner Schmitz vor, um diese Vorgaben in seine Musik umzusetzen? „Ich habe mir stilistisch keine großen Einschränkungen vorgenommen. Natürlich bin ich beeinflusst vom Jazz, aber ebenso auch von Rockmusik und in letzter Zeit auch verstärkt von Klassik. Erst habe ich mir zu jedem der Teile emotional greifbare Schlagwörter wie ‚Zweifel’ oder ‚Versuchung’ aufgeschrieben, habe mir am Klavier Ideen notiert und nach und nach ausgearbeitet. Zum Beispiel ‚Verwirrung’, das Stichwort zum zweiten Kapitel ‚Bei den Lotophagen’, den Lotosessern, bei denen Odysseus’ Gefährten nach dem Genuss der Früchte alle Schmerzen, alle Sehnsüchte, aber auch die Heimat und den Wunsch der Heimkehr vergessen. Ich beginne mit einer schönen Melodie, alles fließt und ist freundlich und irgendwann wird es dann, den Genuss der Lotosfrüchte ‚beschreibend’, ein bisschen freier, die Bläser wabern herum in Soundcollagen, eine Posaune darf ein freitonales Solo darüber spielen, als Ausdruck von Orientierungslosigkeit, aber irgendwann klärt sich alles wieder auf, kommt wie ein Aha-Effekt der Groove wieder und die Harmonik der Melodie vom Anfang kehrt zurück. Das ist der Zeitpunkt, wenn Odysseus seine Mannen aus dem Lotosrausch zur Vernunft bringt und aufs Schiff zurückholt. So versuche ich, inhaltlich der Geschichte mit der Musik zu folgen.“ Nach vier Monaten Arbeit an Komposition und Arrangements und langwierigen Verhandlungen mit Fördereinrichtungen, die Schmitz alle „als Einzelkämpfer“ bestritt, konnten die Proben beginnen und bald darauf eine Serie von sechs Konzerten in Nordrhein-Westfalen. Das Medienecho war positiv bis enthusiastisch. Der WDR schnitt das erste Konzert mit. Der Clou war, dass Heiner Schmitz niemand geringeren als Dave Liebman als Hauptsolisten für die Konzerte gewinnen konnte. Sie hatten sich bei einem von Liebmans Workshops kennen gelernt. Schmitz hatte später das Arrangement für Liebmans Stück „WTC“ für eine Aufführung mit der hr-Bigband geschrieben. Aber es war auch klar, dass der prominente Solist nicht auch noch für die geplante CD verfügbar wäre, aus terminlichen und finanziellen Gründen. Deswegen hat Schmitz gleich parallel zur Konzertversion eine zweite Variante mit dem mehrfach preisgekrönten Trompeter Frederik Köster ausgearbeitet. Ein Vergleich der Mitschnitte der Konzerte und der Takes für die CD im Hinblick auf die beiden Hauptsolisten Liebman und Köster ist schlicht nicht möglich. Beide hochkarätigen Solisten interpretieren, zumal noch auf verschiedenen Instrumenten, ihre Rolle als Leading Soloist auf ihre ganz individuelle Art. Für die CD-Produktion jedenfalls ist die Mitwirkung des exzellenten Frederik Köster ein Gewinn. Außerdem sind wunderbare Soli von Claudius Valk (ts), Heiner Wiberny (as), Marcus Bartelt (bars), Tobias Hofmann (g), Jürgen Friedrich (p), Ralf Hesse (flh) und Felix Fromm (tb) zu hören. Omid Shirazi steuert sparsam, aber wirkungsvoll spezielle Soundeffekte bei. Und der homogene Klangkörper des Cologne Contemporary Jazz Orchestra beweist zum wiederholten Mal, wie eine moderne Big Band heute klingen kann. Wann und wo Schmitz’ Odysseus in einen sicheren Label-Hafen einlaufen wird, findet sich hoffentlich bald unter „News“ bei www.heinerschmitz.de. Dietrich Schlegel |
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