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Jazzzeitung

2011/03  ::: seite 23

jazzgeschichte

 

Inhalt 2011/03

Inhaltsverzeichnis

STANDARDS

Editorial / break / Nachrichten aus der Jazzszene / kurz, aber wichtig Jazzlexikon: David „Fathead“ Newman Farewell: Schlagzeuger Joe Morello Geschichte: Louis Armstrong – Zum 110. Geburtstag und 40. Todestag no chaser: Das globale Dorf


TITEL - Horizonterweiterung
Jazz im Chor – wie geht denn das?

DOSSIER Festivals im Sommer 2011
Termine, Webadressen und ein Lineup


Berichte

Musik bei der jazzahead // Internationale Jazzwoche Burghausen 2011 // Kurt Weill Fest Dessau // Trondheim Jazzfestival 2011 // Messe jazzahead auf Expansionskurs


Portraits

Le Bang Bang // Johannes Enders // Helge Lien im Gespräch // „mit4spiel5“ // Jazzorchester Regensburg // Jazzkomponist Heiner Schmitz // Julian & Roman Wasserfuhr im Interview


Jazz heute und Education
Ulli Blobel, jazzwerkstatt Berlin-Brandenburg, und das Festival Peitz // Julia Hülsmann und Peter Ortmann für die Bundeskonferenz Jazz auf der Musikmesse // In Münchens alter Jazzheimat starten zwei neue Locations // Abgehört: Zum 40. Todestag von Satchmo
Louis Armstrongs Solo über Ain‘t Misbehavin‘

Rezensionen und mehr im Inhaltsverzeichnis

Pops lives!

Louis Armstrong – Zum 110. Geburtstag und 40. Todestag

Satchmo, Pops, Satchmelmouth, Mr. Jazz – allein schon die vielen mit Ehrfurcht oder Zärtlichkeit ausgesprochenen Beinamen belegen seinen Rang. Der Trompeter mit der heiseren Stimme und dem weißen Taschentuch war die wohl einflussreichste Persönlichkeit der afroamerikanischen Musik und bleibt wohl für alle Zeiten die beliebteste Symbolfigur des Jazz.

Foto: Archiv/Timpe

Bild vergrößernFoto: Archiv/Timpe

Dabei ist dieser berühmteste aller Jazzmusiker genau besehen in mancherlei Hinsicht ein Unbekannter. So hat die enorme Beliebtheit des im Alter vor einem Millionenpublikum spielenden Entertainers die enorme Bedeutung seines Frühwerks für die Entwicklung des Jazz weitgehend verwischt. Jeder, der bisweilen Gespräche über Musik führt, kann leicht feststellen, dass auch viele Jazzfreunde, die sich zunächst einmal an den heutigen Jazz-Charts orientieren, sein wegweisendes Schaffen der 20er-Jahre kaum kennen, selbst so bekannte Aufnahmen seiner „Hot Five“ und „Hot Seven“ wie z. B. Wild Man Blues, West End Blues, Muskrat Ramble oder Struttin’ With Some Barbecue, also Grundsteine und tragende Pfeiler eines inzwischen gigantischen, in verschiedenste Richtungen gewachsenen Gebäudes namens Jazz. Ist das ein Wunder? Wo stößt man heute noch zufällig auf solche Aufnahmen, wenn unsereins nicht darauf hinweist? Die folgenden Zeilen wollen daher weniger ausführliches Portrait des Genies sein als Fingerzeige zum Verständnis mit Verweis auf exemplarische Aufnahmen, die heute – Segen des viel bescholtenen Internet - jeder bei YouTube und anderen Portalen „ergoogeln“ kann. Die zwanziger Jahre liegen lange zurück. Miles Davis‘ Zitat, „Du kannst nichts auf einem Horn spielen, das Louis nicht bereits gespielt hat“ wird daher achselzuckend oder gar belächelnd zur Kenntnis genommen. Dass es stimmt, wird kaum mehr wahrgenommen.

Auch die Legende hat die Tatsachen so überwuchert, dass man lieber an ihr festhält als an gar nicht mehr so neuen Erkenntnissen. Das beginnt schon beim Geburtstag. Kann es einen schöneren geben als den 4. Juli, den amerikanischen Unabhängigkeitstag des Jahres 1900? Bloß: Louis Armstrong wurde am 4. August 1901 in New Orleans geboren, was weder seine Geburtstadt, Rundfunksender, Jazzfestivals oder andere Institutionen davon abhält, im Jahr 2000 zu feiern. Das Taufregister der Sacred Heart of Jesus Church gibt aber eindeutig darüber Auskunft, dass Armstrong am 4. August 1901 zur Welt kam und am 25. August getauft wurde. Und wem das nicht genügt: Die Volkzählungsunterlagen von 1910 geben sein Alter an, während jene des Jahres 1900 ihn noch nicht kennen. 1918 hat er sich selbst bei der Einberufungsbehörde ein Jahr älter gemacht, nicht etwa wie gelegentlich zu lesen ist, um sich der Militärpflicht zu entziehen. Im Gegenteil, das Alter von 18 Jahren wäre sogar die beste Vorrausetzung dafür gewesen. Er tat dies, um zu heiraten und weil er als scheinbar älterer Musiker leichter Arbeit bekam. Als er 1922 nach Chicago kam, um im Lincoln Gardens mit seinem Mentor, dem bis dahin größten Jazz-Kornettisten Joe Oliver zusammenzuarbeiten, musste er seine Volljährigkeit nachweisen. Schon wieder leistete der falsche Geburtstag gute Dienste.

Der Sohn eines Tagelöhners und einer Wäscherin, die getrennt lebten, wuchs in ärmlichsten Verhältnissen auf, unter Zuständen, die weit düsterer waren, als er es in seinem etwas geschönten Buch „My life in New Orleans“ schilderte bzw. schildern durfte. Es gibt zahlreiche Briefe und autobiographische Notizen, in denen er kein Blatt vor dem Mund nimmt. Gewalt und Verbrechen waren an der Tagesordnung. Als 10 Jähriger erlebte er, wie sich Weiße mit Whisky vollsoffen und „wenn sie dann so gottverdammt voll waren, dass sie nicht mehr wußten, wer sie waren, dann war es Zeit für die Jagd auf Neger. Auf jeden Neger. Sie haben nicht Ruhe gegeben, bis sie einen gefunden hatten. Und dann, Gnade Gott dem armen Schwarzen. Dann haben sie den armen Schwarzen gequält, so unschuldig er auch war. Dann lachten sie ihr blödes, meckerndes Katzenlachen, und dann erschossen sie ihn wie einen Hund. Mein Gott, was waren das für Zeiten.“

Doch auch die schwarze Gemeinschaft war kein Paradies: größte Armut, Kriminalität und zerrüttete Familienverhältnisse. Wovon lebte er? Als Kind ging er mit seiner Schwester vor die Stadt, wo „die Leute verfaulte Kartoffeln oder Zwiebeln in ein großes Fass warfen; zusammen mit anderen Jungen haben wir diese Fässer geplündert – die verdorbenen Teile abgeschnitten und den Rest an Restaurants verkauft.“

Von einer jüdischen Familie, den Karmofskys, erhielt er seinen ersten Job. Er verkaufte für ihren Sohn, der mehrere Kohlewagen besaß, Kohlen an Prostituierte. Sie waren herzlich zu ihm. „Als ich elf Jahre wurde, erkannte ich, dass ich durch diese jüdische Familie gelernt hatte, aus meinem Herzen zu singen.“ Mit elf spielte Armstrong schon auf einem Bronzehorn, auf dem Lumpenwagen der Karmofskys. Von den Karmofskys erhielt er sogar einen Vorschuß, um sich sein erstes richtiges Kornett zu kaufen. „Als ich darauf eine Zeit lang geblasen hatte, hatte ich gemerkt, dass ich „Home Sweet Home“ spielen konnte – und dann kam der Blues. Von da an war mit mir nichts mehr anzufangen, und ich habe die ganze Zeit geblasen. Ich hatte das Horn sehr lange, spielte tagsüber in den Honky Tonks. Die Leute glauben, ich hätte mein erstes Horn im Colored Waif’s Home für Boys bekommen. Das stimmt aber nicht.“

Als Louis Armstrong am Neujahrsmorgen des Jahres 1913 mit einer geborgten Pis­tole sechs Schüsse in die Luft feuerte, und damit Silvester zu lautstark feierte, wurde er wegen Unruhestiftung in ein Erziehungsheim gebracht, wo er dann sein Kornettspiel perfektionieren konnte. Er verließ es 1914 ungern und spielte fortan mit führenden New Orleans-Musikern wie dem Posaunisten Kid Ory und auf den Flussdampfern des Mississippi bei Fate Marable.
Wie bereits erwähnt, holte ihn King Oliver 1922 in seine Band nach Chicago. Chimes Blues mit King Oliver am 5. April 1923 eingespielt, enthält Armstrongs erstes auf Platte dokumentiertes Solo. Weather Bird Rag, eine der ältesten erhaltenen Kompositionen Louis Armstrongs, wurde am nächsten Tag von King Oliver And His Creole Jazz Band aufgenommen. Olivers Band lebte noch von der New Orleanser Polyphonie. Dennoch zeichnete sich in dieser Band schon eine wichtige Entwicklung ab, die zunehmende Emanzipation des einzelnen Solisten von der im frühen New-Orleans-Jazz üblichen Kollektivimprovisation. Kraft seiner technischen Brillanz und seines melodischen Einfallsreichtums stellte Armstrong hier schon Weichen für seine wichtigste revolutionäre Leistung: Die Umgestaltung des Jazz zu einer solistischen Kunst. Bei Oliver herrschte freilich der Teamgeist vor. Ein wunderbares Beispiel liefert Tears vom 23. Oktober 1923, das von Armstrong und seiner künftigen Frau der Pianistin Lil Hardin komponiert wurde. In Armstrongs neun „Breaks“, die schon den reifen Künstler erkennen lassen, überflügelt er das Ensemble schon bei weitem, das damals aus King Oliver (Kornett), Honore Dutrey (tb), Johnny Dodds (cl), Lil Hardin (p), Johnny St. Cyr (bjo) und Baby Dodds (dr) bestand.

Als seine Aufnahmen mit Oliver entstanden, soll Armstrong sechs Meter hinter der übrigen Band gestanden haben, weil sein gewaltiger Ton Band und Aufnahmeteam überwältigte – und dies, obwohl er offiziell nur der zweite Kornettist war. Oliver und Armstrong hinterließen einen großen Eindruck auf die Chicagoer Jazz-Szene, auch auf die weißen Nachwuchsmusiker wie Bix Beiderbecke, die in dieser Zeit den sogenannten Chicago-Jazz kreierten. Oliver fürchtete, von seinem hochtalentierten Schützling ausgestochen zu werden; daher wollte er seinen poten­tiell größten Konkurrenten lieber in seiner ­eigenen Band wissen. Doch die Pianistin Lil Hardin, die Armstrong im Februar 1924 heiratete, stachelte Armstrongs Ehrgeiz an und er verließ Olivers Creole Jazz Band. Er zog im Oktober nach New York, um sich Fletcher Henderson im Roseland Ballroom anzuschließen. Als Kornett-Solist bei Henderson wurde Armstrong zur Sensation. Man erkannte in ihm einen Innovator und den wichtigsten Jazz-Solisten schlechthin. Das Orchester ging aus der Union vitalisiert hervor. Das Fletcher Henderson Orchestra, dem Armstrong bis November 1925 angehörte, war die wichtigste Vorläuferband des Swing-Stils. Und der ­Swing-Stil ist, so formulierte jemand einmal etwas überspitzt, die Orchestrierung des Armstrongschen Solo-Stils.

In dieser Zeit bei Henderson bildete sich Armstrong weiter und perfektionierte seine Technik mit fleißigem Etuden-Spiel. Seine Frau unterwies ihn im Notenschreiben und machte ihn mit klassischer Musik vertraut. Seitdem er bei Henderson spielte, war Armstrong ein gefragter Solist bei zahlreichen Studioaufnahmen unterschiedlichster Künstler, vor allem von Blues-Sängerinnen. Als Eva Taylor, am 6. November 1924, von einer Band unter der Leitung ihres Gatten Clarence Williams „Everybody Loves My Baby“ einspielte, wurde die Platte ein großer Hit, nicht zuletzt durch Armstrongs Beitrag. Er spielt voller Swing und wunderbarem Vibrato. Er verwendet auch einen Dämpfer, worin King Oliver der Lehrmeister der Kornettisten war. (Am 24. November 1924 spielte auch Henderson den Song ein – die erste Aufnahme, auf der man Armstrongs Stimme hört.)

Eine von Armstrongs Übungsmethoden jener Jahre war es, pfeifend durch die Straßen zu gehen. Er erklärte seiner Frau, wie wichtig es dabei sei, die Note nach dem Grundschlag zu treffen, um ein Maximum an Swing und Relax zu erzielen. 1925 lernte er bei einem deutschstämmigen Lehrer, wie man das Kornett nicht pressend bläst. Der Erfolg war eine größere Sicherheit in hohen Lagen, die Armstrong in späteren Jahren ermöglichte, zum ersten der Highnote-Trompeter zu werden.

Am 14. Januar 1925 kam es zu einer berührenden Zwiesprache zwischen Louis Armstrongs Kornett und der Stimme der Kaiserin des Blues, Bessie Smith. Fletcher Henderson begleitete sie auf dem Harmonium. Der dabei entstandene „St. Louis Blues“ – das Wort Saint möchte man dabei groß schreiben – geriet zu ­einer der großartigsten Demonstrationen des „Call & Response“-Prinzips der afroamerikanischen Musik. Am 13. Dezember 1929 nahm Armstrong den „St. Louis Blues“ noch einmal auf. Nur vier Jahre liegen zwischen diesen beiden Versionen, ein kurzer Zeitraum, in dem sich durch Armstrongs Einfluss das ganze Gesicht des Jazz verwandelt. Armstrong ist bei der zweiten Version der gefeierte, vom Orchester begleitete Virtuose und zugleich ein Gesangsstar. Er hat den ­Swing miterschaffen. Noch heute reißen der Drive dieser Aufnahme und Armstrongs Sinn für dramatische Spannung mit.

Zwischen diesen beiden Aufnahmen liegt, darin sind sich die Jazzhistoriker, wenn auch nicht die Fans einig, der Höhepunkt in Armstrongs Schaffen. Es sind die Jahre 1925 bis 1928. Armstrongs wohl wichtigste Werke entstanden damals mit seinen Bands „Hot Five“ und „Hot Seven“, Combos, die außerhalb des Plattenstudios gar nicht existierten, aber dennoch einen großen Einfluss auf die Jazzgeschichte ausübten. Die beeindruckende Architektonik seiner melodischen Einfälle, der strahlende Klang sowie die makellose Technik seines Kornett- und Trompetenspiels in Meisterwerken der Hot Five und Hot Seven weisen ihn als ers­tes solistisches Genie des Jazz aus. Doch mit diesen Aufnahmen setzte er sich auch als begnadeter Sänger durch.

Dabei hatte Louis Armstrong etwa am 26. Februar 1926 einen Einfall, der sintflutartig kopiert wurde. Seine Aufnahme von Heebie Jeebies, an der Lil Armstrong sowie der Posaunist Kid Ory, der Klarinettist Johnny Dodds und der Banjo-Spieler Johnny St. Cyr mitwirkten, dokumentiert die ihm zugeschriebene Erfindung des Scatgesanges. (In Wahrheit findet man Scat und Scatähnliches schon auf älteren Schellacks anderer Musiker, wenn sie auch nicht diese zündende Wirkung hatten) Armstrong singt bei der Wiederholung nicht den Songtext, sondern Silben, die ihm gerade einfallen. Angeblich hatte Satchmo während der Aufnahme vor dem Mikrofon Unsinn getrieben, gerade als er sein Vocal singen sollte. Dabei war ihm das Papier mit dem Text aus den Händen gefallen, so dass er irgendetwas erfinden musste, um den Chorus zu beenden. Wie auch immer, die Aufnahme wurde Armstrongs erster Hit unter eigenem Namen und verkaufte sich innerhalb kürzester Zeit 40.000-mal, für damalige Verhältnisse ganz schön oft. Bald wurde überall, auch im fernen Europa, gescattet.

Der Klarinettist Mezz Mezzrow hat in seiner Autobiographie eine anschauliche Beschreibung von der Nachwirkung dieser Aufnahme hinterlassen:

„Gerade in diesem Augenblick, als Louis das Stück Papier fallen ließ und seinem Improvisationstalent freie Bahn ließ, schuf er auf dem Gebiete der Musik eine neue Mode, die Furore machte und ein Teil des kulturellen Lebens Amerikas wurde wie Mickey Mouse und Coca-Cola. Alle die ,hi-de-ho, Vo-de-o-do- und Boop-boop-a-doo‘-Sänger, die sich wie Zahnpasta-Reklamen rings im Lande verbreiteten, waren großenteils blasse kommerzielle Nachahmer dessen, was Louis spontan und unmittelbar, mit vollkommenem musikalischem Gespür bei jener Plattenaufnahme tat. Diese Platte eroberte Chicago im Sturm, sowie sie herauskam. Monatelang begrüßte man sich hernach mit ­Louis Armstrongs Riffs – ,I got the heebies‘, rief man, und der andere antwortete: .I got the jeebies‘, und in der nächsten Minute war ein Scat in Gang. Die Platte vertrieb die englische Sprache beinahe für immer aus der Stadt.

Als ich die Platte heimbrachte, fielen meine Freunde fast durch den Fußboden. Bud Freeman, Dave Tough und Frank Teschemacher spielten sie beinahe zuschanden, weil sie sie auflegten, bis wir sie auswendig konnten. Gegen zwei Uhr sprang Tesch plötzlich auf und rief mit ausnahmsweise leuchtendem Gesicht: ‚Das muß Bix sofort hören! Fah­ren wir zum Hudson-See und machen wir ihm die größte Freude seines Lebens!‘ Es war verrückt. Bix Beiderbecke hielt sich fünfundsiebzig Kilometer entfernt auf. Unterwegs sangen wir immerzu Armstrongs unheimliche Riffs, wobei ich den Wagen zick­zacken ließ, um den Takt anzugeben. Die anderen Fahrer auf der Straße müssen gewußt haben, daß wir Musiker waren; denn sie wichen zur Seite, sowie wir in Sicht kamen. Als wir Bix und Pee Wee Russell um 3 Uhr nachts aus den Federn jagten und ihnen ,Heebie Jeebies‘ vorspielten, gerieten sie in Ekstase. Bix lachte und schmunzelte die ganze Zeit, während die Platte immer wieder abspielte, und seine langen, knochigen Arme flogen im Takt durch die Luft wie die Schlegel einer Dreschmaschine. Schließlich stürzte er mit der Platte aus dem Haus, um alle, die er am Hudson Lake kannte, zu wecken und die Platte hören zu lassen.“

Im Frühling 1927 entstanden die Aufnahmen der „Hot Seven“, darunter z. B. der Potato Head Blues. Es sind die ersten Aufnahmen, auf denen Armstrong nicht Kornett, sondern Trompete spielte – ein Wechsel, den viele seiner Nachfolger nachvollzogen.

King Olivers West End Blues versah Armstrong am 28. Juni 1928 mit einer 10-taktigen, unbegleiteten Einleitung, die fast berühmter wurde als Olivers Melodie selbst. Wie Abbi Hübner in seiner Armstrong-Biographie schreibt, handelt es sich um ein „formvollendetes Meisterwerk, mit dieser chirurgischen Präzision von keinem Trompeter der Welt jemals nachgespielt, auch von Armstrong selbst nicht! Nach drei Tönen, die eher Es-Dur als c-Moll ankündigen und einer seiner typischen Phrasen über Septakkorde, die auf der None ausklingen, flammt plötzlich ein signalartiger Ruf in c-Moll auf, der auf dem hohen C endet. Dann beginnt, vom B aus, ein wirbelnder Sturzbach von ­Tönen zunächst über Es-Dur, der aber letztendlich zur Septime der Dominante Bb7 führt. Nach einem langen Ton aller, der wie ein Seufzer der Erleichterung nach bestandenem Abenteuer klingt, trägt Armstrong majestätisch die Melodie vor.“ Der Trompeter Nicholas Payton, der wie Armstrong aus New Orleans stammt, meinte 1999 zu Armstrongs berühmter Einleitung: „Der ganze Jazz liegt in diesem Intro: darin stecken Blues, Lyrismus und die Anfänge des Bebop. Alle Dinge, die im Jazz kommen sollten, begannen mit Armstrong.“ Wer nun glaubt, diese geniale Kadenz sei Armstrong einfach so im Stegreif eingefallen, irrt. Es scheint, dass die berühmte Introduktion das Ergebnis langjähriger Vorbereitungen ist. Schon vier Jahre früher, am 25. November 1924, spielte er auf Margret Johnsons Aufnahme von „Changeable Daddy Of Mine“ einen herrlichen viertaktigen Break, der das Ende der Introduktion vorwegnimmt.

Die Ersteinspielung des „West End Blues“ stammt von seinem Komponisten King Oliver und seinem Co-Autor, dem Pianisten Clarence Williams. Sie spielten ihn auch am 11.Juni 1928 in einer Oktett-Besetzung grundsolide, aber nicht sonderlich aufsehenerregend ein. Wenige Tage nach dieser Aufnahme legte Armstrong am 28.Juni mit den Hot Five – Fred Robinson (tb), Jimmy Strong (cl), Mancy Cara (bj), Earl Hines (p), Zutty Singleton (dr) – seine bahnbrechende Version vor. Sie legt ein so beredtes Zeugnis von Armstrongs gestalterischen Fähigkeiten als Trompeter, Sänger und Bandleader ab, dass er, hätte er sonst nichts anderes geleistet, allein schon wegen ihr einen festen Platz in der Jazzgeschichte hätte. „Man nimmt ihre Unübertrefflichkeit kaum noch wahr.“

Doch nicht nur die hier vorweggenommene Einleitung zum „West End Blues“ machte aus Armstrongs Version des Oliver-Werks einen Klassiker, sondern unter anderem auch das in Call & Response-Manier gestaltete Wechselspiel zwischen Satchmos verträumt wirkendem Scat-Gesang und Jimmy Strongs Klarinette und der dramaturgisch bezwingende letzte Chorus: Armstrong beginnt mit einem über vier Takte gehaltenen hohen B, lässt die Töne nach dramatisch wirkenden Tonwiederholungen eines Sechzehntelnoten-Motivs in die Tiefe purzeln, um das Stück schließlich ganz sanft ausklingen zu lassen. Oliver hat später immer wieder versucht, mit eigenen Aufnahmen des „West End Blues“ seinen Schützling einzuholen. Vergebens. Er lieferte sogar eine Aufnahme, die eine fast schon sklavische Imitation des Erfolgskonzepts darstellte. Überzeugender, wenn auch weit weniger beglückend, sind Armstrongs spätere Selbst-Kopien.

Als er am 5. Dezember 1928 mit dem ­Pianisten Earl Hines im Duo „Weather Bird“ einspielte, betrat er schon von der Besetzung her Neuland. Bis in die 50er-Jahre hinein blieben Trompete-Klavier-Auf­nahmen im Jazz eine Rarität. Der Pianist Earl Hines übrigens lieferte mit seinem nach Satchmo modellierten „Trumpet Style“ die Grundlage zur ­späteren Entwicklung des Jazzklaviers. Satchmo war eben ein Vorbild, das sich auf nahezu alle Bereiche und Instrumente erstreckte. Er setzte im Jazz Maßstäbe für Impro­visation, Scat-Gesang und ­Instrumentalbeherrschung, aber auch für Bühnenpräsenz und Entertainment. Als sich Armstrong in den 30er-Jahren endgültig vom New-Orleans-Stil löste, um sich als gefeierter Solist von Swing-Orchestern begleiten zu lassen, hatte er schon genug für die Unsterblichkeit geleistet. Daher nur einige Worte zu jenem Armstrong, wie ihn die Leute kennen und lieben:

Mit seinen nach dem 2. Weltkrieg formierten All Stars fungierte er als rastlos reisender Botschafter des Jazz. An der Seite von Größen wie Jack Teagarden und Earl Hines, später nicht mehr ganz so berühmter, doch immer noch großartiger oder zumindest kompetenter Sidemen, absolvierte er strapaziöse Tourneen, wobei selbst Ereignisse wie der Herzinfarkt 1959 in Italien für ihn nur ein Anlass für wenige Tage Pause war. Überall auf der Welt ebnete er den Menschen den Weg zum Jazz, indem er sie mit der emotionalen Direktheit seiner Musik im Herzen berührte. Zu Gute kam ihm dabei, dass er auch als Persönlichkeit die Warmherzigkeit und Lebensfreude seiner Musik ausstrahlte. Das Repertoire seiner Live-Auftritte bot sicherlich nicht die Vielfalt, die ihm möglich gewesen wäre. Zudem hörte er sich in den letzten Jahren seiner Laufbahn Mitschnitte seiner Auftritte an, um sich die besten Stellen seiner Improvisationen zu merken, um sie wiederzuverwerten. Das war sicherlich künstlerisch legitim, reduzierte aber das Ausmaß an Überraschungen, die bei einem Armstrong-Konzert zu erwarten waren. Die sich wie ein Ei dem anderen ähnelnden Interpretationen der immergleichen Standards, die allerdings immer auch tief gefühlt, nie nur routiniert geboten wurden, sind allerdings nur ein Aspekt seines Spätwerks. Live oder im Plattenstudio kam es oft genug zur jung haltenden Begegnung mit anderen Musikern und/oder ungewöhnlichem Repertoire. Ein Beispiel stehe für viele: Das von Dave Brubeck komponierte Jazzmusical „The Real Ambassadors“ gab Armstrong die Chance, zu Rassismus und Rassengleichheit bewegend Stellung zunehmen.

In den Jahren der Bürgerrechtsbewegung wurde von Menschen, die diese Seite Armstrongs gar nicht wahrnahmen, kritisiert, er produziere sich vor dem weißen Publikum als clowneskes Klischee und Zerrbild eines Schwarzen und man warf ihm zu Unrecht politisches Desinteresse vor. Dabei war schon damals offenbar, dass Armstrong in einer von Rassismus geprägten Zeit wie kein zweiter Künstler Respekt für schwarze Menschen errungen hatte. Am 6. Juli 1971 sind die bewegenden Stimmen seiner Kehle und seiner Trompete verstummt, doch wenn Satchmo nicht unsterblich ist, wer dann?

Marcus A. Woelfle

 

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