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Fragt man nach den wichtigsten Komponisten im Great American Songbook, so fallen in der Regel die Namen Irving Berlin, George Gershwin, Jerome Kern, Cole Porter und Richard Rodgers. Doch ein Name fehlt in dieser Liste, der gerade in den Herzen der Jazzfans und Jazzmusiker einen festen Platz haben sollte: Harold Arlen. Viele sahen in Harold Arlen – auch wegen seiner Nähe zum Jazz – den „Schüler“ und Nachfolger von George Gershwin. Harry Belafonte zählte ihn – mit Gershwin und Bernstein – zu den drei größten Komponisten Amerikas. Gershwin kannte nur den jungen Arlen (er war erst 32, als Gershwin starb), nannte ihn aber bereits „den Originellsten von uns allen“. Der Songkenner und Komponist Alec Wilder war der Meinung, Arlen habe Gershwin sogar noch übertroffen: „Ich respektiere Gershwin, aber ich beneide Arlen.“ Unsung Hit ComposerDass Arlen nie die Bekanntheit eines Gershwin erlangte, obwohl viele seiner mehr als 400 Songs weltberühmt wurden, wirkte schon zu seinen Lebzeiten kurios. Arlen selbst erzählte gern jene Anekdote, als er in einem New Yorker Taxi unterwegs war und der Fahrer die Melodie von „Stormy Weather“ vor sich hinpfiff. Er fragte den Fahrer, ob er wüsste, wer dieses Stück geschrieben hätte. Der Fahrer riet: Irving Berlin. Arlen gab ihm noch zwei Chancen, der Fahrer tippte auf Richard Rodgers, dann auf Cole Porter. Schließlich sagte Arlen: „Ich habe das geschrieben.“ – „Wer sind Sie denn?“ – „Harold Arlen.“ – „Wer?“ Die Frage „Harold WHO?“ wurde geradezu sprichwörtlich in Arlens Leben: Selbst Profis im Showbusiness kannten kaum den Mann hinter den Melodien und hielten diese oft für Folksongs. Noch 1954 gab die New York Herald Tribune einem Artikel über Arlen den Titel „The Unsung Hit Composer“. Ein Grund für Arlens relative Anonymität war: Der Mann sorgte sich um seine Privatsphäre. Harold Arlen, Sohn eines jüdischen Kantors, war im Grunde ein schüchterner und sensibler Mensch. Er scheute Konfrontationen, blieb immer sanft, bescheiden, kompromissbereit. Die Songtexterin Dorothy Fields nannte ihn „den nettesten Menschen“, der ihr je begegnet sei, der Sänger Tony Bennett beschrieb ihn als „das wunderbarste menschliche Wesen“. Die notorische Blume im Knopfloch – meist eine rosa Rose – war symbolisch für seine defensive Art. Als er Ted Koehler, seinem ersten großen Songtexter, 1936 „untreu“ wurde, hatte Arlen solche Schuldgefühle, dass er sich in den Alkohol flüchtete. Koehler konnte diesem Menschen aber gar nicht böse sein: Sie blieben Freunde und arbeiteten nebenher noch viele Jahre zusammen. In seiner Frühzeit in New York scheute Harold Arlen das persönliche Vorsprechen und machte Kontakte lieber per Telefon. Weil sein Familienname – Arluck – am Telefon oft schwer verstanden wurde, änderte er ihn damals in Arlen, eine Kombination aus Arluck und Orlin, dem Familiennamen seiner Mutter. Er hasste „Backers’ Auditions“, bei denen er vor möglichen Show-Sponsoren glänzen sollte, die keine Ahnung von Musik hatten. Seine introvertierte, etwas befangene Art fand dagegen ein Ventil in ausgedehnten Spaziergängen. Der Songtexter Ted Koehler fragte ihn einmal: „Warum gehst du nicht zur Army, wenn du so gerne marschierst?“ Aus
einem ihrer gemeinsamen New-York-Märsche ging 1931 immerhin der
Song „I Love A Parade“ hervor, der im Cotton Club so erfolgreich
war, dass die folgenden Shows alle „Parades“ hießen.
Später im Automobil-fixierten Hollywood wirkte Arlens Spazierdrang
besonders kauzig. Jerome Kern schenkte ihm einmal einen Spazierstock,
der angeblich Jacques Offenbach gehört hatte.
Von Arlens Person – vor allem von seinen hellen, etwas schläfrig wirkenden Augen – ging oft etwas Schwermütiges, fast Mystisches aus. „Wenn er sang, war es, als würde er beten oder wäre verzaubert“, berichtet ein Produzent. Der Dichter und Journalist Truman Capote spürte um den Komponisten eine Aura der Einsamkeit und Askese, eine tragische Einstellung zum Leben. Einmal beschrieb ihn jemand auch mit den Worten aus dem Song „Ol’ Man River“: „He must know sumpin’ but don’t say nuttin’.“ Tatsächlich hatte Arlens Leben tragische Facetten. In seinem Elternhaus nannte man ihn Chaim, das ist hebräisch und heißt „Leben“. Diesen Namen erhielt er, nachdem sein älterer und kräftigerer Zwillingsbruder einen Tag nach der Geburt verstorben war, während er, das schmächtige Zwei-Kilo-Baby, durchhielt. Schuldgefühle begleiteten ihn lange, auch Pflichtgefühle gegenüber den Eltern. Als er die Nachtclub-Karriere einschlug und 1937 sogar eine blonde Bühnentänzerin heiratete, noch dazu „außerhalb“ seines jüdischen Glaubens, kam es zu ernsten Konflikten mit der Familie. Seine Frau, die er über alles liebte, vermied daher den Umgang mit seinen Eltern und entwickelte eine allgemeine Abneigung gegen Geselligkeit. Wegen ihres seltsamen Verhaltens galt Anya unter Arlens Kollegen als Hemmschuh für seine Karriere. Wurden ihre Anwandlungen zu schlimm, floh er aus dem Haus und betrank sich; darüber sprechen konnte er zu niemandem. Die Fünfzigerjahre verbrachte Anya fast durchgängig in einer geschlossenen Einrichtung in Malibu. Arlen arbeitete in dieser Zeit hauptsächlich in New York, litt unter schlechtem Gewissen und wurde mehrfach schwer krank. Als sich Anyas psychische Probleme in den Sechzigerjahren erneut verschlechterten, erkannte man zu spät einen Gehirntumor als Ursache. Sie starb 1969 im Alter von 54. Vier Jahre später schrieb Arlen seinen letzten Song: „I Had A Love Once“. Hyman Arluck, JazzmusikerArlen kannte das Jazz-Milieu besser als George Gershwin. Ursprünglich wollte er selbst Jazzmusiker werden und hat daher beim Songschreiben immer die praktische Umsetzung mitgedacht. Da er nie Komposition studiert hat, blieb ihm die Operetten-Tradition des Broadway fremd: „Er war komplett ein Produkt des amerikanischen Jazz, der Bigband-Musik und des amerikanischen Popsongs“, schreibt Alec Wilder. Arlen besaß ein Talent für schnelle, jazzige Rhythmusnummern, vor allem aber eine individuelle Neigung zum bittersüßen Tonfall des schwarzen Blues. Sensible, bluesige Balladen und melancholische Torch Songs mit afroamerikanischem Feeling galten geradezu als Arlens Spezialität. Schwarze Vokalisten wie Louis Armstrong, Ray Charles, Nat King Cole, Sammy Davis Jr., Fats Domino, Ella Fitzgerald, Billie Holiday, Lena Horne, Tina Turner, Sarah Vaughan oder Dinah Washington gehörten zu den besten Interpreten seiner Songs. Nicht nur Lena Horne fand, dass Arlens Musik aus den Tiefen der Seele komme. In Hollywood und am Broadway wurde Arlen der bevorzugte Komponist für afroamerikanische Sujets und Besetzungen. Er komponierte auch Klavierstücke mit Rag- oder Blues-Einschlag, eine Liedsammlung namens „Americanegro Suite“ und eine Blues-Oper.
Schon mit den durchweg schwarzen Künstlern im Cotton Club verstand sich der junge Arlen bestens. Er lernte von ihnen die neuesten Harlem-Tänze, schnappte ihren Slang auf, ihren Tonfall, ihren Gesangsstil; vielleicht hat er auch sein charakteristisches Lachen damals entwickelt. Umgekehrt unterhielt er sie mit seinem virtuosen, jazzinspirierten Klavierspiel und parodierte für sie bestimmte weiße Typen. Ganz offenbar fühlte er sich den Afroamerikanern, ihrem Humor und ihrer Melancholie, seelenverwandt. Viele Jahre später sagte Truman Capote über Arlen: „Hätte ich es nicht besser gewusst, hätte ich denken können, er wäre ein Schwarzer. Seine Stimme, vor allem seine Singstimme, hatte einen warmen, klagenden, dunklen Klang, auch seine Aussprache hatte eine gewisse, sehr angenehme ‚Neger’-Qualität.“ Eine natürliche Brücke zur Expressivität des Blues war für Arlen der jüdische Ritualgesang. Schon Arlens Vater, sein wichtigster musikalischer Einfluss, glaubte im Jazz Elemente der Synagogenmusik zu entdecken – zum Beispiel bei Louis Armstrong. Im Chor seines Vaters sammelte Arlen erste praktische Erfahrung als Sänger – und noch mit 30 Jahren hat er in diesem Singstil und in Sopranlage (!) Gershwins „Summertime“ engelhaft gemeistert. Der Texter Yip Harburg liebte den besonderen Tonfall in Arlens Melodien: „Ich hatte eine Schwäche für dieses körperliche, erdige Feeling. Es war eine Kombination aus hebräischer und schwarzer Musik.“ Im Song „One For My Baby“ kann man das gut hören. Die Mutter sorgte dafür, dass Chaim oder Hyman neben dem Singen auch Klavierstunden erhielt. Seine Leidenschaft gehörte der Improvisation – und als ihm mit 12 Jahren das Stück „Indianola“ begegnete, ein New Yorker Ragtime, fand die Improvisation auch eine Richtung: Er machte sich auf die Suche nach weiteren „novelty tunes“, entdeckte die Platten der Original Dixieland Jazz Band, wurde vom Jazz-Fieber gepackt, begann die Jazzpianisten Arthur Schutt und Frank Signorelli zu verehren und hörte bald auch Platten von Bessie Smith. Da glaubte sein Vater wohl noch an einen vorübergehenden Spleen. Doch Hyman war nicht zu stoppen: Bald spielte er in seiner Heimatstadt Buffalo mit örtlichen Bands, hörte Konzerte im Nachtclub und warf mit 16 Jahren die Schule hin, um Jazzmusiker zu werden. Seine eigene Formation, Hyman Arluck’s Snappy Trio, hatte 1919 ein mehrwöchiges Club-Engagement. Sein damaliger Drummer erzählte später: „Er improvisierte, als viele noch nicht wussten, wie das geht.“ Aus dem Trio wurde – nach dem Vorbild der Original Memphis Five – ein Sextett namens Southbound Shufflers, mit dem Hyman 1923 auf Dampfschiffen auf dem Erie-See auftrat. Hyman war der Leader, Arrangeur, Pianist und Sänger seiner Band – und nannte sich nun Harold. In den Bandauftritten hatte Harold ein Mittel gefunden, um seine Schüchternheit zu besiegen, doch die Aufgabe, die Band zu leiten, wurde ihm schnell zu viel. 1925 löste er daher die Shufflers auf und heuerte als Sideman bei den Yankee Six an, die sich bald die Buffalodians nannten und New York erobern wollten. Trotz einer Band-Konkurrenz, die in die Zehntausende ging, machten die Buffalodians tatsächlich 1926 in New York einige Aufnahmen für Columbia, ehe sie sich auflösten. Für den 21-jährigen Jazzfan Harold Arluck war New York das Paradies: Er begeisterte sich für die Live-Musik in Har-lems Clubs oder hörte in Brooklyn die von ihm verehrten Original Memphis Five: „Als sie von der Bühne kamen, stand ich so ehrfürchtig da, als hätte gerade der Präsident der USA eine Rede gehalten.“ Besonders aber zog es ihn zum Roseland Ballroom, wo Fletcher Henderson mit seinem Orchester residierte. Mit seiner unaufdringlichen Art und seinem stillen Humor freundete sich Arlen schnell mit den schwarzen Musikern an. Er schrieb für Henderson ein Arrangement („Dynamite“) und für die Buffalodians einen Henderson-Tribut („Deep Henderson“), die beide im Frühjahr 1926 aufgenommen wurden. Nach dem Ende der Buffalodians versuchte es Arlen auf eigenen Beinen, vor allem als Sänger. Er war der Band-Vokalist im Arnold Johnson Orchestra, trat mit ihm im Radio, in Hotels und im Orchestergraben auf, machte auch eigene Aufnahmen, etwa mit Henry Busse, fand aber keine Plattenfirma dafür. Immerhin wurde er unter Kollegen bekannt: Einige Jahre später sang er auch mit den Bands von Red Nichols und Benny Goodman. 1929 engagierte ihn Vincent Youmans („Tea For Two“) für eine kleine Singrolle in der Broadway-Revue „The Great Day“ und machte ihn sogar zu seinem Sekretär. Zum Songschreiber wurde er erst durch einen Zufall. Harold Arlen, SongwriterGET HAPPY. Als Fletcher Henderson, der Begleiter der Ensemble-Proben zu „The Great Day“, eines Tages wegen Krankheit ausfiel, vertrat ihn Arlen am Klavier. In einer Probenpause fantasierte Arlen über einen der Songs und klimperte dabei ein kleines, neues Motiv, das sofort die Aufmerksamkeit der anwesenden Musikprofis erregte, darunter Harry Warren und Will Marion Cook. Sie meinten, hier schlummere die Saat zu einem Song, und vermittelten Arlen an Ted Koehler, einen erfahrenen Songtexter. Koehler spürte den jazzigen Rhythmus und den bluesigen Touch der Melodie und bediente sich daher im Songtext bei der Sprache schwarzer Spirituals („sinners“, „troubles“, „the Lord“). Auf die einleitenden, fanfarenartigen Töne setzte er die Worte „Get happy!“ Dieser „Hallelujah Song“ fand 1930 Eingang in die „Nine-Fifteen Revue“, wurde, gesungen von Ruth Etting, der Hit der Show und sofort von Jazzbands adaptiert. Gershwin lobte ausdrücklich Arlens ersten professionellen Song, die Swing- und Bopmusiker haben an „Get Happy“ reihenweise ihre Virtuosität demonstriert. Noch heute verbreitet die Uptempo-Nummer gute Laune auf ungezählten Jamsessions. BETWEEN THE DEVIL AND THE DEEP BLUE SEA. Durch „Get Happy“ erhielt Arlen eine Anstellung beim Musikverlag Remick. Im Team mit Koehler wurde er daraufhin für zwei „Vanities“-Revuen (1930 und 1932) engagiert sowie für insgesamt fünf Shows im Cotton Club (1930-1934), dem Gangsterclub in Harlem, der kurz nach der Weltwirtschaftskrise finanziell besser dastand als der Broadway. Aus der zweiten „Vanities“-Revue (am Broadway Theatre) stammt „I Gotta Right To Sing The Blues“, das Louis Armstrong und Billie Holiday so unvergesslich gesungen haben und das Jack Teagardens Erkennungslied wurde. Besonders für die Cotton-Club-Shows, bei denen nur afroamerikanische Künstler auftraten, nutzten Arlen und Koehler reichlich die Melodik und Sprache von Blues und Jazz. Cab Calloway war der Leiter und Sänger des Cotton-Club-Orchesters. Er kokettierte gerne mit seinem „diabolischen“ Image, das auch gewisse Diktatoren in Europa aufs Korn nahm: Für ihn entstand der Song „Between The Devil And The Deep Blue Sea“. Dank Benny Goodmans Aufnahme (arrangiert von Fletcher Henderson, gesungen von Helen Ward) wurde der Song schnell zum mühelos swingenden Jazz-Standard, der alle stilistischen Grenzen überschritt. STORMY WEATHER. Arlen und Koehler schrieben für Calloway mehrere Nachfolge-Songs zu dessen großem Hit „Minnie The Moocher“, darunter „Minnie The Moocher’s Wedding Day“. Mit den drei Tönen von Calloways Erkennungsruf „Hi-de-ho“ begann 1933 auch eine bluesige Ballade für den Cotton Club. Doch in der 22. Revue wurde statt Calloway überraschend das Orchester von Duke Ellington verpflichtet und der Song fiel in der Show an Ethel Waters. Arlen nahm zwei Monate vor der Premiere den Song selbst auf, was die beste Werbung für die Show war. Waters, die gerade in einer persönlichen Krise steckte, fand ihre Gefühle im melancholischen Ton dieser Blues-Gospel-Ballade wieder und machte „Stormy Weather“ zum populärsten Song in New York. Gershwin hörte ihn schon 1934 in Charleston (South Carolina) als angeblichen schwarzen Folksong. Lena Horne sang ihn 1943 im Film, alle großen Jazzsängerinnen haben ihn aufgenommen, selbst Charles Mingus spielte ihn oft. OVER THE RAINBOW. 1933 wurde Arlen (noch mit Koehler) erstmals nach Hollywood verpflichtet: Sie lieferten sechs Songs für einen Film, nur drei wurden verwendet – das war die erste Hollywood-Lektion. Dennoch gingen New Yorks Songwriter ab 1935 reihenweise nach Hollywood, das die Musikverlage aufgekauft hatte und Musicalfilme produzierte. Man sprach von einem zweiten kalifornischen „gold rush“. Nach rund 30 Songs für verschiedene B-Movies war für Arlen der Märchenfilm „The Wizard Of Oz“ (1939) die erste wichtige Filmproduktion. Am Ende fehlte ihm noch eine große, ausschwingende Melodie für die Hauptdarstellerin, den Kinderstar Judy Garland. Auf der Autofahrt zu einer Theater-Matinee fiel ihm eine passende Melodie ein – aus heiterem Himmel: mit einem Oktavsprung am Anfang des A-Teils, zu dem er einen B-Teil schrieb, der an eine Kinderklavierübung (oder eine Hundepfeife) erinnert. Seinem Texter Yip Harburg war die Melodie zunächst zu bombastisch, dem Musikverlag gefiel sie auch nicht und das Studio wollte die Szene mit dem Song aus dramaturgischen Gründen herausschneiden. Fast wäre „Over The Rainbow“ in der Vergessenheit versunken – der Song, der 1939 den Oscar holte, im Jahr 2000 zum Song des Jahrhunderts gewählt wurde und einer der meistgespielten Jazz-Standards ist. (Es folgten für Arlen noch acht weitere Oscar-Nominierungen.) BLUES IN THE NIGHT. Warner Brothers plante 1941 einen Film über Jazzmusiker und suchte nach dem idealen Songwriter-Team. Man fand Harold Arlen und Johnny Mercer, zwei professionelle Sänger und Jazzfans. „Wir kamen nicht aus derselben Gegend oder so“, meinte Mercer, „aber wir hatten beide diese Schwäche für Jazz und Blues.“ Mercer, der Südstaatler, besaß ein besonderes Talent für den originellen Umgang mit afroamerikanischem Slang. Der Film sollte zunächst „New Orleans Blues“ heißen, dann „Hot Nocturne“. Was noch fehlte, war ein Blues-Song, den ein schwarzer Häftling im Gefängnis singen sollte. Arlen schnappte sich W.C. Handys Blues-Sammlung, ging eineinhalb Tage in Klausur und schrieb seinen einzigen echten Blues: „Blues In The Night“. Das waren aber nicht nur 12 Takte, sondern dreimal 12 mit Zwischenteilen von 2, 4 und 8 Takten – „so viel melodische Struktur wie vier Standard-Songs“, so Will Friedwald. Aus Mercers Textentwürfen pickte Arlen zielsicher den richtigen Songanfang heraus: „My momma done told me...“. Natürlich hieß der Film dann nach dem Song, der bei Bigbands und Bluessängern ein Hit wurde. CodaWas Melodien anging, glaubte Arlen fast religiös an das Mysterium der Inspiration, den wundersamen Zufall, die ungesuchte, einfach herbeifliegende Phrase. Er sammelte Einfälle von ein, zwei Takten (er nannte sie „jots“ = Fünkchen) und griff auf sie zurück, wenn er einen Song komponieren sollte. Das „Fünkchen“ zu „Sweet And Hot“ (1931) war eine Figur, die er bei einem Trompeter in Harlem aufgegriffen hatte. Ein fast übernatürliches „Geschenk von oben“ war der Song „Last Night When We Were Young“, 1935 geschrieben für einen Film, aber dort nicht verwendet. Gershwin fand den Song „zu kompliziert“, aber Judy Garland machte ihn 1950 berühmt. Und Alec Wilder schreibt: „Wenn du einmal die Sinatra-Version gehört hast, kannst du dir keinen anderen Interpreten mehr vorstellen.“ Arlen hielt den Song für seinen besten. Wenn er mit seinen „jots“ jonglierte, wurde Arlen zum manischen Perfektionisten. „Er verwarf ständig Dinge“, erzählt Yip Harburg. „Er hatte Angst, irgendetwas zu benutzen, das an etwas schon Vorhandenes erinnerte. Er konnte an einer Phrase wochenlang arbeiten und dabei mit der Geduld eines Schachmeisters jede musikalische Möglichkeit erforschen.“ Dabei kontrollierte Arlen seine Arbeit durch eigene Tonmitschnitte. Hatte er etwas Brauchbares gebastelt, nannte er es einen „possible song“ und präsentierte es seinem Texter. Auf die symmetrische Regelform von 32 Takten achtete er dabei nicht: In diesem Punkt war er „mehr Komponist als Songwriter“, wie André Previn einmal meinte. „Stormy Weather“ hat 36 Takte, „My Shining Hour“ 37, „Ill Wind“ 40, „Blues In The Night“ 58, „One For My Baby“ 61, „That Old Black Magic“ sogar 72. Arlen nannte diese ausufernden Chorusse seine „tapeworms“, Bandwürmer. Als spezieller Arlen-Touch gilt der Oktavsprung in der Melodie, den er erstmals 1930 im Song „Linda“ verwendete. „Stormy Weather“ hat ihn, „Over The Rainbow“ ebenso und viele andere Songs. Das Typischste aber waren immer die bluesigen Ziernoten (Arlen nannte sie „hickeys“) und die Blues-, Boogie- und Stride-Figuren in der Klavierbegleitung, die den Songs das erdige Feeling vorgaben. Mit Johnny Mercer schrieb Arlen Songs für sechs Filme (1941-1950), u.a. mit Bing Crosby und Fred Astaire, außerdem für zwei Bühnenshows. Aus diesen Kooperationen stammen zum Beispiel „My Shining Hour“, „That Old Black Magic“ und „Come Rain Or Come Shine“, die unter modernen Jazzmusikern enorm populär wurden. Daneben arbeitete er weiterhin mit den Textern Ted Koehler und Yip Harburg, aber auch mit Leo Robin, Ralph Blane, Dorothy Fields, Ira Gershwin und sogar Truman Capote. Die Aufträge in Hollywood wurden ab 1948 deutlich weniger und schlechter. Zunächst bedrohte die Konkurrenz des aufkommenden Fernsehens die Budgets der Filmstudios, dann verdrängten Rock’n’Roll und Beatmusik die herkömmlichen Filmmusicals. Für Arlen blieben nur Filme mit „exotischem“ Hintergrund: Karibik, Südsee, Palmen, Inseln, Calypso. Seine großen Filmsongs aus den Fünfzigern, etwa „The Man That Got Away“ und „Dissertation On The State Of Bliss“, beide von Ira Gershwin getextet, wurden von der Jazzwelt ignoriert. Die letzte Hollywood-Produktion mit neuen Arlen-Songs war ein Zeichentrickfilm: „Gay Purr-ee“ von 1962. Bereits 1944 begann Arlen, wieder Richtung Ostküste zu schauen. Nach den Songs für den Film „Cabin In The Sky“ (1943), bei dem nur afroamerikanische Darsteller mitwirkten (darunter Ethel Waters, Lena Horne, Louis Armstrong), wurde das schwarze Amerika nun auch in Broadway-Musicals zum Thema: Arlen komponierte für „St. Louis Woman“ (1946), ein Musical nach einem Roman aus der Harlem Renaissance. Fast reumütig bekannte er sich zum Broadway – doch auch hier wartete nicht mehr das Glück. Die „schwarzen“ Musicals spielten bald auch in der Karibik, die Produktionen litten unterm Einfluss vieler Köche oder wurden zur reinen Staffage für Star-Sängerinnen (Pearl Bailey, Lena Horne). „Jamaica“ (1957) mit 17 neuen Songs von Arlen und Harburg war sein letzter Broadway-Erfolg – eine Produktion allerdings, deren Qualität die Songwriter verzweifeln ließ. Arlens Blues-Oper „Free and Easy“ (auf der Basis von „St. Louis Woman“) startete in Europa und kam nie bis New York. Vor der Premiere von „Saratoga“ (1959) floh Arlen aus Frust ins Krankenhaus. 1966 schrieb er noch einmal 20 Songs für ein Musical – es wurde nie produziert. 9 neue Songs schrieb er 1968 für eine Neuauflage von „House Of Flowers“ (Buch: Truman Capote) – es war ein Flop. 8 neue Songs schrieb er 1973 für ein Fernsehmusical – es kam nie zustande. Nach dem Tod seiner Frau Anya suchte Arlen von 1969 bis 1975 Ablenkung als Funktionär der Komponisten-Organisation ASCAP – eine denkbar ungeeignete Beschäftigung für ihn. Die Entwicklungen in Showbusiness und Weltpolitik machten ihn zunehmend resigniert. Er ließ sich im Alter einen Vollbart wachsen, trug dunkle Brillengläser, wirkte wie ein weltentrückter Rabbiner und mied die Menschen. Dazu kam eine Parkinson-Erkrankung, verbunden mit Halluzinationen und der Notwendigkeit, einen Rollstuhl zu benutzen. Zwischen 1973 und 1983 starben all seine langjährigen Freunde: Ted Koehler, Johnny Mercer, Yip Harburg, Harry Warren, Ira Gershwin. Eine Ära war unwiderruflich zu Ende. 20 Jazz-Standards von Harold Arlen Mit Ted Koehler: Mit Yip Harburg: Mit Johnny Mercer: Mit Truman Capote:
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