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Jazzzeitung
2010/03 ::: seite 15
rezensionen
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Gil Evans
Great Jazz Standards + New Bottle, Old Wine
Poll Winners Records
Giganten werfen große Schatten, und die-se verdecken oft die Sicht
auf jene, die darin stehen – auch wenn sie ohne den Schattenspender
Phänomenales vollbringen. Jeder Jazzfreund kennt Miles Davis’ Jahrhundertalben
mit Gil Evans, hat sie vermutlich so oft gehört, dass er sie gar
nicht aufzulegen braucht, um sie im Geist abzuspielen. Aber die Alben,
die Gil Evans ohne ihn aufgenommen hat? Ist es ein Sakrileg, sie in einem
Atemzug mit „Sketches of Spain“ zu nennen? Und die Solisten?
Ist man wunderlich, wenn man Johnny Coles attestiert, in „Great
Jazz Standards“ Davis ebenbürtig zu sein? Von ihm stammen
die ersten Töne des Albums, Beiderbeckes „Davenport Blues“ – so
innig, so wonnig, so herzerfrischend, dass die Augen feucht werden. Auch
die weiteren Solisten belegen, dass Evans mit seiner Sensibilität
für klangliche Nuancen sich nur auf seine großen Ohren, nicht
auf große Namen verließ. Steve Lacy und Elvin Jones waren
1959 noch keine Stars und Budd Johnson wohl als Saxophonist, nicht jedoch
als Klarinettist bekannt. „New Bottle, Old Wine“ von 1958,
das, wie der Titel andeutet, ebenfalls Standards in neuartigen, klangfarblich
raffinierten Gewändern von Evans vorführt, ist eigentlich ein
Concerto für Davis’ Sideman Cannonball Adderley, dessen Alt
man ohne Evans bestimmt nie in altehrwürdigen Songs von Morton oder
Armstrong jubilieren gehört hätte. Glutvoll tanzt er vor einer
in impressionistischen Pastellfarben gemalten Klanglandschaft.
George Russell
New York, N. Y.
Poll Winners Records
Poll Winners Records veröffentlicht zu einem erschwinglichen Preis
Alben, die im Down Beat mit der Höchstwertung fünf Sterne ausgezeichnet
wurden. Manchmal ist ein ganzes zweites Album mit auf der CD. Ob die
Serie wirklich „the most influential albums“ enthält,
wie die Werbung verspricht, sei dahin gestellt. Es kam schon mal vor,
dass Meilensteine, etwa Ornette Colemans „Free Jazz“, im
Down Beat verrissen wurden. Trotzdem: In vielen Fällen lagen die
Kollegen vor über 50 Jahren (neuere Alben werden aus rechtlichen
Gründen in der Serie nicht zu finden sein) goldrichtig. Das Ergebnis
ist auf jeden Fall eine Sammlung aus legendären und nicht einmal
so bekannten Alben. Bei Meisterwerken wie „New York, N.Y.“ hat
die musikalische Qualität nichts daran geändert, dass es bislang
nur einem eingeweihten Kenner- und Musiker-Zirkel vertraut war, weil
es so fern vom Mainstream ist und oft vergriffen war. Hier zeichnete
der vor einem Jahr verstorbene Individualist George Russell, dessen musiktheoretisches
Werk „Lydian Chromatic Concept of Tonal Organization“ enormen
Einfluss auf die Jazzmoderne hatte, 1959 ein Tongemälde des Big
Apple. Jon Hendricks erzählt, und neben Russells atemberaubenden
Arrangements gibt es Soli von Berühmtheiten wie Coltrane, Benny
Golson, Bill Evans, Bob Brookmeyer und Art Farmer zu bewundern. Allein
schon der Bonustrack lohnt den Kauf des Albums: das auch wegen eines
legendären Bill-Evans-Solos vielzitierte „All About Rosie“.
Warne
Marsh & Lee Konitz
Two Not One
Storyville
Konitz und Marsh – man nennt sie in einem Atemzug, wie Goethe und
Schiller. Dabei war ihre Zusammenarbeit nach den 50ern sporadisch, auch
wenn ihre Diskographie den Eindruck erweckt, sie hätten ständig
zusammen musiziert. Als sie 1975 von dänischen Jazzfans engagiert
wurden, hatten sie jahrelang nicht mehr miteinander gespielt. Verglichen
mit „Subconscious-Lee“ (1949) oder „Lee Konitz with
Warne Marsh“ (1955) waren die beiden, die sich blind verstanden,
einander unähnlicher geworden. Die Zeit bei dem beide prägenden Übervater
Lennie Tristano war lange vorbei und die Gruppen wurden ad hoc zusammengestellt.
Die Aufnahmen entstanden in variablen Besetzungen. Die erste Begleitgruppe
um Ole Kock Hansen (p), Niels-Henning Ørsted Pedersen (b) und
Alex Riel bzw. Svend Erik Nørregaard (d) ist ein reines Mainstreamtrio
und als solches famos. Peter Ind (b), Dave Cliff (g), Al Lewitt (d),
stilistisch aus der Tristano-Schule hervorgegangen, bilden mit den beiden
Bläsern eine homogenere Gruppe. Doch Homogenität ist nicht
Garant für größere Spannung, die in der Tat bei der ersten
Gruppe zu inspirierterem Spiel führt. Eine Mischung aus den beiden
Live-Gruppen begleitet schließlich die Studioaufnahmen Marshens
ohne Konitz. Während der vollen Spielzeit der 4 CDs hört man
den Zweien, die das Improvisieren ernst nehmen, gebannt zu. Die tiefe
Verbundenheit und glückliche Zusammenkunft gewährt aufgeräumte
Spontaneität und inneres Durchglühen.
Dave Brubeck Quartet: Gone With The Wind + Jazz Impressions Of Eurasia
Poll Winners Records
Dave Brubeck hat das Glück, 1959 mit „Time Out“ einen
unglaublichen Welterfolg eingespielt zu haben, und doch das Pech, dass
dieses Album so viele weitere aus dem Bewusstsein vieler Musikfreunde
verdrängt hat. „Gone with the Wind“, kurz zuvor im gleichen
Jahr, ebenfalls mit Paul Desmond (as), Gene Wright (b) und Joe Morello
(d), eingespielt und seinerzeit vom Down Beat mit den begehrten 5 Sternen
ausgezeichnet, ist ein Juwel. Es versammelt Stücke, die man mit
dem US-amerikanischen Süden assoziiert und die vom Quartett erstmals
im Studio gespielt wurden - ein unprätentiöses Programm aus
Standards und Traditionals, das sie in einer Sternstunde locker, leicht,
unbeschwert und mit viel Einfallsreichtum aus dem Ärmel schüttelten.
Desmond gelingt in „Georgia“ ein Solo von fast jenseitiger
Schönheit. Ambitionierter ist das als Bonus Album beigegebene „Jazz
Impressions Of Eurasia“. Es entstand im Jahr 1958, in dem eine
Tournee das Quartett durch 14 Länder führte. Die unterschiedliche
Atmosphäre der Tourneestationen animierte die Brubecksche Feder
zu einer abwechslungsreichen Kollektion kompositorischer Kleinodien,
die von der Verbeugung vor Bach in „Brandenburg Gate“ zum
Wüstentrip im Ohrwurm „Nomad“ reicht. Gerade das exotische
Flair mehrerer Stücke fordert die vier Herren heraus: Im meditativen „Calcutta
Blues“ wird modal improvisiert, während Paul Desmond in „The
Golden Horn“ klingt wie die Cool-Jazz-Ausgabe eines Schlangenbeschwörers.
Stuff Smith: Five Fine Violins Celebrating 100 Years
Storyville
Kaum ein Geiger verkörperte so sehr Drive und Bluesfeeling wie Hezekiah
Leroy Gordon Smith, genannt „Stuff“. Er swingte, swingte,
swingte, dieser technisch unkonventionelle Geiger, der vielleicht hotteste
seiner Zeit. Während des Spiels stellte er sich vor, Trompete oder
Saxophon zu spielen, und verglich seine heftigen Bogenstriche mit dem
Anschlagen eines Beckens. Nicht nur, dass Stuff (trotz der Tips seines
Bewunderers Fritz Kreisler) alle traditionellen Techniken völlig
ignorierte und dabei tadellos „hornmäßig“ phrasierte,
er elektrifizierte auch als erster sein Instrument. Krankheiten in den
letzten Lebensjahren hinderten ihn nicht daran, aus den Krankenhäusern
auszubüchsen, nachdem er seinen Mitpatienten fröhliche Ständchen
vorgespielt hatte. Der Tod ereilte ihn dann doch 1967 in München.
Nicht lange davor entstanden 1965 und 1966 in seiner Wahlheimat Dänemark
die vorliegenden Aufnahmen, von denen die meisten auf diesem Silberling
aus Anlass des 100. Geburtstages erstmals veröffentlicht wurden.
Das Besondere an ihnen ist nicht nur die Begleitung durch so exzellente
Begleitgruppen wie z. B. ein schlagzeugloses Duo aus Niels-Henning Ørsted
Pedersen (b) und Kenny Drew (p), mit denen er so einheizt, dass man kaum
ruhig sitzend zuhören kann. Nein, er geigt auch noch mit Ray Nance
sowie den dänischen Kollegen Poul Olsen, Søren Christiansen
und Svend Asmussen um die Wette. Ein abgesehen von aufnahmetechnischen
Schwächen ungetrübtes Vergnügen.
Marcus A. Woelfle |