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Jazzzeitung

2010/03 ::: seite 22-23

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Inhalt 2010/03

Inhaltsverzeichnis

STANDARDS

Editorial / break / Nachrichten aus der Jazzszene / kurz, aber wichtig Jazzlexikon: Naomi Susan Isaacs Farewell: Herb Ellis / Lena Horne


TITEL -
Stimm-Recht
Bobby McFerrin, Michael Schiefel, Theo Bleckmann & Co


DOSSIER -
Der Spaziergänger von Hollywood
Der Komponist Harold Arlen


Berichte

Jazz ECHO-Verleihung in Bochum // Internationale Jazzwoche Burghausen 2010 // Jazzahead 2010 // Tim Allhoff Trio erhält Neuen Deutschen Jazzpreis // Sylvie Courvoisier und Mark Feldman im Théatre Vidy in Lausanne // Schweizer Trio Rusconi nähert sich dem wilden Punk-Rock von Sonic Youth


Portraits

Martin Kälberer // Jacques Loussier // Charlie Parker // Lisa Wahlandt


Jazz heute und Education
Das Groove Research Institute Berlin // In Münchens Jazzszene etablieren sich neue Spielorte // Festivals in Frankreich: Blick ins Paradies? // Abgehört: Kurt Ellings Verse über ein Solo von Dexter Gordon

Rezensionen und mehr im Inhaltsverzeichnis

Aber die Kunst kennt keine Grenze

Zum 90. Geburtstag des Bebop-Genies Charlie Parker

„Er war ein natürliches Genie. Ich denke, auch wenn er Klempner geworden wäre, hätte er Herausragendes geleistet,“ urteilte der Altsaxophonist Gigi Gryce über seinen Kollegen und Freund. Zum Glück wurde Charlie „Bird“ Parker nicht Klempner, sondern Saxophonist und Mitbegründer des Bebop: die einflussreichste Persönlichkeit des Modern Jazz, Schöpfer, Impulsgeber und Ahnherr vieler wichtiger Entwicklungen im Jazz seit dem Zweiten Weltkrieg. Am offensichtlichsten ist sein Wirken auf jüngere Altsaxophonisten, denn der Virtuose legte die Grundlage für die wichtigsten Altsaxophonisten späterer Stile: Lee Konitz im Cool Jazz, Cannonball Adderley im Hardbop, Ornette Coleman im Free Jazz, setzten die Jazzgeschichte auf der Grundlage des von „Bird“ gelegten Fundaments fort. In Wahrheit wirkte er aber auf nahezu alle Instrumentalisten, Vokalisten, Komponisten des modernen Jazz, sogar auf die Vertreter älterer Stile, auf Pop-, und so genannte E-Musik.

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Parker erblickt am 28. August 1920 in Kansas City das Licht der Welt, einem wichtigen Jazz-Zentrum der frühen Swing-Ära und Objekt einer lebenslang gehegten Hassliebe. Einen Halt erfährt er in seiner Kindheit nicht. Sein Vater und sein Halbbruder verlassen seine Mutter und ihn, als er noch ein Kind ist. Seine Mutter, deren einzige Stütze er ist, verhätschelt ihn, kauft ihm ein Saxophon, ist aber doch nicht in angemessener Weise für ihn da. Als sie einen Nachtjob annimmt, stürzt er sich heimlich ins Nachtleben und nimmt Teil an den legendären nächtelangen Jam Sessions von Kansas City - eine harte Schule des Jazz und eine Art Männlichkeitsritual zugleich, in denen Können erprobt wird und Versager gnadenlos ausgemustert werden. So geht es auch Charlie Parker, der schon mit 15 Jahren Berufsmusiker wird, zu dieser Zeit noch nicht aus Berufung, sondern weil er sich beweisen muss und Musik in der Luft ist. In regionalen Bands (Tommy Douglas, George Ewing Lee, Harlan Leonard) verdient er sich seine ersten Sporen. Anfangs wird er noch wegen seiner technischen Unbeholfenheit verspottet, so als er bei einer Session versucht, „Body and Soul“ im doppelten Tempo zu spielen: „Alle fielen vor Lachen fast vom Stuhl. Ich ging nach Hause und weinte und spielte drei Monate lang keinen Ton.“ Der Schlagzeuger Jo Jones wirft sogar ein Becken in seine Richtung, um den Stümper zum Schweigen zu bringen. Doch mit zähem Fleiß kann sich Parker emporarbeiten. Er findet auch Unterstützung, zum Beispiel bei dem Saxophonisten Buster Smith, der sein Mentor, ja eine Art Ersatzvater wird. Vom Drang erfüllt, von seiner Lebenssituation loszukommen, reist er unter anderem nach Chicago (wo er drei Monate als Tellerwäscher arbeitet, um im Lokal den großen Art Tatum zu hören) und New York, flieht aber auch in die Scheinwelt der Droge. Er ist 19 Jahre alt und heroinabhängig, als sein Vater von einer Prostituierten erstochen wird und Parker, dem nie ein glückliches Familienleben vorgelebt wurde, sich seinerseits von Frau und Kind trennt. Weitere glücklose Ehen sollten folgen.

Der junge Charlie Parker macht also familiär und beruflich extrem widersprüchliche Erfahrungen: Bewunderung, Liebe auf der einen, Ablehnung, Verlassenheit auf der anderen Seite. Wie ein Leitmotiv wird sich dies durch sein Leben ziehen: In einer Gesellschaft, die ihm nicht zugesteht, mit Weißen am gleichen Tisch zu sitzen, wird er eine Mischehe führen und viele weiße Bewunderer haben. Er wird Auftrittsverbot im nach ihm benannten „Birdland“ erhalten. Er wird zusehen, wie eine ganze Branche von seinen musikalischen Errungenschaften lebt, er selbst aber schlecht entlohnt wird. Entsprechend widersprüchlich ist das Charakterbild des Mannes. Die verwirrenden Zeitzeugenberichte schildern einen Menschen von schier unbegrenzten Eigenschaften, der weise oder verrückt, verantwortungslos oder verantwortungsvoll, liebenswürdig oder widerlich war. Einig sind sich alle nur über sein Genie.

Dies erkannte man spätestens, als er mit 20 beim Pianisten und Bandleader Jay McShann spielte, mit dem er Aufnahmen machte. Schon mit diesen, nicht erst mit den reifen Bebop-Aufnahmen, beginnt die Obsession der Kollegen, Birds Soli nachzuspielen, seinen Stil zu kopieren. 1950 konnte Lennie Tristano feststellen: „Wenn Parker sich um Urheberrechtsgesetze kümmern würde, könnte er beinahe jeden belangen, der eine Schallplatte während der letzten zehn Jahre aufnahm.“ Parkers Aufnahmen mit McShann offenbaren die Tradition des Kansas City Swing, der Parker entwächst. Ihre Bedeutung wird gegenüber den reifen Bebop-Aufnahmen meist übersehen, dabei haben schon Parkers erste Soli wie ein Schock gewirkt. Parker selbst fand sie „antiquiert“ und gefiel sich „überhaupt nicht“ auf dem 1942-er „Sepian Bounce“ der Jay McShann-Band. Nur sechs Jahre lagen zwischen der Aufnahme und seiner Beurteilung – Jahre, in denen Bird die Musikgeschichte melodisch, harmonisch, rhythmisch umkrempelte. Auch aus heutiger Sicht fällt es nicht leicht, in diesen Aufnahmen mehr als erstklassigen Kansas City-Swing in typisch bluesig-erdiger, an Basie erinnernder Machart zu hören. Es ist der richtige Rahmen für einen Saxophonisten mit der Musizierhaltung von Basies innovativem Tenoristen Lester „Prez“ Young. Wie sehr Bird die reine Lehre Prez’ absorbiert hatte, zeigt schon das moll-bluesartige „Swingmatism“ (1941), die älteste zu seinen Lebzeiten erhältliche Aufnahme mit einem Parker-Solo. „Prezischer“ klang damals, in der Zeit des eleganten Benny Carter, des süßliche Johnny Hodges, des erdigen Earle Warren und des bebenden Willie Smith, kaum ein Altist. Fast jeder Altist hatte einen kräftigeren Ton und gebrauchte mehr Vibrato als Charlie Parker. Er spielte leise, verhalten und mit Ebenmaß und Linienführung à la Young, wenn auch nervöser. Kombinierte man Parkers Sound der McShann-Jahre mit Phrasierung und harmonischer Auffassung der Reife, könnte es als Cool Jazz durchgehen. Um 1950 verwendete man dann den Begriff Cool Jazz gelegentlich als Synonym für Bebop. Der Mitschöpfer des Bebop war eben auch Ahnherr des Cool Jazz.

Spuren einer coolen Auffassung lassen sich etwa bis zur „Yardbird Suite“ (1946) feststellen. Sein Sound blieb danach noch vibratoarm, doch wurde er lauter, härter. Bei relativer klanglicher Nüchternheit wurde Birds Spiel zunehmend dramatischer, bisweilen sogar mit tragischen Zügen. Swing-Freunde ver-glichen den unsüßlichen, kompromisslos antisentimentalen Ton mit dem einer Gießkanne. Von Parkers Sound führen Wege in gegensätzliche Richtungen, zum zarten dünnen Ton des jungen Lee Konitz ebenso wie zum beißend scharfen Sound Jackie McLeans, um nur zwei Altisten zu nennen, die von Parkers Zuspruch profitierten.

In New York stößt Charlie Parker zum Kreis um den Trompeter Dizzy Gillespie, den Pianisten Thelonious Monk und den Drummer Kenny Clarke. Bei ihren „experimentellen“ Sessions, vor allem in Minton‘s Playhouse, entsteht, was man bald lautmalerisch Bebop nennt. Allein die Tatsache, dass sie unabhängig von Parker zu einer ähnlichen Tonsprache kamen, belegt, dass der Bebop nicht „erfunden“ wird. Der erste moderne Jazz-Stil ist eine folgerichtige, notwendige Konsequenz aus der bisherigen musikalischen Entwicklung, weniger das Resultat einer bewussten Willensanstrengung. Trotzdem wird es so wahrgenommen, trauen doch die meisten Kollegen ihren Sinnen nicht, wenn sie erstmals mit Parkers hochvirtuosem spannungsvollen Spiel konfrontiert sind. So reißt Ben Webster einmal Charlie Parker das Saxophon aus der Hand, mit den Worten „Auf diesem Horn darf man nicht so viele Töne spielen“. Anschließend verbreitet er überall in New York die Kunde, ein junger Bursche werde die Jazzwelt auf den Kopf stellen.

Bebop ist zunächst eine Combo-Musik, vorangetrieben von den Dioskuren Parker und Gillespie, die zunächst Mitglieder der im Swing verwurzelten Orchester von Earl Hines und Billy Eckstine sind, denen auch viele Innovatoren angehören. „Bird darf das Verdienst für sich in Anspruch nehmen, die Sachen zum erstenmal gespielt zu haben. Dizzy hat es dann zu Papier gebracht… Alles was er tat, war so spontan und unbewusst, dass er selbst es oft gar nicht merkte, wenn er einmal wieder ein klassisches Meisterwerk geschaffen hatte. Dizzy hingegen wusste genau, was er tat“, erklärte einmal Eckstine. Deswegen konnte es Bird sich auch leisten, mit aufgeblasenen Backen zu schlafen, so dass es aussah, als ob er spielte. Wurde er wachgerüttelt, spielte er sein Solo ja doch mit traumwandlerischer Sicherheit. Wegen eines Schallplattenstreiks, der 1942 bis 1943, zum Teil sogar 1944 währt, nimmt die Öffentlichkeit die Wende vom Swing zum Bebop kaum wahr. Die Evolution wird als Revolution missverstanden, als ab 1944 die ersten Platten des Bebop aufgenommen werden, der erst in den Aufnahmen Gillespies mit Parker 1945 (darunter „Hot House“) sein vollgültiges Gepräge als neue Musikrichtung mit ganz eigenen Spielregeln aufweist. Vor allem sein oft rasendes Spieltempo, seine ungewohnte Melodik und seine unruhige Rhythmik wirken wie ein Schock. Publikum und einige Kritiker sind überzeugt, dass Bebop kein Jazz sei, ja halten ihn für Anti-Musik. Der Jazz, bislang weitgehend nur als Tanz- und Unterhaltungsmusik konsumiert, auch dort, wo es den Musikern selbst um substanzielle künstlerische Aussagen ging, fällt als Avantgarde erstmals aus seiner traditionellen Einbettung in die Welt des Entertainment heraus. Mit Pokerface und seriösem Gebaren, die im Gegensatz zur offen gezeigten Lebensfreude der Swing-Musiker stehen, fordern die überwiegend schwarzen Bebopper den Respekt für ihre Rasse ein, den die Dienstboten in den Hollywood-Komödien mit ihrer augenrollenden Ängstlichkeit wohl kaum erringen konnten. Wo die Musik aber für Tänzer ungeeignet ist und Besucher beliebte Songs, so sie überhaupt auf dem Programm stehen, nicht mehr erkennen können, schwinden Arbeitsmöglichkeiten.

Charlie Parker, der mit größerer Autorität als jeder andere in der Sprache des Bebop improvisierte und damit einen Großteil seines Vokabulars schuf, fand zu wenig Anerkennung in der Öffentlichkeit. Wenn diese Bebop überhaupt zur Kenntnis nahm, huldigte sie lieber Dizzy Gillespie, der als begnadeter Spaßmacher Publikumsliebling wurde, während Parker strikt jede Form gängigen Entertainments verweigerte. Im Gegensatz zu Gillespie war er eine schwierige, oft unberechenbare Persönlichkeit: nie konnte man wissen, ob Bird sein Saxophon versetzt hatte oder um Stunden zu spät oder überhaupt zum Auftritt erschien. Engagierte man schon Bebopper, dann lieber verlässliche, wenn auch zweitrangige. Von jüngeren Talenten wurde er aber abgöttisch verehrt. Im Glauben, im Konsum stimulierender Substanzen läge der Schlüssel zu seiner ungeheuren Kreativität, imitierten manche nicht nur seine Musik, sondern leider auch seine Lebensgewohnheiten. Dabei ignorierten sie seine Warnungen: „Jeder Musiker, der sagt, dass er besser spielt, wenn er Marihuana raucht, Morphium spritzt oder säuft, ist ein ganz gemeiner Lügner…. So kann man die wichtigsten Jahre seines Lebens verpassen, die Jahre, in denen man sich möglicherweise schöpferisch entfaltet hätte.“

Birds Schaffen führt in den Jahren 1945 bis 1948, in denen Gillespie übrigens den großorchestralen Bebop durchsetzt, den Kleingruppen-Bebop zu voller Reife, als er für die Marken Savoy und Dial aufnimmt, darunter Parker-Kompositionen wie „Koko“, „Parker’s Mood“, „Now’s The Time“ und „Moose The Mooche“. Bei der Wahl der Sidemen zeigt der Bandleader sicheres Gespür für geniale Begabungen. Darunter sind der Nachwuchstrompeter Miles Davis, der mit seiner „coolen“ Konzeption zum quirligen, virtuosen Spiel seines Entdeckers kontrastiert, der Pianist Bud Powell, der Parkers Innovationen auf das Klavier überträgt und John Lewis, der spätere Leiter des „Modern Jazz Quartet“.

Diese Aufnahmen sind die Formmodelle des Bebop und machen das Quintett aus Trompete, Saxophon, Klavier, Bass und Schlagzeug zur Standard-Besetzung. Die Themen werden meist von den Bläsern parallel oder in Oktavabstand zu Beginn und zum Schluss des Stückes vorgestellt. Dazwischen improvisieren die Solisten große Virtuosität erfordernde Soli, insbesondere schnelle melodische Phrasen aus Achtel- und Sechzehntelketten und Triolen mit überraschenden Betonungen. Rhythmisch wird die Ablösung des Viertelnotenbeat durch den Achtelnotenbeat vollzogen. Die im Swing herrschende Harmonik wird wesentlich erweitert. In dieser Hinsicht nähert sich der Bebop dem in der modernen Konzertmusik erreichten Materialstand. Heute schwer vorzustellen: Die so selbstverständliche, logisch aufgebaute Musik war ihrer Zeit so weit voraus, dass selbst viele Musiker anfangs nicht erkennen konnten, an welcher Stelle ein Solo zu enden und ein anderes zu beginnen hatte.

In der Bebop-Ära waren viele Musiker der auf unzähligen Jam Sessions ständig gespielten Standards überdrüssig. Also begannen sie – allen voran Charlie Parker –, die Originale zu reharmonisieren und über die bewährten Changes neue und wesentlich abenteuerlichere Melodien zu errichten. Parker, der oft verspätet zu Konzerten und Plattensitzungen erschien und oft in letzter Minute das Material dafür aufschrieb, konnte so auch sicher gehen, dass die beteiligten Musiker wenigstens nicht über ungewohnte Akkordfolgen stolperten. Am liebsten verwendete Parker für seine Themen, wenn es sich nicht um Blues handelte, die Changes von Gershwins „I Got Rhythm“.

Nach einem Gastspiel mit Dizzy Gillespie an der Westküste, das den Bebop auch in Kalifornien etablierte, kommt es zu einer Zäsur in seiner Laufbahn. Während der Aufnahmesitzung in den Dial-Studios von Hollywood, bei denen eine emotional bewegende, wenn auch unperfekte Version von „Loverman“ entsteht, erlebt er 1946 einen Nervenzusammenbruch: Parker verursacht in seinem Hotel einen Brand, läuft nackt auf die Straße und muss sieben Monate im Camarillo State Hospital verbringen, dem er später die Komposition „Relaxin’ At Camarillo“ widmet.

In den späten 40-er Jahren spielt er wieder überwiegend im Big Apple, wo 1949 das Jazzlokal „Birdland“ nach ihm benannt wird. Die Jahre 1949 und 1950 bringen für Parker große Auslandserfolge in Paris und in Schweden. Von dieser Zeit an werden alle wichtigen Studioaufnahmen von Norman Granz produziert, dem Gründer der Marke Verve. Es ist sein Verdienst, Parker, der zuvor nur in reinen Bebop-Gruppen zu hören war, in immer wieder neuen Zusammenhängen präsentiert zu haben, etwa in „Jazz at the Philharmonic“ – Konzerten mit Swing-Veteranen, mit lateinamerikanischen Gruppen oder (wie „Just Friends“, sein größter Erfolg zu Lebzeiten) mit Streichergruppen.

Er ist berühmt in den 50er-Jahren, sein Wort hat Gewicht, doch das kann den Menschen, der versucht sich die Drogen durch Alkohol entziehen, nicht mehr retten. Vom Tod seiner Tochter schwer bedrückt, übersteht Charlie Parker einen Selbstmordversuch, nicht aber den physischen Verfall. Als der 34-Jährige am 12. März 1955 schwerkrank im Apartment der Jazzgönnerin Nica de Koenigswarter verstirbt, ist sein Körper so zerstört, dass der Leichnam von den Ärzten auf 54 Jahre geschätzt wird. Doch an den Wänden von N.Y. verbreitet sich die Parole „Bird lives“, und sie trifft bis heute zu. Die Musik Charlie Parkers lebt nicht nur dort weiter, wo seine Kompositionen gespielt werden, heute gespielter Jazz wäre ohne seinen direkten oder indirekten Einfluss kaum denkbar.

Seine Sonderstellung verdankt sich vor allem der Genialität seiner Improvisationen. Als Solist zeichnete „Bird“ eine seltsame Kombination aus glühender Intensität und vogelflugartiger Leichtigkeit aus. In der Tat schwang sich Parker auf dem Altsaxophon in moderne Lüfte hinauf und flog dort rasend dahin wie ein ebenso stürmischer wie zielsicherer Vogel. Der Spitzname des Komponisten von „Ornithology“ (Vogelkunde) passte also, ungeachtet seiner prosaischen Herkunft: Entstanden ist „Bird (oder „Yardbird“) nämlich, als bei einer Autofahrt versehentlich ein Huhn totgefahren wurde. Der ewig hungrige Parker forderte den Fahrer auf zurückzufahren, hob den Vogel von der Straße und ließ ihn später zubereiten.

Die Entwicklung seiner verblüffenden Improvisationskunst lässt sich trotz der Kürze seiner Aufnahmetätigkeit, die auch noch durch zwei ausgedehnte Aufnahmestreiks unterbrochen wurde, an unzähligen Einspielungen verfolgen. Neben den seinerzeit veröffentlichten Platten, die gleich nach Erscheinen von jungen Musikern auf kopierbare Elemente untersucht wurden, existieren zahlreiche posthum veröffentlichte Live-Aufnahmen, die zum Teil noch wagemutigere und ausgedehntere Improvisationen aufweisen als sie unter Studiobedingungen möglich waren. Einige sind Rundfunkmitschnitte, andere verdanken sich Fans, die, wie Vince Benedetti, Birds Auftritte privat mitschnitten und dies sogar heimlich, wenn es ihnen verboten wurde. In der Tat sind solche Dokumente tagtäglich vollbrachter Leistungen nicht weniger staunenswert als die Plattenprojekte. Ein willkürliches Beispiel ist ein privat mitgeschnittenes Konzert im Washington des Jahres 1953: Da erscheint Parker als Überraschungsgast einer regionalen Big band, mit der er nicht geprobt hat. Er übernimmt alle Soloparts, weiß aber während des Auftritts nicht, welche Stücke, (darunter ganz unbekannte) gespielt werden. Bird hat keine Noten, ja nicht einmal sein gewöhnliches, wieder einmal versetztes Instrument. Er spielt – man merkt den Unterschied nicht - auf einem Plastik-Saxophon! Trotz augenblicklicher Tonartwechsel und andrer unangemeldeter Details der ihm unbekannten Arrangements findet sich Parker, beeindruckend improvisierend, mit einer ans Wunderbare grenzenden Intuition zurecht.

Wer neugierig Parkers Aufnahmen lauscht, wird feststellen, dass seine Improvisationsweise in ihren Grundzügen etwa ab 1946 feststeht. Man kann zwar Entwicklungstendenzen feststellen (größere harmonische „Freizügigkeiten“ und häufigere hohe Lagen im Spätwerk) sowie momentane Schwankungen in der Stimmung und – drogenbedingt – bisweilen in der Qualität oder wechselnde Vorlieben für bestimmte Zitate, die er meisterlich, oft treffend zu einem bestimmten äußeren Anlass wie eine Geheimbotschaft einflocht. Nichts davon ändert aber etwas an der Grundsubstanz seiner Spielweise.

„Sein Beitrag zu unserer Musik war hauptsächlich Melodie, Akzente und bluesige Interpretation,“ meinte Dizzy Gillespie. Vielleicht hatte er damit recht, dass Parkers persönlicher Beitrag zur Syntax des Bebop in seiner unübertrefflichen Artikulation und Phrasierung bestanden habe. Oft waren Parkers Phrasen asymmetrisch gestaltet, voll überraschender Akzente und standen im Kontrast zum Geschehen in der Rhythmusgruppe. Verglichen mit ihm improvisierten viele andere Bebop-Musiker, auch herausragende wie der so oft mit ihm verglichene Altist Sonny Stitt, der angeblich selbständig zu einem sehr ähnlichen Stil gefunden hatte, viel ebenmäßiger und vorhersehbarer.

Zu seiner für den Bebop wegweisenden harmonischen Auffassung kam Parker, als er 1939 über „Cherokee“ improvisierte. Da merkte Parker, dass er, „all das, was ich gehört hatte, auch spielen konnte, wenn ich die höheren Intervalle eines Akkordes als Melodielinie benutzte und dieser neuen Melodie auch neue, sinnvoll abgeleitete Akkordfolgen unterlegte. Da wurde ich lebendig.“

Damit meinte Parker Intervalle wie None, Undezime und Tredizime, die dann Bedeutung in der Harmonik des Jazz erhielten – und in der Melodik von Parkers Improvisationen, denn Parkers Melodien, so Parker-Biograph Peter Niklas Wilson, „sind harmonisch ungewöhnlich schlüssig, sind quasi linearisierte Harmoniefolgen.“ Neben der beschriebenen Addition spielte die Alteration von Intervallen eine große Rolle, was den Zeitgenossen vor allem an der Häufigkeit des Tritonus im Bebop auffiel. Als Komponist bereicherte Parker gängige Harmoniegerüste durch Zwischenharmonien, doch als Solist tat er ähnliches: Oft kam es in seinem Spiel zu harmonisch-melodischen Wendungen, die im spannungsreichen Kontrast zu den von der Rhythmusgruppe vorgegebenen Akkordfolgen standen, sie etwa antizipierten, um Zwischenstufen ergänzte noder glatt negierten.

Charakteristisch für Parkers Melodik war ein häufiges Zurückgreifen auf standardisierte melodische Floskeln, die meist immer wieder in bestimmten Zusammenhängen erklangen und die zu typischen Bebop-Klischees wurden. Daran ist nichts Negatives. „Lebendige, kommunikative Musik ist ohne Klischees nicht möglich“, schrieb Joachim E. Berendt einmal. „Fast immer sind es Klischees, die die Emotionen auslösen.“ Trotz seiner Neigung zu diesen ohnehin meist selbstgeschaffenen Mustern (sowie seiner Vorliebe für Zitate) waren Parkers Soli überraschend. Lennie Tristano hat diese Baustein-Technik mit einem Puzzle verglichen, „das auf Hunderte von Arten zusammengesetzt werden kann und dabei jedes Mal ein klar umrissenes Bild hervorbringt, das seinem allgemeinen Charakter nach von dem aller anderen möglichen Bilder abweicht.“ Er erwähnt auch, Parker sei schon 1949 überzeugt gewesen, die Möglichkeiten seines Personalstils voll ausgelotet zu haben.

Das von Parker geschaffene Repertoire an melodischen Floskeln, harmonischen Wendungen galt als so maßgeblich, dass es noch zu seinen Lebzeiten und in den ersten Jahren nach seinem Tod wie ein Sakrileg wirkte, wenn man zu sehr davon abrückte. Heute noch gehört es zum Rüstzeug einer zunehmenden Akademisierung der Jazz-Ausbildung. Dabei wollte Charlie Parker mit seinem Individualstil keineswegs das Vokabular des modernen Jazz kodifizieren oder nur die Sprache des Saxophons lexikalisieren.

Dies belegen auch seine Worte: „Musik ist deine Erfahrung, sind deine Gedanken, ist deine Weisheit. Wenn du es nicht lebst, kommt es nicht aus deinem Horn. Sie wollen dir weismachen, das Reich der Kunst sei von einer Grenze umgeben, aber, Menschenskind, die Kunst hat keine Grenze.“

Marcus A. Woelfle

(Der Artikel ist eine Neufassung von Woelfles Buchbeitrag „Charlie Parker“ in Peter Niklas Wilson (hg): „Jazz-Klassiker“. Reclam: Stuttgart 2005)

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