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„Die Lust am Rekord ist eine menschliche Eigenschaft, ähnlich wie das Interesse am Extremen. Ein Verlangen, über das hinauszugehen, was ist“, philosophierte Leszek Kolakowski in „Neue Mini-Traktate über Maxi-Themen“. Und deshalb schmücken sich Festivals und Messen wie die Jazzahead, die vom 22. bis 25. April 2010 zum vierten Mal stattfand, gerne mit Meldungen über Rekorde, dass nämlich 276 Aussteller aus 23 Nationen sowie 33 gut besuchte Konzerte und weitere Veranstaltungen die Bilanz vom Jahr davor übertroffen haben. Der Erfolg der Jazzahead ergibt sich offenbar daraus, dass bestimmte
Themen sowohl in Konzerten als auch in ergänzenden Fachdiskussionen
präsent waren, etwa Diversität und Qualität: „Es
ist kaum zu fassen, welche Stilvielfalt unter dem Label Jazz existiert“,
meinte Uli Beckerhoff, künstlerischer Leiter der Jazzahead, als
er die Band Kouyaté-Neerman aus Frankreich ankündigte. Nun,
das Quartett hat zwar mit Lansiné Kouyaté (Balafon), David
Neerman (Vibrafon), Clément Landais (Bass) und David Aknin (Drums)
eine ungewöhnliche Konstellation, und der knallige Afro-Groove begeisterte
auch sofort das Publikum im ausgelasteten Schlachthof. Aber Jazz ist
seit je eine kultur- und stilsynthetische Musik. Insofern hat Uli Beckerhoff
kein Novum beschrieben, sondern den Blick auf die ständige Erweiterung
der Facetten im Jazz gelenkt. Lyrische Klavierstilistik wie beim Eve
Beuvens Trio kontrastierte wirkungsvoll die virtuosen Improvisationen
vom Bosso-Salis Duo, ein anarchisches Vabanquespiel mit Antonello Salis
am Klavier, dessen Klänge er mit einer Sammlung von Kücheninventar
ad absurdum führte, während Fabrizio Bosso an der Trompete
populäre Melodiefetzen schier endlos variierte und durch elektronische
Geräte verfremdete. Eine verblüffende Demonstration avancierter
Spieltechniken und spontaner Freude, doch mit welchem ästhetischen
Konzept? Erdiger Jazzrock kam vom stilistisch klaren Arne Jansen Trio mit dem pikanten Vexierklang von elektrischer Gitarre und akustischem Kontrabass. Michael Wollny fand einen Weg, melodische Klavier-improvisationen und die motorischen Cembalomäander von Tamar Halperin als Kammerjazz zu verbinden. Eine Mischung, die das Publikum begeisterte. Doch es gab auch ambivalente Reaktionen. Nämlich beim Konzert von Gitarrenmaestro John McLaughlin und seiner 4th Dimension. Eine noble Geste war, dass John McLaughlin, dieses Jahr in Bremen mit dem Škoda Award ausgezeichnet, den Geldpreis an ein musiktherapeutisches Projekt in Palästina spendete. Seine Musik allerdings enttäuschte zu einem gewissen Grad, denn außer rasanten Tonkaskaden und voluminöser Elektronik war nicht viel zu bewundern. Die Songs hatten kaum individuelle Konturen und die Band folgte solistisch nur diesem lauten Sound, sodass bald Missfallensrufe zu hören waren. Internationale Reputation garantiert eben nicht immer Topqualität der Musik. Zur Qualität oder zum Wert des Jazz wurde auch bei der Podiumsdiskussion “Music for Zero? What is the value of Jazz?” nachgefragt. Nicht unerwartet “kennen die Leute von allem den Preis und von gar nichts den Wert”, wie Oscar Wilde einmal sarkastisch bemerkte. Und so redeten die Teilnehmer des Podiums auch mehr über ökonomische Chancen zur Vermarktung als den kulturellen oder gar künstlerischen Wert des Jazz. Einig war man sich immerhin, dass Musiker (nicht Internetanbieter oder Labels) das Recht haben, zu bestimmen, was sie veröffentlichen wollen. Respekt vor der Kreativität war denn doch wichtiger als das Interesse, mit Jazzprodukten (schnell?) Geld zu verdienen. Dem öffentlichen Diskurs über solche essenziellen Themen wie Diversität und Qualität ein Forum zu geben, ist sicher das Hauptverdienst der Jazzahead, wo Theorie und Praxis, Konzert und Diskussion, Lizenzen und Kooperation das Bewusstsein über die Aktualität des Jazz voran treiben. Hans-Dieter Grünefeld |
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