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Die Stimme gilt als eines der wenigen künstlerischen Reservate des Jazz, das überwiegend den Frauen vorbehalten ist. Männer sind die Exoten oder fest im popafinen Croonertum der Entertainmenttradition verankert. Ausnahmen gab es natürlich, Jon Hendricks und Jimmy Scott zum Beispiel oder auch Al Jarreau, aber sie waren eben die Bestätigung der Regel. Oder man fand herausragende Solisten, die wie Louis Armstrong, George Benson oder Ray Anderson die Stimme als Fortsetzung ihres Instruments betrachteten. Ein eigenes männliches Profil aber konnte man am ehesten noch im Übergangsbereich zur Avantgarde entdecken, in der Sprechkunst eines Phil Minton, eines David Moss oder im Syllabieren eines Médéric Collignon. Für Sänger der Gegenwart bedeutet dies, dass es wenig Referenzaufnahmen gibt, an denen man sich orientieren kann. Eine davon ist das Album von John Coltrane, das er 1963 mit Johnny Hartman festgehalten hat, auf das sich in den vergangenen Monaten mit Kurt Elling und Kevin Mahogany gleich zwei Stimmautoritäten der mittleren Generation anhand aktueller Projekte bezogen haben. Das vergleichsweise kleine Angebot an Bezugspunkten eröffnet aber auch die Möglichkeit, als eines der wenigen Genres innerhalb des Jazz noch Nischen zu bieten, in denen sich nicht bereits Hundertschaften der Konkurrenz tummeln. Immerhin drei markante Beispiele unterschiedlicher Stimmkonzepte sind während der vergangenen Wochen erschienen, die aus individueller Perspektive versuchen, dem vokalen Feld ungewöhnliche Nuancen abzugewinnen. Da ist zum einen Michael Schiefel, inzwischen Gesangsprofessor in Weimar und über Projekte wie „Thärichens Tentett“ oder das Duo mit dem Pianisten Carsten Daerr als Spezialist für einen narrativen Singstil mit Tendenz zu theatralischen Exkursen in der europäischen Jazzlandschaft eingeführt. „My Home Is My Tent“ (Traumton) ist sein sechstes Solo-Album und es führt die Entwicklung komplex geschichteter, mit Loopgerät und Laptop aufgebauter Stimmräume in mehrere Richtungen fort. Schiefel weitet die populären Elemente wie etwa mit dem Titelstück aus und entwickelt Songs im One-Man-A-Cappella-Stil, die ihm die Möglichkeit für charmante Tändeleien geben. Als Gegenpol lässt er rhythmisch freie Passagen wachsen, die dezent dissonant dem Schönklang Reibungspunkte bieten. Hier wird Stimme zum Spielball der Stimmungen, zum rhythmischen und harmonischen Ensembleinstrument. Theo Bleckmann ist da spartanischer. Künstlerisch groß geworden im Umfeld der New Yorker Experimentalmusikszene, hatte der Sänger aus Dortmund das Konzept im Kopf, die Stimme pur wirken zu lassen und Klangeffekte selbst live dazu zu produzieren. Den Ort für den vokalen Versuchsaufbau von „I Dwell In Possibility“ (Winter&Winter) fand er im Kirchenraum des Schweizer Klosters Beinwil, und das Spektrum der Ausdrucksmöglichkeiten ist groß. Im Mittelpunkt steht das spezielle samtene Timbre seiner Stimme, seine typischen Legato-Phrasierungen in Union mit zahlreichen Anspielungen auf Darstellungstraditionen – vom Spirituellen des Mittelalterlichen über Theatralisches und Experimentelles bis hin zum Minimalismus intelligent interpretierten Adult Pops. Theo Bleckmanns Stimmverständnis ist ein Manifest der individuellen Möglichkeiten, in seiner hintergründigen Radikalität und ästhetischen Singularität kaum übertragbar auf andere Sänger, aber dadurch umso konsequenter. Spannend ist gegenüber diesen beiden in ihrer Stilherkunft und dem Kunstanspruch eindeutig europäisch geprägten Modellen der Vorschlag, mit dem Bobby McFerrin nach sieben Jahren Pause wieder auf den Plan getreten ist. „VOCAbuLarieS“ (Emarcy) heißt das Album, mit der er zum einen eindeutiger noch als früher seine Technik ineinander greifender Melodielinien auf ein vielstimmiges Ensemble überträgt, dabei aber darüber hinaus ein kulturübergreifendes Klangbild im Sinn hat. Die Textsemantik wird auf ein mantrisches Mindestmaß reduziert, dafür finden sich in seiner Musik Zitate aus rund einem Dutzend Sprachen und viele Querverweise, die vom Close-Harmony-Gesang à la Singers Unlimited über kleine Bacheleien im Swingle-Singers-Stil bis hin zum stimmorchestral Monumentalen der Spirituals-Tradition reichen. Der Beat bleibt ein zentrales Element, musikkulturelle Archäologen können Anspielungen afrikanischen Ursprungs ebenso entdecken wie Querverweise auf Soul oder verschiedene südamerikanische Quellen. Als Stückwerk über die Jahre hinweg mit vielen Gästen von Luciana Souza bis zu den New York Voices aufgenommen und von McFerrin gemeinsam mit dem Arrangeur Roger Treece in vielen Studiostunden zusammen gepuzzelt steht „VOCAbuLarieS“ für den Versuch, ein vokales Gesamtkunstwerk zu schaffen, das in einem Wurf komprimiert, was Bobby McFerrin an Ausdrucksfacetten im Laufe seiner Karriere begegnet ist. Auch das ist letztlich ein einmaliges Experiment und kaum übertragbar. Es zeugt aber, wie auch die beiden anderen Beispiele, von einem wachsenden Selbstbewusstsein, dem männlichen Gesang umfassend und unabhängig von den Klischees der Jazztradition eine zeitgemäße Form zu geben. Ralf Dombrowski
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